Rezensionen 2024














Slata Roschal: „Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten“

Formalästhetisches Schweifen durch die Höhen und Tiefen einer sich suchenden Psyche mit Elan und Verve und Mut zum Scheitern vorgetragen.

In „Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten“ experimentiert Roschal erneut mit Erzählweisen, um das Gegenwarts-Ich in seiner vollen Komplexität sprachlich einzuholen und in seiner emotionalen Überforderung abzubilden. Thematisch arbeitet sie sich an dem Thema Mutter-Sein ab:

Und #regrettingmotherhood zum Beispiel […] Ich lese ab und zu, google, registriere mich als Gast, aber wenn der Wunsch zu groß wird, etwas zu äußern, die Gedanken vor anderen auszusprechen, auszuschreiben, nehme ich mich wieder zusammen, denke, dass ich vielleicht doch irgendwie, es vielleicht doch schaffen kann, so zu tun, als wäre ich normal. Außerdem passt es nicht, bereue ich ja nichts, es gibt keine Hashtags für das, was ich sagen will.

Die Abwesenheit der Hashtags, die ihren Zustand angemessen beschreiben würden, treiben den Text voran, in welchem die Ich-Erzählerin alles auffährt, was ihr so einfällt: Satzzeichenlose Sätze, Briefe, Übersetzungen, grammatikalische Ungereimtheiten, Brüche, unvollständige Sätze, innere Monologe, einmontierte Zeugnisse von deutschen Auswanderern aus den 1920er Jahren. All dies läuft in einen teilweise gehetzten, radebrechenden, sich überstürzenden Monolog zusammen, hin zu einem imaginierten Du, nämlich den eines Auswanderers, der Briefe vor über hundert Jahren an eine möglicherweise Geliebte schreibt:

Ich weiß Mari daß Du eine gute Seele bist, ja manchmal oft zu gut. Vater würde nicht dagegen haben, denn Du bist ja eine gute Freundin zu ihm. L.M. [Liebe Mari] den Vater ich zu gleicher Zeit geschrieben wie Dir das letzte Mal, hat er vielleicht diesen Brief nicht erhalten oder er hat nicht Zeit zum Schreiben vor lauter Arbeit. Nun l.M. So will ich mein Schreiben schließen it der Hoffnung das nächste Mal was Besseres weißt schon wie ich meine […] Ich loveju
Fahrwell und Remember mie kandl.

Roschals Text kreist um Fragen nach Privilegien, Stellen, Geld und Anerkennung. Die Ich-Erzählerin sucht Hilfe bei einer Therapeutin. Sie versucht ihre Beziehung zu ihrem Physiker-Freund Gernot zu stabilisieren, und vor allem beschäftigt sie sich mit der Reue und Nicht-Reue ein zweites Kind bekommen zu haben, mit ihrer Mutter, ihrer sterbenden Großmutter, und all den Pflichten, die das Kinderhaben und Kindsein mit sich bringen. Die Überforderung wird im Fluss des Textes so übermächtig, dass alles zusammenschießt und Flucht- und Selbstmordgedanken folgen:

Tatsächlich ist es anders, als es scheint, der Riesling Steillage Qualitätswein trocken hilft, das Ende hinauszuzögern, und es wird kein schönes Ende sein, das kann ich mit aller Bestimmtheit sagen, es wird ein ekliges Ende, gebrochene Nase, deformierter Schädel, und eine stotternde Rezeptionistin im Raucherbereich des Innenhofes.

Durch die Form, die abwechslungsreichen Perspektiven, durch das Brechen der Sprachstruktur und die mehr und mehr sich verdichtende imaginative Ebene des Briefeschreibens erhält „Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten“ einen souveränen, sich seiner selbst bewussten Ton, der kein Selbstmitleid erlaubt. Die Ich-Erzählerin wirkt stark, erscheint sich aber als schwach. Die Stärke liegt im formalen Mut, den Ordnungsgedanken selbst Einhalt zu gebieten. Hier besitzt Roschals Text beinahe ein Alleinstellungsmerkmal in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (ein anderes Beispiel wäre noch Dinçer Güçyeter „Unser Deutschlandmärchen“), die schnell zwischen Wut und Jammern ausschlägt oder didaktisch wird, aber literarisch oft kein Gleichgewicht zu finden vermag (bspw. Anne Rabe „Die Möglichkeit von Glück“, Barbi Marković „Minihorror“, Necati Öziri „Vatermal“ Teresa Präauer „Kochen im falschen Jahrhundert“, Deniz Ohde „Ich stelle mich schlafend“).

Kritikpunkt wäre das fehlende narrative Gleichgewicht, das den Text vorantreiben würde. Wie üblich in avantgardistischen Schreibweisen muss die Ich-Erzählerin deshalb hier und da auf Obszönitäten zurückgreifen, meist erotischer Natur, die etwas Gewolltes besitzen. Hier befindet sie sich aber in allerbester Gesellschaft mit dem Surrealismus bspw. André Breton‘scher Provenienz.

Inhalt: 2/5 Sterne (kleinfamiliäre Schwierigkeiten)
Form: 5/5 Sterne (gebrochen-flüssig überzeugende Sprachgestalt)
Komposition: 3/5 Sterne (lose verknüpft, mit Briefmontagen)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (Mut spendende Verbalexplosionen)


Sylvia Plath: „Die Glasglocke“

Die Glasglocke by Sylvia Plath

Eine lyrisch-narrativ komplexe Fahrt durchs innere Inferno, um lebensträge Altlasten abzuschütteln.

Plaths „Die Glasglocke“ bietet eine unüberschaubare Mehrzahl an Lektüreweisen an, bspw.: autobiographisch durch den Schlüsselroman-Charakter und den kurz nach der Publikation erfolgten Selbstmord der Autorin; politisch-feministisch durch die explizit benannten Problematiken der jungen Ich-Erzählerin, einen Platz in der Welt zu finden, der nicht bereits eine Unterwerfung erfordert und impliziert; pathologisch-medizinisch durch die spezifischen und distinkt beschriebenen Techniken, wie zur Plaths Zeit und noch länger mit psychisch, in Bezug zur Alltagstauglichkeit, anomalen Zuständen umgegangen wurde. All diese Lektüreweisen erschließen aber noch nicht den literarischen Reichtum dieses, leider, einzigen Romans von Sylvia Plath:

Einen Moment lang war ich versucht, mitzukommen. Die Pelzschau war bestimmt albern. Ich habe mir nie etwas aus Pelzen gemacht. Aber zuletzt beschloß ich, solange es mir gefiel, liegen zu bleiben und nachher in den [New Yorker] Central Park zu gehen und mich dort den Tag über ins Gras zu legen, in das höchste Gras, das ich in dieser kahlen Ententeichwildnis finden konnte.

Die Ich-Erzählerin, die 19jährige Esther Greenwood, erlebt den Traum, erhält einen Preis und eine Einladung nach New York, und ein Stipendium mit besten Aussichten, sich einen Namen in der akademischen Welt oder im Journalismus zu machen, aber gleitet langsam in eine melancholisch, träge, passivierte Stimmung ab. Der Luxus, der Reichtum und Ruhm um sie herum erreichen sie nicht mehr, noch wird sie länger oder überhaupt durch sie inspiriert. Sie fühlt sich leer und stumpf:

Die Stille bedrückte mich. Nicht die Stille der Stille. Meine eigene Stille. Ich wußte genau, daß die Autos Geräusche machten, auch die Menschen in ihnen und hinter den erleuchteten Fenstern in den Häusern machten Geräusche, und der Fluß machte Geräusche, aber ich konnte nichts hören. Flach wie ein Plakat hing die Stadt in meinem Fenster, glitzernd und funkelnd, aber was ihren Nutzen für mich anging, so hätte sie nicht da zu sein brauchen.

In verdichteter Sprache, voller miniaturistischer Schnörkel und Ornamente, die beim Lesen kaum auffallen, aber eine Atmosphäre der Enge und Geschlossenheit kreieren, nimmt die Erzählstimme einen mit auf die Reise in ein Ich, das nach Freiheit sucht. Dieses Ich bewegt sich auf mehreren Ebenen. Es befindet zum Zeitpunkt der Erzählung bereits in der Rekonvaleszenz, springt aber narratologisch nach New York, um Schritt für Schritt mit weiteren Rückblenden und auch Vorwegnahmen, den Zusammenbruch nachvollziehbar werden zu lassen, nämlich die sozial empfundene Perspektivlosigkeit, die in der Vielzahl der zeitlichen und räumlichen Ebenen erzählerisch kontrapunktiert wird:

Vor mir sah ich die Tage des Jahres wie eine lange Reihe strahlendweißer Schachteln, und der Schlaf trennte jede Schachtel von der nächsten wie ein schwarzer Schatten. Für mich jedoch war die lange Reihe der Schatten zwischen den Schachteln plötzlich zusammengeschnurrt, und nun lagen grell leuchtend nur noch Tage vor mir, eine breite, weiße, unendlich trostlose Straße.

Die Erzählstimme ringt mit sich und ihrer Möglichkeit, und diese blitzt funkelnd in mannigfaltiger Weise dort auf, wo sie anfängt, wieder das Leuchten der Welt zu sehen und zu beschreiben. So wird es in „Die Glasglocke“ zuerst immer dunkler (bis hin zum Versteck im Loch), um dann wieder heller und weiter zu werden. Das Spiel mit Licht, mit Metaphern rund ums Licht, die verschränkten Reflexionsbedingungen, das poetische kraftvolle Spiel mit der eigenen Erlebniswirklichkeit als gestaltetes Universum und nicht nur als hingenommener Fakt äußerer und fremder Kräfte lässt Sylvia Plaths „Die Glasglocke“ zu einer Art nach innen gekehrten Bildungsroman werden: ein Ich, das sich seiner Fesseln entledigt, weil es am Ende weiß, dass es von keiner Seite mehr Hilfe zu erwarten hat.

An Intensität zu vergleichen mit Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ und Ingeborg Bachmanns „Malina“, die ebenfalls poetisch-literarisch weibliche Selbstbestimmungsversuche untersuchen. An Sprachfreude verwandt mit der Lyrik von Emily Dickinson und in der Dunkelheit, aber auch Stärke und Definitheit an eine der Wogen in Virginia Woolfs „Die Wellen“ gemahnend, öffnet Sylvia Plaths „Die Glasglocke“ Tür und Tor zu einer Sprache und Literatur, die mehr ist und bleibt als „Ein Haufen Staub“.

Inhalt: 5/5 Sterne (empathischer Freiheitsdrang)
Form: 5/5 Sterne (vernetzend-lyrisch komplex)
Komposition: 5/5 Sterne (narrativ der Zeit widerstehend)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (authentisch-literarische Rosskur)


Marlen Haushofer: „Die Wand“

Die Wand by Marlen Haushofer

Bedrückend post-apokalyptische Dystopie, die restriktiv in die eigene Falle tappt.

Die namenlose Ich-Erzählerin findet sich nach wenigen Seiten in Marlen Haushofers „Die Wand“ abgeschlossen vom Rest der Welt in einem abgelegenen Tal eingesperrt zurückgelassen. Eine unsichtbare, unzerstörbare Wand entstand über Nacht aus dem Nichts, hinter der alles und jeder sich in Stein verwandelt hat:

Drüben zog sich die Wand am Fuß der Bergwiese dahin. Endlich konnte ich die Keusche sehen. Sie lag sehr still im Sonnenlicht; ein friedliches, vertrautes Bild. Ein Mann stand am Brunnen und hielt die rechte Hand gewölbt auf halbem Weg vom Wasserstrahl zum Gesicht. Ein reinlicher alter Mann. Seine Hosenträger baumelten wie Schlangen an ihm nieder, und die Ärmel des Hemdes hatte er aufgerollt. Aber er erreichte sein Gesicht nicht mit der Hand. Er bewegte sich überhaupt nicht.

Das Figurenensemble zeigt sich äußerst minimiert: Luchs, ihr Hund, Bella, die Kuh, Stier, Bellas Nachwuchs, die Katze, die mehrere Kinder bekommt: Perle, Tiger, Panther. So restriktiv wie die Figuren bleibt auch die Tätigkeit. Jeden Tag kümmert sie sich um ihre Tiere, um Heu, um Holz, um Kartoffeln, um Bohnen. Jeden Tag melkt sie Bella, mistet aus, und geht, dann und wann, mit Luchs auf die Pirsch, um Wild zu jagen. Höhepunkt des Romans, der fast nur kursorische Tageszusammenfassungen bietet, stellt die Gewitterszene dar:

Durch die Spalten der Fensterläden sah ich es gleißendgelb niederzucken. Aus der Dunkelheit tauchte die alte Katze auf, blieb mit gesträubtem Fell mitten im Zimmer stehen […] Dann war es plötzlich eine Minute lang ganz still, und diese Stille war beklemmender als der Lärm. Es war, als stünde über uns mit gespreizten Beinen ein Riese und schwänge seinen feurigen Hammer, um ihn auf unser Spielzeughaus niedersausen zu lassen. Luchs winselte und drängte sich an mich. Es war fast eine Erlösung, als der nächste Blitz gelb niederfuhr und der Donner das Haus erzittern ließ.

Bedrohung, Gewalt werden mit dem Menschen und meist sogar enger, mit dem Mann identifiziert, wie hier auch das Gewitter mit einem Riesen. Männliche Figuren erhalten nur Gattungsnamen (Luchs, Stier, Tiger, Panther), indes weibliche Figuren gar keinen Namen oder Bella oder Perle heißen, und konsequent reflektiert die Ich-Erzählerin auch, wie sie in der nun zerstörten Welt der Männer kaum Luft zum Atmen bekam. So richtig zum Atmen kommt sie aber auch in ihrem idyllischen Tal nicht. Es gilt, sich um die Wesen zu sorgen, die sich um sie geschart haben. Fürs Abstrakte, die Sprache, besitzt sie weder Zeit noch Kraft:

Ich merkte selbst, daß ich mich benahm wie die Katze, die durch ihre Krankheit in eine kindliche Lebensform zurückgeglitten war. Vor dem Einschlafen war es mir oft, als läge ich in meinem Nußholzbett neben dem elterlichen Schlafzimmer und lauschte dem eintönigen Gemurmel, das durch die Wand zu mir drang und mich einschläferte. Immer wieder sagte ich mir, daß ich endlich wieder stark und erwachsen werden müßte, aber in Wahrheit wollte ich zurück in die Wärme und Stille des Kinderzimmers, oder noch weiter zurück in die Wärme und Stille, aus der man mich ans Licht gerissen hatte.

Das Hauptproblem von „Die Wand“ stellt sich lektüretechnisch schnell ein. Die Erzählstimme arbeitet mit scharf kontrastierten Dichotomien: Frieden hier, Gewalt da; hinter der Wand, vor der Wand; passiv/aktiv; Tag/Nacht; Sommer/Winter; zahm/wild; Almhütte/Jagdhaus. In dieser hart gegeneinander gestellten Weise durchdringen sich die Bedeutungsebenen nicht, auch die Wörter, die Sätze, erhalten kaum Luft zum Atmen, geraten nicht in Schwung, beginnen nicht zu flirren. Sie bleiben deskriptiv zu nahe am Tagebucheintrag, an der Repetition, an der poetisch undurchschrittenen Alltagsprache und Lebenswelt, die in vielen Facetten und Details deshalb lose auseinanderfliegt.

Tatsächlich nähert sich der Roman einem nihilistischen Höhepunkt, der dann auch eintritt – der zwar als Emanzipation symbolisch begriffen werden kann, allegorisch sein Versprechen aber durch die Passivität der Ich-Erzählerin bricht und in sprachlichen Mitteln überhaupt nicht erscheint, d.h. das Symbol bleibt illustrativ, gesetzt, auf eine Behauptung beschränkt. „Dissipatio humani generis“ von Guido Morselli und Dino Buzzatis „Die Tatarenwüste“ leiden an ähnlichen Problemen, die Max Frisch in „Der Mensch erscheint im Holozän“ durch die Kürze des Textes zu entgehen sucht und deshalb auch nicht überwindet. Marlen Haushofer scheitert in „Die Wand“ an selbiger innerlich wie äußerlich, inhaltlich wie sprachlich sich auferlegter Restriktion.

Inhalt: 2/5 Sterne (Gefangensein, Überleben, Natur)
Form: 2/5 Sterne (kurz gehalten, gewollt prägnant)
Komposition: 5/5 Sterne (allegorisch-überzeugende Streckung und Raffung)
Leseerlebnis: 3/5 Sterne (sprachlich/inhaltlich zu eng)


Gérard Genette: „Die Erzählung“

Die Erzählung by Gérard Genette

Hin zu neuen literarischen Experimenten und einer sich selbst überraschenden Literatur über das Alte und Gewohnte hinaus.

Genette beschäftigt sich in seiner Untersuchung nicht mit dem Stoff, der Geschichte (dem Plot) und deren thematischen Universum. Er beschäftigt sich mit dem Akt des Erzählens und dem, was aus diesem, mündlich oder schriftlich, entsteht, nämlich die Erzählung als Text, als angebbares Erlebnis, als sichtbares Resultat. Er fragt, wie der Akt des Erzählens in Beziehung zur Erzählung steht und unterscheidet in zwei wesentliche Modi: homodiegetisch (der Erzähler taucht im Text auf), heterodiegetisch (der Erzähler taucht nicht im Text auf). Diesen beiden Kriterien fügt er noch die Fokalisierung zu, so dass er Erzählungen darin unterscheidet, dass sie bspw.:

• nichtfokalisiert-heterodiegetisch (auktorial) oder
• fokalisiert-heterodiegetisch (personal) oder
• homodiegetisch (Ich-Erzählung)

vorgeht und eine Geschichte präsentiert. Er dynamisiert also das Triptychon von Franz Stanzel (jeweils in Klammern), indem er in Fokalisierung und Relation unterscheidet und bspw. externe und interne Fokalisierungen erlaubt, um Texte zu beschreiben, die sich bspw. als Versuchsanordnung einer Kamera eines Geschehens annähern. All dies wendet er auf Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit an und demonstriert mit ihr:

dass es meinerseits nur ein Zugeständnis an den allgemeinen Sprachgebrauch ist, wenn ich hier noch am Terminus »Person« festhalte, denn für mich steht jede Erzählung, ob explizit oder nicht, »in der ersten Person«, da ihr Erzähler sich selbst jederzeit, so es ihn danach gelüstet, mit diesem bezeichnen kann.

Das, was Genettes Analysewerkzeuge auszeichnet, besteht darin, keine Letztantworten anzustreben, sondern Erzählungen als Akte der Kommunikation zu betrachten, als eine in sich komplexe Form des Berichtens, die sich um eine Geschichte herum mit Lücken ergibt. Er lehnt Mimesis (Nachahmung) als Kategorie ab, da Sprache nur Sprache abzubilden vermag – und befasst sich, einmal den Begriffsrealismus überwunden, mit der Dynamik des sich symbolisch-erschließenden narrativen Raumes innerhalb eines mannigfaltigen Sprach- und Wortuniversums einer besonderen, durch den Text erscheinenden Erzählstimme:

Die Stimme des Erzählers ist immer als die einer Person gegeben, mag sie auch anonym sein, aber die fokale Position, wenn es eine gibt, ist nicht immer an einer Person festzumachen: so etwa, wie mir scheint, in der externen Fokalisierung. Vielleicht wäre es daher besser, sich auf neutralere Weise zu fragen, wo liegt das Zentrum, der Fokus der Wahrnehmung? – wobei (ich komme darauf zurück) dieser Fokus in einer Person verkörpert sein kann oder auch nicht.

Genette legt sein Augenmerk auf die Art und Weise des Erzählens, die oft gegenüber dem Inhalt ins Hintertreffen zu geraten droht – aber, mglw. Freudianisch, auf unheimliche Weise das Leseerlebnis stark prägt und lenkt. Indem er Dauer, Geschwindigkeit des Erzählens, Modus, Frequenz, Iteration und Anachronien berücksichtigt, wird mehr und mehr bewusst, wieso es manchen Erzählstimmen leichter gelingt, glaubwürdig zu erscheinen als anderen.

Vielleicht zeigt sich auch, dass das so häufig inspiriert getroffene Geschmacksurteil interessante formal-ästhetische Symmetrien und Gemeinsamkeiten besitzt (bspw. eine Vorliebe für heterodiegetische Erzähler mit strikter interner Fokalisierung), die die Geschichte dann in Bezug auf das Geschmacksurteil in den Hintergrund treten lässt. Gérard Genette jedenfalls zerpflückt das Feld der Narration und hinterlässt mehr klaffende Lücken als beantwortete Fragen, was wohl genau seiner Intention zu entsprechen scheint:

Das »Schreibbare« ist also nicht bloß das bereits Geschriebene, an dessen recriture die Lektüre beteiligt ist und zu der sie durch ihre Lektüre beiträgt. Es ist ebenso sehr das Neue, das Ungeschriebene, dessen Virtualität die Poetik durch die Allgemeinheit ihres Vorgehens entdeckt und näher kennzeichnet, und das zu realisieren sie uns ermuntert.

Ein Plädoyer für formal überzeugende, sich verschließend und zugleich öffnende, sich beschränkende und dadurch überschreitende Literatur über all ihre Momente und Gewohnheiten hinaus.


Roland Barthes: „Tagebuch der Trauer“

Tagebuch der Trauer by Roland Barthes

Ein Subjekt in Brüchen – von Leerstellen und anderen poetischen Erinnerungsformen.

Barthes hat nie den Roman geschrieben, den er zu schreiben vorgehabt hat. Eine Art stiller Zweifel begleitet all seine Schriften, seine Versuche, sich einer Sprache zu nähern, die das, was sie ausdrücken möchte, sanft und nicht gewaltsam zum Ausdruck verhilft:

Ich will nicht darüber sprechen, weil ich fürchte, es wird Literatur daraus – oder weil ich nicht sicher bin, dass es keine wird -, auch wenn in der Tat Literatur in solchen Wahrheiten gründet.

Barthes‘ Literaturbegriff arbeitet sich komplex durch sein Schriftwerk. Ihn ängstigt wie Rainer Maria Rilke das zu harsche Wort, die Kluft zwischen Namen und Ding, die Rohheit, die darin besteht, zu verkürzen, einzuengen, zu beschränken, das Erleben in ein semantisches Prokrustesbett einzusperren. Ihm steht ein fließender Text vor Augen, der seine Trauer, die er nach dem Verlust seiner Mutter, nach ihrem Tod, verspürt, unverletzt lässt und doch ungemildert und ungemindert zum Ausdruck bringt:

Literatur, das ist: dass ich nicht ohne Schmerzen, ohne an der Wahrheit zu ersticken all das lesen kann, was Proust in seinen Briefen über die Krankheit, den Mut, den Tod seiner Mutter, seinen Kummer etc. schreibt.

Dem Wort geht eine Wahl voraus. Es trennt, unterscheidet und scheidet deshalb das eine vom anderen. Dort aber, wo es eben um die Harmonie, die Einheit geht, scheut die Sprache das Urteil, das Teilen, und Barthes sucht Mittel und Wege, bspw. im japanischen Haiku, durch die Lücken, das Nichtsagen das zu sagen, was anders nicht gesagt werden kann:

Wieso Mam. in allem, was ich geschrieben habe, gegenwärtig ist: weil überall die Idee eines Höchsten Gutes darin enthalten ist.

Das Sprachmisstrauen und die Utopie der Sprache schlechthin bezieht sich auf die Unvereinbarkeit und Aufeinander-Bezogenheit dessen, was einzigartig und nicht strukturell-abstrakt mitgeteilt werden möchte. Barthes‘ Mutter war einzigartig, und er fühlte für den Rest seines Lebens diesen Verlust, den Kummer, dass dieser Menschen, seine Mutter, nicht mehr in der Welt ist.

An dem Ort des Zimmers, wo sie krank lag, wo sie gestorben ist und wo ich jetzt wohne, an die Wand, an der das Kopfende ihres Bettes stand, habe ich eine Ikone gehängt – nicht aus Frömmigkeit –, und dort stelle ich immer Blumen auf einen Tisch. Ich will jetzt nicht mehr reisen, damit ich immer dasein kann, damit die Blumen dort niemals welken.

In „Tagebuch der Trauer“ verarbeitet Roland Barthes in Prosaminiaturen, in Haikus, in kurzen Aphorismen und Aperçus den Tod seiner Mutter. In winzigen Details schimmert die Liebe des Sohnes durch, wenn er sich an das Grau ihres Mantels, an die Rauigkeit ihrer Stimme, an ihre Worte und Fröhlichkeit in leicht verwilderten Gärten erinnert. Sie verwirklichte für ihn die Utopie einer möglichen Gewaltlosigkeit, eines Guten, dem er sich nur vorsichtig durch Sprache und Phrasen nähern konnte und wollte:

Seit Mam. Tod keine Lust, irgend etwas »aufzubauen«, außer im Schreiben. Warum? Literatur = der einzige Bereich der Vornehmheit (wie Mam. es war).

Ein Buch fast wie ein Gedicht, eine Meditation, ein Akt der Sanftheit – und im Verstummen und Auslassen beredt und sanft Trauer zu Literatur werden lässt.

Inhalt: 3/5 Sterne (Tagebucheinträge)
Form: 5/5 Sterne (geheimnisvolle Haiku-Prosastücke)
Komposition: 4/5 Sterne (seriell, mit Stille zwischen den Zeilen)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (empathische Teilnahme)


Didier Eribon: „Eine Arbeiterin“

Eine Arbeiterin by Didier Eribon

Ein Buch voller Fragezeichen, zwischen Theorie und Beichte schwebend, unentschlossen.

Bei Didier Eribons Buch, um es gleich vorabzusagen, handelt es sich um eine lose, undurchkomponierte Form eines politischen Essays, der sich darum bemüht, das Problem des Alterns ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen: Die Isolation und Ignorierung der Pflegebedürftigen, Schwachen und vom Leben Gezeichneten in Pflege- und Altersheimen wirft ein schlechtes Licht auf eine Gesellschaft, die von sich selbst behauptet, Gerechtigkeit zu verwirklichen und die Würde eines jeden einzelnen zu verteidigen. Eribon legt einen Finger in diese tatsächlich vorhandene Wunde:

Während sie allein in ihrem Bett im Pflegeheim lag, protestierte meine Mutter, brachte sie ihre Empörung zum Ausdruck. Doch ihr Schrei war nur an einen einzigen Menschen gerichtet: an mich (oder an vier Menschen, wenn ich meine Brüder mitzähle, die sie vermutlich ebenfalls regelmäßig anrief). Es geschah meist am frühen oder späten Abend, und ihre Wut hatte als Zielscheibe nur den Anrufbeantworter meines Telefons, den ich erst Stunden später abhörte.

Allein der Titel von Eribons Buch „eine Arbeiterin“ zeigt auf, mit welcher Distanz sich der Autor auf die Suche nach Spuren von seiner Mutter macht, die diese wohlmöglich in seinem Leben hinterlassen hat. Nicht viele, wie der unbestimmte Artikel „eine“ zeigt. Er hat sich zeitlebens nicht mit ihr, seiner Herkunft, dem sozialen Milieu befassen wollen, aus dem er stammt, in welchem es vor Rassismus und Diskriminierung nur so strotze und im Grunde also eine Arbeitermutter der anderen gleiche. Mit einer Wegwischbewegung werden ganze Bezirke aus seinem Leben gestrichen, und was bleibt, sind lose Assoziationen über eine Mutter, der gegenüber er ein schlechtes Gewissen zurückbehält:

Mittlerweile ist mir bewusst, dass ich zugleich dank meiner Mutter und in Abgrenzung zu ihr der Mensch geworden bin, der ich bin. In meinen Gedanken war das In-Abgrenzung-zu-ihr lange Zeit stärker als das Dank-ihr. Natürlich schäme ich mich seit Langem für all die Beispiele meines Egoismus und meiner Undankbarkeit. Mich schmerzt, wie viel Schmerz ihr mein Egoismus und meine Undankbarkeit zugefügt haben. Doch wie Albert Cohen in Das Buch meiner Mutter schreibt: »Etwas spät«, das schlechte Gewissen.

Eine Arbeiterin“ nicht als Psychogramm zu lesen, vergeht sich fast gegen den Text. Er ist eine Beichte und ein Versuch, etwas wiedergutzumachen, was sich, wie der Autor weiß, nicht wiedergutmachen lässt. Er ist keine Literatur. Er ist keine Theorie. Er ist nicht einmal ein Essay, sondern eine Reihe von berechtigten, sich aneinanderreihenden Fragmenten voller Fragezeichen sich selbst und seiner Beziehung der eigenen Vergangenheit gegenüber, die ihn scheinbar noch fest in ihren Klauen hält. Kaum Details über seine Mutter werden erwähnt. Die Abwehrbewegung manifestiert sich in ständigen Anrufungen von anderen Texten, als Ablenkungsmanöver, dass er einfach nicht viel über seine Mutter zu berichten weiß (außer dass sie bspw. gerne fernsieht und Liebesromane liest).

Die Mangelhaftigkeit des Textes, weder sachliche Kühle noch emotionale Intensität zu besitzen, also weder über begriffliche Schärfe noch poetischen Schwung zu verfügen noch über intellektuelle Innovation, die sprachliche Exploration seines Themas zu vertiefen, manifestiert sich bspw. an seiner völlig unzureichenden und tatsächlichen definitorisch falschen Auslegung von Jean-Paul Sartres Freiheitsbegriff, der unter anderem auf dem präreflexiven Cogito beruht, das unabhängig vom Alter einen Riss in die Vorstellung bringt (das Sein nichtet) und eine unbekannte Zukunft entwirft (als Nichts nichtend), ganz unabhängig davon, wie viel Zeit einem Menschen noch zum Verwirklichen dieser Zukunft bleibt (da sie mit jedem Moment neu genichtet wird). Hiermit, erstaunlicherweise, fällt das letzte Viertel von „Eine Arbeiterin“ einfach und auch völlig in sich zusammen.

Die unzureichende Darlegung von Sartres Freiheitsbegriff illustriert das Manko eines Denkens, das sich um sich selbst dreht, aber den Tod der Mutter vorschiebt, zum Anlass nimmt, einfach über sich und sein schlechtes Gewissen zu sprechen, aber ohne in die Tiefendimension der eigenen Emotionalität ein Feuer zu entfachen, das überzeugen hätte können. Roland Barthes in seinem „Tagebuch der Trauer“ zeigt, wie aus gleicher Denktradition ein unverhältnismäßig anderes, intensives, mitreißendes Buch über den Verlust der Mutter möglich ist.

Inhalt: 2/5 Sterne (selbstbezogene Assoziation übers Altern)
Form: 2/5 Sterne (journalistisches Plaudern)
Komposition: 1/5 Sterne (keine Argumentation)
Leseerlebnis: 1/5 Sterne (aufploppende Irritationen)


George Eliot: „Middlemarch“

Middlemarch by George Eliot

Helden und Heldinnen im mondänen, profanen Zeitalter. Die britische Antigone.

Romane wie „Middlemarch“ reichen schon alleine kraft ihrer Form über die Masse anderer Bücher hinaus. Die Länge alleine, über Tausend Seiten, über achtzig Kapitel, langt nicht. Es ist die unfassbare Konsequenz, mit der im langen Atem Eliot über das Leben und Empfinden ihrer Figuren schreibt, die den Eindruck von Monumentalität erzeugen. Selbst das aufmerksamste Leben findet keinen Bruch. Die auktoriale Erzählerin hat ihren Blick auf die Welt gefunden und sie teilt diesen mit, indem sie durch diesen hindurch erzählt:

Die Sprache vermag ein volleres Bild zu geben, das nur um so tiefer wirkt, je weniger feste Formen es hat. Das wahre Sehen geschieht doch schließlich mit dem geistigen Auge, und Gemälde starren uns mit beharrlicher Unvollkommenheit an.

Protagonistin dieses Romanes bleibt die im Hintergrund stehende und bleibende Erzählstimme selbst. Sie betrachtet das Leben und Wirken ihrer Figuren in Middlemarch. Es spielt keine Rolle, was erfunden, was wahr, was an den Haaren herbeigezogen, konstruiert oder karikiert wurde, denn das sanfte Erzählen selbst, das empathische Eintauchen in jeden, noch den bösartigsten, scheinbar flachsten, oberflächlichsten Charakter erweist: Nur der Blick erzeugt Flachheit. Nur der Unwille hinzusehen, ermöglicht abschließende Urteile. Nur die Abwesenheit eben dessen, was „Middlemarch“ auszeichnet, trennt die Menschen: die kommunikative, auf sich und andere bezogene Kommunikabilität des Empfindens:

Lydgate erinnerte sich, wo er war, sah sich um und sah, wie Dorothea mit dem Ausdruck milden, vertrauensvollen Ernstes zu ihm aufschaute. Die Gegenwart einer edlen, von großmütigen Regungen und feuriger Menschenliebe erfüllten Natur läßt uns die Dinge in einem anderen Licht, läßt sie uns wieder in ihrem größeren, ruhigeren Zusammenhang erblicken, und wir fangen an zu glauben, daß es möglich sei, auch uns in der Ganzheit unseres Charakters zu sehen und zu beurteilen.

Vom Plot hier zu sprechen, erscheint müßig. Er besteht im Widerstehen, nicht im Scheitern:
● Fred widersteht der Versuchung, ein Leben als müßiggängerischer, heuchlerischer Geistlicher zu führen;
● Will lehnt die lebenslang garantierte Rente eines Fieslings und Widerlings, nicht aus Stolz, sondern aus Unabhängigkeitsbestreben ab;
● Dorothea verzichtet auf Reichtum zugunsten Rechtschaffenheit und Treue;
● und Mary will sich nicht mit dem Verbrennen eines falschen Testaments beschmutzen.

Es sind auch dies auch die vier Charaktere, die Glück finden, da sie den Faustdialog in jeweils unheimlicher Szenerie zu bestehen wussten. George Eliot feiert in „Middlemarch“ den Widerstand, sich das Leben auf Kosten anderer, einfach zu gestalten. Sie feiert das harte, aber ehrliche Leben, und sie zeigt, dass alles andere ins Verderben führt:

Wenn das Gedächtnis gewaltsam in einen schmerzhaften Zustand versetzt wird wie durch eine wieder geöffnete Wunde, dann ist die Vergangenheit eines Menschen nicht nur eine tote Geschichte, eine verbrauchte Vorbereitung der Gegenwart, nicht ein bereuter und abgeschüttelter Irrtum, dann ist sie ein noch leise zuckender Teil unserer selbst, der uns Fieberschauer, bittere Empfindungen und das stechende Gefühl einer verdienten Scham bereitet.

Diesem Fieberschauer und dieser perennierenden Scham nicht zu erliegen, dem Gedächtnis die Stirn bieten zu können, dem Gedächtnis, in dem Dichtung, das Dichten steckt, ein Denkmal zu schaffen und das Wort zu reden, liegt das Verdienst von George Eliots „Middlemarch“. Nur wo keine Brüche, Verdrängungen, kein schlechtes Gewissen vorliegen, vermag eine solche flüssige, alles verbindende Erzählstimme und Stil zu emergieren, eine für sich genommene, ruhende, souveräne Manifestation des Hegelschen absoluten Wissens.

Inhalt: 5/5 Sterne (Faustische Versuchungen im Idyll)
Form: 5/5 Sterne (lange, fließende, umfassende Sätze)
Komposition: 5/5 Sterne (sittlich-substantielles Verflochtensein)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (staunendes Abtauchen)


Michaela Maria Müller: „Zonen der Zeit“

Zonen der Zeit by Michaela Maria Müller

Aufhebung der Kampfzonen. Ein leiser Berlin-Roman voller friedlicher Lebenswegumwälzungen.

Großstadtromane beschreiben Sonderlinge, die sich ihre Nische suchen und finden. In „Zonen der Zeit“ von Michaela Maria Müller suchen Enni van der Bilt und Jan Schneider ein neues Leben, ziehen aus dem Münchener Umland nach Berlin und starten mitten im Leben nochmal von vorn. Er als U-Bahnhof-Zeitungskiosk-Betreiber, sie als Calltakerin bei der Berliner Feuerwehr, derweil zerbricht Jans Ehe mit Katja:

»Auf der Straße«, sagte ich [zu ihr auf die Frage wo ich war], und dass Enni heute Nacht bei mir blieb. Daraufhin legte Katja auf. Eine halbe Stunde später rief sie mich jedoch an, dann wieder und wieder in immer kürzeren Abständen, die ganze Nacht lang. Wenn ich ihren Anruf annahm, horchten wir in den Hörer und schwiegen, bis einer von uns wieder auflegte. Wir waren verbunden, aber wir hatten uns nichts mehr zu sagen.

„Zonen der Zeit“ betreibt keinen spannungsgeladenen Voyeurismus. Die Figuren verhalten sich ehrlich zueinander, zeigen sich verletzlich, gehen ruhig im Leben aufeinander zu und wieder aneinander vorbei. Müllers Figuren wollen nichts erzwingen, nichts vorheucheln. Sie wollen aber auch nicht kämpfen, denn das, wofür es sich zu kämpfen lohnte, dafür lässt sich eben nicht kämpfen: Aufmerksamkeit, Wohlwollen, Verständnis und Zärtlichkeit.

»Flüsse wissen nichts voneinander, bis sie sich begegnen. Und dann gehören sie zusammen,« sagte [Jan].

Aus jeweils der Ich-Perspektive von Enni und Jan erzählt, werden Zeiten des Umbruches beschrieben. Hierbei überlagen sich interessanterweise die Sicht- und Erzählweisen der Figuren. Sie erzählen dem Publikum oft ein und dieselbe Szene, nur aus ihrer jeweiligen Sicht. Die Wiederholungen und Wiederaufnahmen bestätigen und erweitern sich gegenseitig, wie zwei Flüsse, die sich verbinden und zu einem größeren werden. Hier ereignet sich stilistisch ein interessanter Effekt, nämlich der der Authentizitätssteigerung. Je länger das Buch andauert, desto mehr wächst das Vertrauen in die Figuren und in die Betrachtungsweise, mit der diese in die Welt schauen, denn es wird bald klar, diese Figuren lügen nicht. Sie geben sich ihrer Gegenwart hin, mit Herz und Seele. Die sehr einfache Sprache stört dann nicht. Sie trägt zum Authentizitätsgrad bei.

„Zonen der Zeit“ wartet mit Freundlichkeit, Bescheidenheit auf. Es liest sich sehr unaufgeregt, sehr nahe am Alltag und erhält, je länger es andauert, eine hohe, literarische Plausibilität. Die Dialogizität, die Michaela Maria Müller in ihrem Roman verwendet, grenzt sich gegen Sensationalismus und Konfrontation ab, wie ihn andere, Briefroman ähnliche Texte, in der Gegenwart betreiben, bspw. Juli Zeh und Simon Urban in „Zwischen Welten“ oder Virginie Despentes in „Liebes Arschloch“.

„Zonen der Zeit“ ist ein leises Buch, das seinen Schmerz versteckt, seine Harmlosigkeit aber auf der Stirn trägt und zwar nicht formal, aber inhaltlich wegen der Walter Benjamin- und Mauerfall-Bezüge an Cees Nootebooms „Allerseelen“ erinnert. Zwei Menschen auf den Weg zueinander, ohne die Garantie, dass sie sich finden werden. Vielleicht aber ein wenig zu kurz und sprachlich allzu einfach gefasst.

Inhalt: 3/5 Sterne (freies Großstadtleben)
Form: 1/5 Sterne (Alltagssprache)
Komposition: 4/5 Sterne (konvergierende Authentizitätssteigerung)
Leseerlebnis: 3/5 Sterne (ruhiges Treibenlassen)


Cees Nooteboom: „Allerseelen“

Allerseelen - Nooteboom, Cees

Schwebend aus eigener Schwere heraus.

Allgemein gilt eher „Rituale“ als Cees Nootebooms Hauptwerk. „Allerseelen“ wird häufig als etwas geschwätzig, zu schwadronierend und in die Länge gezogen beschrieben, auch gefällt der episodenhafte Erzählstil nicht vielen, von der, vermeintlich, eher dünnen Story abgesehen. Mann liebt nämlich Frau, die sich nicht lieben lassen will:

Die Bäume, zwischen denen sie geht, sind verwaist, der Abstand zwischen ihnen und ihre spezifische Ungleichheit spiegeln das Fiasko dieses so hoffnungsvollen Tages wider, und weil er jetzt nicht da ist, um es ihr zu erläutern, zu erzählen, gehört folglich auch dieser Tag zu der formlosen, unsichtbaren Geschichte, zu dem, was wir immer sehen, weil wir nie etwas vergessen können. Absolute Summe, vollkommene Objektivität, das, was ihr nie erreichen könnt, Gott sei Dank. Wir aber müssen es, wir beobachten das Labyrinth aus Egos, Schicksal, Absicht, Zufall, Gesetzmäßigkeit, Naturerscheinungen und Todestrieb, das ihr Geschichte nennt.

Intellektuell verbrämt, kulturbeflissen-bemüht lässt Nooteboom seine Hauptfiguren durch das verschneite Berlin geistern? Vielleicht. Aber hinter all dem stecken die Lücken, die Andeutungen, das Dunkle des Schmerzes eines individuellen Problemkreises, auf den sich nicht leicht die Finger legen lassen. Arthur, der Mann, hat seine Familie bei einem Flugzeugunglück verloren; Elik, die Frau, verstoßen von ihrem Vater und ihrer alkoholsüchtigen Mutter, wächst einsam bei ihrer Großmutter auf und trägt Spuren, nämlich offensichtliche Narben von der frühkindlichen Misshandlung. Die Liebe steht unter keinem guten Stern, und so flieht mal der eine, mal die andere quer durch Europa.

Sie hob ihren Mantel mit einem Finger hoch und war schon verschwunden. Weltmeisterin im Abschiednehmen. Er hörte ihre Schritte auf der Treppe, dann die Haustür. Jetzt war sie ein Teil der Stadt, eine Passantin. Er war nicht verrückt, sah aber, daß das Zimmer sich wunderte. Er war also nicht der einzige. Die Stühle, die Gardinen, das Foto, das Bett, sogar sein alter Freund, der Kastanienbaum, wunderten sich. Er mußte machen, daß er hier fortkam.

Nootebooms „Allerseelen“ verhandelt nicht die Wiedervereinigung Deutschland, das Ende des Kalten Krieges, wie das jubelnde Feuilleton vermeint, auch analysiert es nicht den deutschen Charakter, den janusköpfigen Zwitter einer sich selbst desavouierenden Kultur. „Allerseelen“ beleuchtet vor allem die Möglichkeit von Glück in einem utopielos gewordenen Geschichtsabschnitt. Er sucht die Lücken, das Dunkle, die Nischen, und findet sie, im Gegensatz zu „Rituale“ und „Die folgende Geschichte“ nicht im Tod, in der Sühne, oder in der Schuld. Nooteboom beschreitet in „Allerseelen“ einen neuen Weg der melancholisch-gesättigten, sentimental-dynamisierten Weltbegegnung.

Arthur spürte, wie er wieder gegen die Tränen kämpfen mußte, doch was dann geschah, war noch viel schwerer zu ertragen. Victor, der sich etwas abseits von den anderen gehalten hatte, ging in eine Ecke des Zimmers, wo Arthur ihn gut sehen konnte, ordnete seinen Seidenschal mit den Polkatupfen, zog sich das Jackett zurecht, verbeugte sich, schien zu zählen und begann dann zu steppen, wobei er Arthur unverwandt ansah.

Keinen Schmerz ausweichend, aber auch keinen Schmerz absolut setzend, jeden Moment dynamisierend in den Zusammenhang eines kosmischen Ganzen lesend, lässt Nooteboom „Allerseelen“ zu einem bemerkenswert leisen, strahlenden Buch werden. Es glänzt nicht dort, wo es zitiert und Hegel und Walter Benjamin, Schestow paraphrasiert. Es glänzt dort, wo die Zeit zwischen zwei Menschen einzigartig wird und stillsteht – und im Verlauf der rastlosen Geschichte eine Lücke für so etwas Absonderliches wie ein wachsendes Verständnis und freies Miteinander lässt.

Inhalt: 5/5 Sterne (zartes Widerstehen)
Form: 4/5 Sterne (fließende Sprache, aber nicht innovativ)
Komposition: 4/5 Sterne (episodenhaft atmosphärisch)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (melancholische Katharsis)


Cees Nooteboom: „Rituale“

Rituale by Cees Nooteboom

Fein geschliffene Miniaturen vom Pathos der Dinge. Der nachhallende Glaubensverlust verpufft aber zur narrativ leeren, fast hilflosen Geste.

Zwischen Nootebooms zweitem Buch „Der Ritter ist gestorben“ und seinem dritten „Rituale“ liegen anderthalb Jahrzehnte, in denen er sich mit dem Stoff für „Rituale“ beschäftigte und sein Geld mit Reisebeschreibungen verdiente. Im Jahr 1980 war es dann soweit. Der dritte Roman erschien auf Niederländisch und verhalf Nooteboom rückblickend zum Durchbruch. „Rituale“ besitzt drei Teile und beginnt im Jahr 1963. Inni Wintrop, der Protagonist, wird von Zita, seiner Ehefrau, verlassen.

Inni, dem die Ausdrucksweise der modernen Poesie vertraut war, bezeichnete sich zu dieser Zeit gern als »ein Loch«, als einen Abwesenden, als jemanden, den es gar nicht gibt. […] Ein Loch, ein Chamäleon, jemand, in den man alles einsetzen konnte, ob Haltung oder Akzent, das war ihm völlig gleichgültig. Und Amsterdam bot alle Möglichkeiten für Mimikry. »Du lebst nicht«, hatte sein Freund, der Schriftsteller, einmal gesagt, »du läßt dich ablenken«, und Inni hatte das als Kompliment aufgefaßt.

Inni lebt vor sich hin, betrügt seine Frau, bis es diese nicht mehr aushält. Sie lässt sich für den Abschiedssex bezahlen und zieht dann flugs von dannen. Das kurze Anfangskapitel setzt so den Ton für die nächstfolgenden. Es geht um Sex, um Schuldgefühle, um Bedeutungs- und Sinnverlust in der Nachkriegsgesellschaft, in der sich die haltlos gewordenen Individuen mit Ritualen über Wasser zu halten versuchen, aber durch diese eher in eine Mechanik des Todesgetriebes hineingeraten:

Du kannst nicht auswählen, das ist immer Mangel an Format. Deshalb bist du ein Schacherer. Das ist einer, der alles schön findet. Dazu ist das Leben zu kurz. Man kann wirklich nur schön finden, wovon man etwas versteht. Wer nicht auswählt, wird im Morast zugrunde gehen. Schlamperei, Mangel an Aufmerksamkeit, von nichts wirklich Ahnung, die schlammige Seite des Dilettantismus. Die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Nooteboom komponiert einen vielschichtigen, um religiöse Motive des Abendlandes und Japans konzentrierten Text, in denen zwischen Aktienkursen, kleinen Schäferstündchen die Figuren wie Zuschauer im eigenen Leben die Zeit verbringen und die Oblate des Abendmahles zum körperbejahten Lustfleck wird. Außer Sex nämlich rettet die Nooteboomschen Figuren in „Rituale“ nichts. Die Sprache, der Glaube, der Sinngehalt der Kommunikation verpufft zu leeren Gesten wie die Teezeremonie, wie das philosophische Gespräch, selbst wie der theologisch-didaktische Streit zwischen dem Atheisten und Kleriker. „Rituale“ als Roman zementiert eine Form des stoischen Verstummens:

Die ganze Zeremonie, wenn man das so nennen konnte, dauerte fünf Minuten. Dann hatte die Welt mit Philip Taads abgerechnet. Als sie ins Freie traten, rieselte der Tote wie grauer, nasser Schnee auf die Schultern ihrer Mäntel nieder. Das einzige, was fehlte, war eine Taube.

Die Taube symbolisiert den Heiligen Geist, die Zusammenkunft der Gläubigen, das Aufrechterhalten des Gedächtnisses, die Andacht, von der Nooteboom viel berichtet, aber nicht mehr viel hält. Drei Tauben sterben. Nur der Sex mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau tröstet. Je weiter der Roman voranschreitet, desto mehr schlägt die Symbolik einem die Trauer um den Glaubensverlust mit einem Balken ins Gesicht. Roh, unverarbeitet, allegorisiert-fragmentiert werden theologisch-philosophische Häppchen aufbereitet und wiedergekäut (bspw. das Skifahren aus Jean-Paul Sartres „Das Sein und das Nichts“; Emil Ciorans „Vom Nachteil, geboren zu sein“), ohne dass die Figuren, die Mehrdimensionalität ihrer Handlungsweisen und Dialoge, diese semantische Last zu tragen vermögen.

Aufmerksam gelesen dreht sich der Text im Kreis, ohne sich zu schließen. Es handelt sich um eine Todesspirale der Aufgabe, die dann in „Die folgende Geschichte“ konsequent zu Ende gedacht und geschrieben wird. Stilistisch pointiert, atmosphärisch geschrieben enttäuscht Nootebooms Roman „Ritual“ am sich selbst aufgelasteten, assoziativ herbeizitiertem Tiefsinn. Er brilliert in der Beschreibung, wie es von einem Reiseschriftsteller zu erwarten ist, nicht in der Handlungsführung, denn Reisen besitzen keine Handlung. Sie sind die Abwesenheit derselben, das Aussitzen, Aussteigen. In der Beschreibung der Raku-Schale blitzt all das Können auf, das den Nooteboom als aufmerksamen Beobachter auszeichnet. Gäbe es diese literarische Verarbeitung der Ding-Metaphysik nicht, dem Pathos der Dinge, bliebe vom Text nichts als ein horror vacui.

Inhalt: 2/5 Sterne (Selbstmörder und andere Irren)
Form: 5/5 Sterne (treffsichere, rundende Sprache)
Komposition: 2/5 Sterne (ärgerliches philosophisches Trittbrettfahren)
Leseerlebnis: 2/5 Sterne (ermüdende Symbolik)


Cees Nooteboom: „Die folgende Geschichte“

Die folgende Geschichte - Cees Nooteboom

Berührende Lebensbilanz eines Träumers und kompositorisch-gelungene Allegorie aufs Abschiednehmen.

Nootebooms kurzer Roman „Die folgende Geschichte“ erschien 1991 und ist bislang sein viertletzter Roman geblieben. Er behandelt durchweg die Thematik des Todes, des Verlustes, des sich reflektierenden Lebensscheiterns. Sein Protagonist heißt Herman Mussert, ein ehemaliger Gymnasiallehrer für Griechisch und Latein, der sich in einer Art Schwebezustand zwischen Tod und Leben, zwischen Amsterdam und Lissabon, zwischen Europa und Südamerika befindet:

Auch ich habe meine Bibel [Ovids Metamorphose], und sie hilft wirklich. Und außerdem – mein Körper, obwohl wenn ich noch immer nicht in den Spiegel geschaut hatte, fühlte sich an wie er selbst. Das heißt, nicht ich war ein anderer geworden, ich befand mich lediglich in einem Zimmer, in dem ich mich nach den Gesetzen der Logik, soweit ich sie kannte, nicht befinden konnte. Das Zimmer kannte ich, denn hier hatte ich vor gut zwanzig Jahren mit der Frau eines anderen geschlafen.

Die zeitlichen, räumlichen und assoziativen Sprünge erschweren die Lektüre von „Die folgende Geschichte“ massiv, auch die Anspielungen, Referenzen an die Werke von Horaz und Ovid und Jan Jacob Slauerhoff, die teilweise überhand nehmen und den Lesefluss hindern. Die Irrealisierung der Erzählposition steht aber im Einklang mit dem Vorgängen der Geschichte. Letztlich verarbeitet Mussert eine verlorene Liebe, eine ungerechte Behandlung, eine Art Ausgestoßen-Sein, die ihm ungerechterweise zu Teil wurde. Diese Verletzung lastet schwer auf seinem Gemüt. Nun ausgestoßen aus dem Lehrbetrieb fristet er sein Dasein als Reiseschriftsteller, um Geld zu verdienen. Glück erwartet er nicht mehr:

Das Leben ist ein Eimer Scheiße, der immer voller wird und den wir bis zum Ende mitschleppen müssen. Das soll der heilige Augustinus gesagt haben, ich habe den lateinischen Text leider nie nachgeprüft. Wenn er nicht apokryph ist, steht er natürlich in den Confessiones.

Dieser Stelle lässt sich in den „Die Bekenntnisse des hl. Augustinus“ so nicht nachweisen. Spielt aber auch keine Rolle mehr für Mussert, der sich mit der Bedeutungslosigkeit der lateinischen und griechischen Sprache für die Neuzeit abfinden muss und den Niedergang der philologischen Ernsthaftigkeit damit nur unterstreicht. Nur Lisa d’India, eine Musterschülerin, teilt seine Freude, aber gerät durch diese in eine Dreiecksgeschichte wie das fünfte Rad an einem Wagen, die böse letztlich für sie und auch für ihn ausgeht. Ihm wird jede Hoffnung genommen, und um diesen lebensentscheidenden Moment, auf den die Geschichte zuläuft, geht es in der Retrospektive eines die Lebensbilanz ziehenden alten Mannes.

Ich wollte diesen schlafenden Mann nicht mehr sehen mit dem offenen Mund und den blinden Augen, die Einsamkeit dieses sich hin und her wendenden, wälzenden Körpers. Nach Maria Zeinstra hatte ich nie wieder die Nacht mit jemandem verbracht, es war, dachte ich damals, meine letzte Chance auf ein wirkliches Leben gewesen, was immer das bedeuten mochte. Zu jemandem gehören, zur Welt gehören, derlei Unsinn.

Cees Nooteboom schreibt ruhig, besonnen die Geschichte eines Träumers auf, der an die höhere Form der Liebe glaubte und an der niederen letztlich zerschellte. Seine „Die folgende Geschichte“ steht im engen Zusammenhang mit John Williams „Stoner“ und Han Kangs „Griechischstunden“. Es geht um die Leidenschaft nach Sprache, nach Gespräch, nach Kommunikation. Es geht um Platon, die Ideen, das platonische Wirken, Sublimieren, Potenzieren der Lebens- und Leibeslust, und die Fatalität, niemandem zu finden, mit dem diese Sehnsucht Wirklichkeit würde.

Eine Verarbeitung der Einsamkeit, die doch die Hoffnung nicht aufzugeben vermag, und deshalb Literatur wird, und nur ein wenig an dem gewollt-abrupten Übergang zwischen Kapitel eins und zwei und Überfülle an Literaturverweisen leidet.

Inhalt: 3/5 Sterne (allegorische Liebesgeschichte, zu viele Zitate)
Form: 5/5 Sterne (lyrisches Dahingleiten)
Komposition: 3/5 Sterne (harter Sprung zwischen Teil eins und zwei)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (reflektierend-zirkulierendes Einvernehmen)


Han Kang: „Griechischstunden“

Griechischstunden by Han Kang

Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort – die Stimme zurückfinden.

Viele Romane streben heutzutage eine Literatur der kleinen Form an. Sie besteht in äußerst verdichteten Minimalszenerien, die sofort, ohne längeren Aufschub, auf die Erzählidee eingehen, den inneren Konflikt thematisieren und auf nur wenigen Seiten dann, oftmals sogar berechenbar, diesen auflösen. Im Zentrum dieser Art Literatur steht oftmals ein bereits auf viele Weise tradierter Stoff wie bei Alan Lightman in „Und immer wieder die Zeit“ Einsteins Relativitätstheorie, oder bei Cees Nootebooms „Rituale„, die japanische Teezeremonie. Bei Han Kangs „Griechischstunden“ steht Platons Idee auf dem Programm, das Übersinnliche, Überzeitliche, das Nicht-Sichtbare:

Aber stimmt das überhaupt? Hat mich Platons Universum aus den Gründen fasziniert, die du angeführt hast [die drohende Blindheit] – und so, wie ich schon zuvor vom Buddhismus angezogen wurde, weil er sich mit einem einzigen Schnitt vom spürbaren Dasein loslöst? Weil es mir bestimmt war, den sichtbaren Teil der Welt zu verlieren?

In dem Roman „Griechischstunden“ finden eine Lehrerin, die ihre Stimme verloren hat, und ein Lehrer, der fast vollständig erblindet ist, zueinander. Mit verschiedenen Stilmittel inszeniert Kang dieses Kennenlernen zweier sehr zurückgezogener, sich versteckender, verängstigender Menschen. Die behutsame Art, wie sie zueinander finden, gibt dem Buch die innere, klare Linie, die es benötigt, um um diese eine Wolke assoziativen Dichtens und Schwebens, eine Atmosphäre des Sich-Verlierens in der Sprache zu inszenieren:

Herz an Herz gepresst, kennt er die Frau immer noch nicht. Er weiß nicht, dass sie als Kind in den dämmrigen Hof ihres Wohnhauses starrte und sich fragte, ob sie überhaupt das Recht hatte, auf dieser Welt zu sein. Er kennt den Panzer nicht, dessen Kettenglieder aus Wörtern ihren nackten Körper wie tausend Nadeln stechen. Er weiß nicht, dass sich ihre Augen in seinen spiegeln und umgekehrt … bis ins Unendliche. Er weiß nicht, dass sie ihre bläulich-violetten Lippen fest geschlossen hält, weil all dies ihr Angst macht.

„Griechischstunden“ spielt auf der Klaviatur des bewusst-eingegangenen Verzichts, um durch diesen, durch den Abstand, durch diese Klinge, die Träume von Realität, Worte von Bedeutung, Gefühle von Anschauungen trennt, das, was noch nicht ist, was nur sein könnte, eine besondere Bewandtnis zu verleihen. Wer jahrelang nicht spricht, dessen erstes Wort bedeutet etwas. Wer jahrelang flieht und fortrennt, bei dem bedeutet es etwas, wenn er stehenbleibt und sich zeigt.

Aber kannst du mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich jeden Abend das Licht lösche, ohne zu verzweifeln? Weil ich die Lider vor Sonnenaufgang wieder öffnen werde. Weil ich die Vorhänge aufziehen und das Fenster aufreißen werde, um den verhangenen Himmel durch das Mückennetz hindurch zu sehen. Weil ich in meiner Phantasie, nur in einer dünnen Jacke, das Haus verlassen und Schritt um Schritt auf düsteren Gehsteigen entlangwandeln werde. Weil ich beobachte, wie das Gewebe der Dunkelheit allmählich ausfranst, die bläulichen Fäden sich auf meinen Körper und die Stadt legen.

In dichter Atmosphärik zieht Han Kang auf engsten Raum alle Register, die die Emotionen zweier Menschen bewegen, denen die Welt abhanden gekommen ist. Sie träumen von Platons Ideen als zeitenthobene Entitäten, weil sie noch nicht im Kreislauf des Lebens Eingang gefunden haben. Sie träumen und wandern durch die Stadt ihrer Kindheit auf der Suche nach sich selbst, und Han Kang stärkt ihnen mit ihren „Griechischstunden“ den Rücken. Ein hoffnungsvolles, weites, sich öffnendes Buch, das mich über weite Strecken an Cees Nooteboom erinnert hat, der eine ähnliche freundliche und poetische Sicht auf die Welt zu haben pflegt.

Inhalt: 4/5 Sterne (zarte Liebesgeschichte)
Form: 5/5 Sterne (melodiöses, lyrisches Herantasten)
Komposition: 3/5 Sterne (vorhersehbar, aber mit Liebe zum Detail)
Leseerlebnis: 4/5 Sterne (glänzendes Kleinformat)


Deniz Ohde: „Ich stelle mich schlafend“

Ich stelle mich schlafend by Deniz Ohde

Atmosphärisch stimmig. Ein Erzählsound, durchgängig aufrechterhalten, der sich den Zwang auferlegt, oberflächlich zu bleiben. Schade.

Deniz Ohdes zweites Buch „Ich stelle mich schlafend“ lässt sich als eine Erweckungsliteratur begreifen, der den Mut zur eigenen Courage fehlt. Mittels Yasemine, der Protagonistin, wird von Schuld, körperlicher Entfremdung, von Übergriffen, Obsessionen und Distanznahmen erzählt:

Aber davon wusste Yasemin noch nichts, daran dachte sie auch nicht, als sie nun, achtzig Jahre später, vor speziellen Spiegeln in ein Verwandtschaftsverhältnis mit dieser Pionierin [der Krankengymnastin] trat und sich auf sich selbst besinnen sollte. Ein Gefühl für ihren Körper entwickeln, den sie bisher mehr als Vehikel gesehen hatte, das man wohl oder übel ab und zu mit Gemüse und Wasser füttern musste, damit es einen durch die Welt trug. An ihren Atem hatte sie schon gar nie gedacht.

Auf engstem Raum werden religiöse, sexuelle, politische, beziehungstechnische Untiefen der Erwachsenwerdung Yasemines verhandelt. Am Anfang steht vor allem die Freundschaft mit Immacolata im Vordergrund. Empathisch, tiefsinnig, wird das Heranwachsen dieser zwei sehr unterschiedlichen Mädchen beschrieben, die sich eine mystische, freie Welt zusammenglauben. Hier sprudelt die jugend-kindliche Phantasie, und mehr als nur das weite, noch unbeschrittene Leben steht vor ihnen. Ein Kosmos an Möglichkeiten ergibt sich durch die Anrufung von Hexen und mystischen weiblichen Naturwesen:

Von weitem sah Imma Yasemin da in der Dämmerung laufen, ein Auto fuhr mit gleißenden Scheinwerfern vorbei, die schlangenförmigen Hochhäuser ragten am Ende der Vogesenstraße in den dunkelblauen Himmel, sie blickte geradeaus, lief mit großen Schritten, und ihr Mantel bauschte sich hinter ihr auf. »Du sahst aus wie eine echte Hexe«, beschrieb sie ihr später das Bild.
Am Ende des Abends saßen sie in Lydias Wohnzimmer, Yasemin hatte noch den Lidschatten in den Augenwinkeln, wodurch ihre helle Iris noch eindringlicher leuchtete, wenn sie sich im Fenster sah.

Hier, zwischen Lydia, der Kosmetikerin, Imma, der draufgängerischen Freundin, und Yasemin, der zurückgezogenen Phantastin spannt sich ein weites Feld an Möglichkeiten auf, das narrativ den Anfang von „Ich stelle mich schlafend“ in einen träumerischen Exkurs des Möglichkeitsdenken verwandelt, Zwischenräume der Geschichte, der Persönlichkeiten, Schatten- und Lichtseiten, auf engstem Raum atmosphärisch geballt, beleuchtet.

Leider bleibt Ohde nicht hierbei. Die Freundschaft mit Imma zerbricht unversehens und ziemlich abrupt, eine unausgegorene Beziehung mit einem Grunge-Typen gerät in gefährliche Untiefen, ein Reitunfall unterminiert Yasemins ohnehin gestörtes Körpergefühl, der Beruf, die Ausbildung, werden nur nebenbei, stichwortartig wie die darauffolgenden Beziehung tabellarisch (!) erwähnt. Am Ende geht schließlich irgendwie alles zu Bruch und irgendwie auch nicht:

Eine Version ihrer selbst, die in einem Paralleluniversum existierte, in dem nichts mit ihr geschehen war. In dem es keine Hand brauchte, die ihr befahl, in sie zu atmen. In dem es keine Hand gab, die sie im Türrahmen festhielt. In dem sie jedem Griff entglitt, wie Wasser durch Finger floss.

Ohdes „Ich stelle mich schlafend“ besitzt viele intensive Szenen, insbesondere in den Jugend- und Kindheitsbeschreibungen, sobald aber die Erwachsene ins Spiel kommt, wird klar, dass die Erzählerin einem kindlichen Ich verbunden bleibt, und von der Erwachsenenwelt nichts zu berichten weiß (und hier sogar zur stichwortartigen Abhandlung der Ereignisse übergeht, als wäre Literatur Stenographie). In ihr geht es nur um Sex, Gewalt, Obsession und Verwirrung.

Das Buch fliegt auseinander, sobald die Coming-of-Age-Geschichte abgeschlossen wird. Auf seine Weise stark verbandelt mit Terézia Moras „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ und Judith Hermanns „‎Wir hätten uns alles gesagt“: Ähnlich stark in der Stilistik, ähnlich unüberzeugend in der Komposition; ähnlich gut im Auffangen einer Stimmung, ähnlich beliebig in der narrativen Gestaltung eines Textes. „Ich stelle mich schlafend“ gleicht eher einem Erzählband, einer losen Assoziationsübung und überzeugt als Romanganzes deshalb nicht. Nun bleibt die Geschichte der zwei jungen Hexen leider unerzählt, die so viel uneingelöstes Potential besaß.

Inhalt: 2/5 Sterne (Coming-of-Age-Thematik)
Form: 4/5 Sterne (atmosphärisch, dichte Sprache)
Komposition: 2/5 Sterne (rahmenlose Gesamtdarstellung)
Leseerlebnis: 2/5 Sterne (begeistert, dann enttäuscht)


Gabriel García Márquez: „Hundert Jahre Einsamkeit“

Hundert Jahre Einsamkeit by Gabriel García Márquez

Sprachungestümes Assoziieren durch einen kunterbunten beliebigen Kosmos hindurch – das mystische Erzählen als Selbstzweck und Zeitvertreib.

Mit „Hundert Jahre Einsamkeit“ gelang dem späteren Nobelpreisträger von 1982 der literarische Durchbruch. Seine inhaltlich breit angelegte Chronik aus dem Jahr 1967 beschreibt die Höhen und Tiefen im Leben der Familia Buendía im fiktiven Dorf Macondo über sechs Generationen hinweg. Die Ereignisse, die sämtlich um Liebe, Geld und Ehre kreisen, werden durchsetzt von mystischen Ereignissen wie einer Himmelsfahrt, einer Galeone inmitten des Dschungels und Geister und Gespenster, die die Lebendigen nicht in Ruhe lassen, wieder auftauchen und an den Gesamtzusammenhang eines spiritistisch, voll Esoterik aufgeladenen Lebens gemahnen:

»Fühlst du dich schlecht?« fragte [Amaranta].
Remedios die Schöne, die das Laken am anderen Ende hielt, lächelte mitleidig.
»Im Gegenteil«, sagte sie. »Ich habe mich nie wohler gefühlt.«
Kaum hatte sie gesprochen, als Fernanda spürte, wie ein leichter lichter Lufthauch ihr die Laken entriß und diese vollständig ausbreitete. Amaranta fühlte ein geheimnisvolles Zittern im Spitzensaum ihrer Röcke und wollte sich am Laken festklammern, um nicht zu fallen, genau in dem Augenblick, als Remedios die Schöne aufzufahren begann […] wo es kein Vier-Uhr-Nachmittags mehr gab und wo [die Laken] sich mit ihr für immer in den höchsten Sphären verloren, wo nicht einmal die höchsten Vögel der Erinnerung sie einholen konnten.

„Hundert Jahre Einsamkeit“ liest sich als eine assoziative, phantasievolle, voller ausufernder Erzähllust durchwebte Chronik, die leider bis auf das Beschränken auf das fiktive Dorf Macondo und die fiktive Familie Buendía kaum Anhaltspunkte bietet, um das wilde Durcheinander imaginativ zu bündeln und diesem dadurch eine lektüreleitende Konsistenz zu verleihen. Weder plausible Naturvorgänge noch innerpsychische Motivationen, weder idealtypisch-generierte Figuren noch historische Eckdaten, weder technologische noch ästhetische Grenzen akzeptiert das sprachlich äußerst versierte, auch von Obszönitäten nicht zurückschreckende Erzählen von Gabriel García Márquez. Auktorial, als deus absconditus, fabuliert er ausschweifend über Gott und die Welt und kämmt Niedriges wie Hohes, Tiefes wie Flaches alles über einen Kamm:

Dann ging [Oberst Aureliano Buendía] zur Kastanie und dachte an den Zirkus, und während er urinierte, versuchte er weiter an den Zirkus zu denken, fand aber schon keine Erinnerung mehr. Steckte den Kopf zwischen die Schultern wie ein Küken und blieb, die Stirn an den Stamm gelehnt, regungslos stehen. Bis zum nächsten Tag um elf Uhr merkte die Familie nichts, als Santa Sofía von der Frömmigkeit den Müll in den Hinterhof trug und dabei gewahrte, daß die Aasgeier herabstießen.

Das Für-und-Wider, ob die Szenen überzeugen, witzig, traurig, mitreißend, aberwitzig, an den Haaren herbeigezogen oder nicht sind, verdeckt leider nicht die Tatsache, dass es derer beliebig viele geben könnte. „Hundert Jahre Einsamkeit“ besitzt schlicht keine Verbindlichkeit und könnte insofern hundert Seiten oder zweitausend oder mehr Seiten lang sein. Es löst alles, was einen Text auszeichnet, in einem Strudel der Phantasie auf, in die die Menschen, die Tiere, die Natur, ja der ganze Kosmos hineingerissen und so der Bedeutungslosigkeit überantwortet werden.

Als konsequente Umsetzung einer Fiktion, die selbst die Fiktion fiktionalisiert, überzeugt „Hundert Jahre Einsamkeit“ durchweg. Das Lesen verwandelt sich in Lethe, dem Fluss des Vergessens. Namen, Ereignisse, Zusammenhänge spielen keine Rolle. Das Buch könnte in der Mitte anfangen, alles bis zum Ende erzählen, um von dort wieder zum Beginn zurückzukehren, ohne dem Erzählfluss etwas zu nehmen oder hinzuzufügen. Am Ende stirbt sowieso jeder der Buendías – dem eschatologischen Ende entkommt niemand. In der Nacht sind nun einmal alle Katzen grau, und außer Spesen ist in Macondo leider nichts gewesen. Schade.

Inhalt: 3/5 Sterne (assoziatives, phantastisches Durcheinander)
Form: 5/5 Sterne (anspruchsvolle, wortreiche Sprache, leicht redundant)
Komposition: 1/5 Sterne (beliebiges Schwadronieren)
Leseerlebnis: 1/5 Sterne (gedächtnisbefreites Abschweifen)


Alain Robbe-Grillet: „Argumente für einen neuen Roman“

Argumente für einen neuen Roman.“ (Alain Robbe-Grillet) – Buch antiquarisch  kaufen – A02x8i6p01ZZv

Aus dem Ärmel geschüttelte Standpunkte für neue literarisch-experimentelle Strukturen. Freude am sprachlichen Abenteuer.

Alain Robbe-Grillet gilt mit Nathalie Sarraute, Michel Butor und Claude Simon zu den bekanntesten Vertretern des Nouveau Roman. Um ihn herum entbrannte eine der letzten großangelegten Auseinandersetzungen um künstlerische Form und ästhetische Gesetzgebung um die 1960er Jahre. Die einen fanden ihn unlesbar, die anderen näher an der Wirklichkeit, an der Konstituierung der modernen Welterfahrung angelegt. Robbe-Grillet zieht in seinem Essayband Argumente für einen neuen Roman aus diesen Diskussionen ein paar Schlüsse:

Man begreift damit die Absurdität dieses Lieblingsausdrucks unserer traditionellen Kritik: »Soundso hat etwas zu sagen, und er sagt es gut.« Könnte man nicht im Gegenteil gerade behaupten, dass der echte Schriftsteller nichts zu sagen hat? Er hat nur eine Weise des Sagens. Er muss ein Welt erschaffen, doch vom Nichts, vom Staub aus …

Der Roman Nouveau erblickte das Licht der Welt, als die eine Seite mehr Engagement in der Literatur forderte (Jean-Paul Sartre), indes die andere der Absurdität des Weltgeschehen abfeiern wollte (Albert Camus, Eugene Ionèscu, Samuel Beckett). Der neue Stil, von Sarraute, Butor, Simon und Robbe-Grillet mit Vehemenz betrieben, wollte sich als Triangulierung eher um uninteressante Dinge kümmern, den Alltag, das Sehen, das sprachliche Verweben der Realität erfassen. Mit einer neuen Technik des Schnitts, mit einer entmetaphorisierten, entanthropomorphisierenden Sprache wollten sie zurück zu den Dingen:

Der zeitgenössische Autor ist weit davon entfernt, den Leser zu vernachlässigen, er verkündet im Gegenteil, dass er seiner Mithilfe unbedingt bedarf, seiner aktiven, bewussten, schöpferischen Mithilfe. Er verlangt von ihm nicht, dass er eine abgeschlossene, sinnerfüllte, um sich selbst geschlossene Welt entgegennehme, sondern dass er an einer Schöpfung teilhabe, dass er seinerseits das Werk- und die Welt – erfinde und damit lerne, sein eigenes Leben zu erfinden.

Hier geht es nicht um Beschreibungslücken, Auslassungen oder Verkürzungen, die es zu extra- oder interpolieren gelte, auch nicht um die Referenzierung von größeren Umständen mittels Stichwörtern, die das Lesen je selbst zu entfalten habe – hier wird nicht semantisch auf die Mithilfe hingewirkt, sondern formal. Der Schreibstil selbst lässt das Symbolische wabern, arbeitet die architektonischen Eigenschaften des Raumzeitempfindens heraus. Sprache, so wie sie der Nouveau Roman anvisiert, belebt sich, wirkt auf sich zurück und entfaltet so neue Erfahrungspotentiale, die mit herkömmlichen Mitteln des Erzählens nicht zu erschließen sind.

Die Rolle des Romanciers wäre die eines Vermittlers: durch eine schwindlerische Beschreibung der sichtbaren Dinge – die selbst vollkommen bedeutungslos wären – evozierte er das sich dahinter verbergende »Reale«.

Die Essays und kleinen Aufsätze funkeln vor Schreibfreude und strahlen insofern Aufbruchsstimmung aus. Sie wollen weniger überzeugen als Lust machen, weniger erklären als auf eine gewisse Offenheit bei der Lektüre hinwirken. Sie eignen sich deshalb hervorragend als Einleitung oder Intermezzo während des Lesens eines dieser, teilweise, sehr seltsamen neuen Romane, die den Lesegewohnheiten viel abverlangt, aber eben gerade darin ihren eigenen Verdienst sehen. Die Kritik des Formalen rennt insofern offene Türen ein, und wie nicht selten scheinen gerade die offensten Türen die größten Hindernisse zu sein.


Karl Heinz Bohrer: „Selbstdenker und Systemdenker“

Selbstdenker und Systemdenker by Karl Heinz Bohrer

Fehlleitender Titel und ein wenig zusammenhangsloses Assoziieren über Kultur- und Literaturkritik. Zeugnis eines Aufgebens.

Karl Heinz Bohrer leitete einst das Literaturressort in der FAZ, bevor er 1974 von Marcel Reich-Ranicki von seiner Funktion dort abgelöst wurde. Er gilt als einer der bedeutendsten Ästhetiker des Schocks, Erhabenen und Schrecklichen, die er insbesondere am Frühwerk Ernst Jüngers entwickelte. Sein Buch „Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken“ weckte durch seinen Titel falsche Begehrlichkeiten. Es handelt sich lediglich um eine Reihe von Aufsätzen, die nur lose und zwar in Gestalt Friedrich Schlegels zusammenhängen, den er ausgiebig zitiert, wie hier:

Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Phantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter. [Gespräch über die Poesie]

Mit anderen Worten, er trennt das Sprachspiel der Literatur von dem kommunikativen Handeln im politischen Bereich wie auch ein Richard Rorty. Er will die Kunst und Literatur nicht eingespannt sehen in funktionale Zusammenhänge, sondern den Bereich der Poesie freihalten von Propaganda, Argument und Rationalität. Selbstredend steht er hiermit auf Kriegsfuß mit Jürgen Habermas, der im Sinne Kants von der sittlichen Kraft des Schönen auch im Bereich der Kunst, als sensus communis, überzeugt bleibt, Schönheit aus verbindender ethischer Quelle. Bohrer hingegen besteht auf das Beschreiben, das Deskriptive, das Loslassen und Sich-Überlassen, um eingefahrene Bahnen zu durchbrechen. Hierfür zitiert er Rorty:

Interessante Philosophie ist nur selten eine Prüfung der Gründe für und wider eine These. Gewöhnlich ist sie explizit oder implizit Wettkampf zwischen einem erstarrten Vokabular, das hemmend und ärgerlich geworden ist, und einem neuen Vokabular, das erst halb Form angenommen hat und die vage Versprechung großer Dinge bietet. [Kontingenz, Ironie und Solidarität]

Und nun, na ja, zwischen Friedrich Schlegel und Richard Rorty spannt sich nun ein weiter Raum auf, in welchem Bohrer munter assoziiert und reflektiert. Nur so richtig von der Stelle kommt er hierbei nicht. Die Diagnose wirkt defensiv und sogar etwas beleidigt. Bohrer schmollt und so wirft er seinem Publikum ein paar Brocken Romantik, Idealismus und Expressionismus hin, und meint, in einer ausladenden Bewegung, es seien wohlfeil eigentlich Perlen vor die Säue. So amüsant wie unergiebig bleibt das Denken dabei auf der Strecke. Wenigstens endet die Sammlung mit einer äußerst intensiven Besprechung von Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“ und einiger Westernfilme, sowie Erinnerungen aus Bohrers Universitätszeit in den 1960ern:

Denn das ist ein Stigma der Achtundsechziger geblieben, insofern sie aus diesem Berufsmilieu [linksradikale Verleger und Autoren] kamen: die Verbreitung eines flächendeckenden Opportunismus.

Das wirkt alles hoffnungslos veraltet und in alten Schützengräben verirrt und verloren, dass nur ein witziges, begrifflich Neues entwickelndes Denken begeistern könnte, aber da passiert nicht viel. Bohrer hat aufgegeben. Nach Schlegel kam nur noch Nietzsche, dann Jünger, und das war’s dann anscheinend schon. Enttäuschend.


Bret Easton Ellis: „American Psycho“

American Psycho von Bret Easton Ellis.

Ein zweitrangiger Yuppie verschafft sich durch Gewaltexzesse Erleichterung. Realitätsverlust als Plot, konsequent und atemberaubend umgesetzt.

Nur wenige Bücher schaffen es heutzutage noch auf den Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdete Medien. „American Psycho“ von Bret Easton Ellis, erschienen im Jahr 1991, gelang dies 1995, bis die Indizierung 2001 wieder aufgehoben wurde. In der Tat besitzt der Roman an Grausamkeit kaum zu überbietende Stellen. Patrick Bateman, ein 26-jähriger Wallstreet-Yuppie, langweilt sich in seinem Berufs- und Privatleben, verbringt viel Zeit in Fitness- und Wellness-Studios und leiht sich zumeist Horror- und Gewaltfilme aus:

Nach weiteren Stretchingübungen zur Entspannung nehme ich schnell eine heiße Dusche, eile dann zur Videothek und gebe die zwei Kassetten, die ich am Montag ausgeliehen habe, zurück, She-Male Reformatory und Der Tod kommt zweimal, aber Der Tod kommt zweimal leihe ich erneut aus, denn ich will es mir heute abend noch mal ansehen, obwohl mir klar ist, daß ich nicht genügend Zeit haben werde, zu der Szene zu masturbieren, in der die Frau mit der Schlagbohrmaschine getötet wird, weil ich mit Courtney für halb acht im Café Luxembourg verabredet bin.

Nebenher trifft er sich mit seinen Freunden, die sich alle gegenseitig verwechseln, betrachtet das Straßenleben New Yorks und bewertet und beurteilt das Leben der Obdachlosen und rezensiert hier und da Musik (Genesis, Huey Lewis and the News, Whitney Houston). Gebunden wird der Text durch viele Markennamen, Modebetrachtungen und Kleidungsstilfragen, sowie den neuesten technologischen Geräten und Möglichkeiten, TV-Talkshows und Klatsch und Tratsch aus der Finanzbranche. Diese beinahe unerträgliche Tristesse durchbricht der Roman, der aus dem Präsenz einer Ich-Perspektive konsequent umgesetzt und als Wiederholung des Immergleichen inszeniert ist, mittels radikalen Gewalt-, Vergewaltigungs- und Folterszenen von Männern wie Frauen wie Kindern, die Bateman mehr oder weniger zufällig über den Weg laufen:

Obwohl ich zuerst zufrieden mit mir bin, durchfährt mich plötzlich klägliche Verzweiflung darüber, wie sinnlos, wie außerordentlich schmerzlos es ist, ein Kind ums Leben zu bringen. Dieses Ding vor mir, klein und verkrümmt und blutig, hat keine eigene Geschichte, keine nennenswerte Vergangenheit, nichts Wichtiges geht verloren. […] Automatisch überkommt mich das schier überwältigende Verlangen, auch die Mutter des Kindes zu erschlagen, die in Hysterie verfallen ist, aber ich kann nicht mehr tun, als sie grob ins Gesicht zu schlagen und sie anzuschreien, sie soll still sein.

Erstaunlich klar, intensiv-verdichtend repetiert Easton Ellis die Tagesabläufe Batemans. Die Ich-Perspektive erlaubt eine Immersion, die selbst brutale Gewaltszenen erträglich werden lässt, da das erlebende Ich keine Beziehung zu seinen Taten besitzt und so plausibel erscheint. Je länger der Roman anhält, desto deutlicher wird auch die Spaltung, die innere Distanz, die Unzuverlässigkeit des Realitätserlebens und stellt die Szenen in den mehr oder weniger videographischen Kontext seiner Gewaltfilm- und Pornosucht, die sich wie Tagträume den Weg in sein Alltagsbewusstsein schaffen:

Das Leben blieb eine nackte Leinwand, ein Klischee, eine Soap Opera. Ich fühlte mich tödlich, am Rande der Raserei. Mein nächtlicher Blutdurst sickerte in meine Tage durch, und ich mußte die Stadt verlassen. Meine Maske geistiger Gesundheit bröckelte bedenklich. Das war meine tote Saison, und ich mußte raus aus der Stadt. Ich mußte in die Hamptons.

Die Gewaltausbrüche fungieren als Kurzurlaub, den er schließlich auch mit seiner Fast-Verlobten Evelyn unternimmt, nur um festzustellen, dass Urlaub nicht ausreicht, um sich selbst und seiner eigenen Leerheit zu entkommen. Mit fesselnden, sich immer weiter in Gewaltschraubenden hineindrehenden Prosastanzen vermag der Roman eine Psyche zu rekonstruieren, die das Höchstmaß an Selbstüberdruss zu ertragen versucht und just an dieser Aufgabe, als Gipfelstürmer der Dekadentexistenz, scheitern muss.

Dieses Scheitern mit all seinen Facetten eingefangen zu haben, darin besteht der Verdienst dieses an Eindringlichkeit kaum zu überbietenden Romans, der zeigt, wie die Banalität des Bösen erscheint und doch für andere, trotz schier überbordender Perversion, unsichtbar bleibt. Bret Easton Ellis setzt diese Ästhetik mit „American Psycho“ konsequenter um als selbst Vladimir Nabokov in „Lolita“ und schon erst recht als Quentin Tarantino in „Es war einmal in Hollywood“, von Gaea Schoeters „Trophäe“ gar nicht zu sprechen, indem er die Figur selbst und nicht die Erscheinungsweise für andere zur Sprache kommen lässt und sie nicht durch Selbstrechtfertigung in ihrer Plausibilität unterminiert und so in Mitleidenschaft zieht.

Ärgerlich: teilweise zu brutale Stellen, die dem Buch nichts hinzufügen (Stichwort: Ratte), die die Sensationslust befriedigen sollen, und genau hier ins Illustrative der ohnehin kargen Sprache abschweifen.

Erfreulich: das Psychogramm ungebrochen bis zuletzt durchgehalten, und die in Schwebe gehaltene Realitätsverlusteskapade erst am Ende, letzte drei Seiten, befriedigend dargelegt und aufgelöst. Die Perspektive selbst war der Plot.

Inhalt: 4/5 Sterne (intensive Gewaltexzesse und unterhaltsame Tristesse)
Form: 3/5 Sterne (instrumentelle, plakative Sprache, aber mit Drive)
Komposition: 5/5 Sterne (rhythmisch-dynamisch Eindimensionalität vermieden)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (ein Drahtseilakt der Atemlosigkeit)


Barbi Marković: „Minihorror“

Minihorror

Mikis und Minis Minihorror als Prüfstand für literarische Toleranz. Experimentell, bis weit übers Ziel hinaus.

Ein Teil der ästhetischen Kommunikation besteht seit je aus Provokation. Alte Lesegewohnheiten werden herausgefordert, neue Worte erfunden, Tabus gebrochen, Leseerwartungen enttäuscht. Hier beginnt das Spiel mit Sprache und Form und gerät schnell zum Selbstzweck wie in der Experimentellen Literatur im Allgemeinen oder in der Absoluten Prosa im Besonderen. Barbi Marković, Siegerin des Preises der Leipziger Buchmesse 2024, legt mit „Minihorror“ einen eigenartigen, eigenwilligen, fast bis zur Unlesbarkeit gepeitschten Text vor:

Mini schminkt sich, weil sie bald zur Party gehen will. Sie schaut nach, wie spät es ist, und dabei bemerkt sie einen verpassten Anruf von Kylie. Als sie zurückruft, geht Kylie nicht ran. Ein paar Sekunden später schaut sie wieder aufs Handy und sieht, dass Kylie angerufen hat. Mini ruft wieder zurück, und Kylie hebt nicht ab, aber gleich danach ruft Kylie an, und Mini sieht es und hebt ab.
»Endlich«, sagt Mini und lacht. »Ich habe meinen Ton nie an.«
»Ich weiß«, sagt Kylie, »niemand hat den Ton an.«

Dass „Minihorror“ als Satire und Provokation angelegt ist, wird sofort klar. Minnie und Mickey Maus, oder bei Barbi Marković Mini und Miki, werden als unsichere, hilflose, impulsgestörte Individuen eingeführt, die Ähnlichkeiten zu halbfertigen KI-Wesen besitzen und deshalb nur mit restringiertem Sprach- und Gedankencode überfordert durch die Welt tigern können. Die Sprache und Gedankenwelt reduziert sich auf aller einfachste Alltagssituationen, die von den beiden kaum beherrscht werden wie das Aufräumen oder E-Mail-Abschicken. Um die Verunsicherung zu komplettieren, unterminiert der Erzählstil von „Minihorror“ das Sprachgefühl auf verstörende, kondensierende Weise, um den Cartoon-Charakter seiner Hauptfiguren hervorzuheben:

Aber jetzt beginnt sich Mikis Bewusstsein auf dem Parkplatz der Raststation wieder zu regen. Sein Körper setzt sich Punkt für Punkt zusammen. Zuerst fühlt sich Miki leicht und gleich danach schwach und elendig wie jeder Mensch, der gerade an der Grenze zwischen Leben und Nichtleben war. Nach dieser Vision ist ihm noch weniger klar, was er denken soll.

Die KI-Wesen Mini und Miki laufen durch ein sinnentleere Welt und erleben voneinander völlig unabhängige Szenen, die sich nach und nach zu einer Art Gruselkabinett zusammenschließen. Die Mängelwesen stottern und radebrechen und wissen selbst nicht, ob sie tot oder lebendig sind. Als literarische Performanz gibt Marković dem eigenen Publikum eine saftige Ohrfeige nach der anderen:

»Keine Ahnung«, sagt Miki zu sich und zu euch.
Ja, zu euch, die er in diesem besonders empfindlichen Seelenzustand spüren kann, wie ihr auf die Moral der Geschichte wartet. Ihr saugt ihm seine ungeschützte Seele aus mit euren Erwartungen. Er möchte jetzt allein sein.

Als Kommentar zu einer fortschreitenden Idiokratisierung erhält „Minihorror“ tatsächlich Gruselmomente. Marković‘ Sprache scheint diesem Zerfall jedenfalls nicht Einhalt gebieten, sondern sogar Nachdruck verleihen zu wollen. Ähnlich zu Teresa Präauer in ihrem „Kochen im falschen Jahrhundert“ nimmt Barbi Marković ihr eigenes Publikum hops, ohne einen Sinnanspruch einzulösen. Da ist es zum Bertolt Brecht‘schen Verdikt aus „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ auch nicht mehr weit, dass der Luxus der westlichen Welt ohnehin nur aus „Hundsscheiße“ besteht. Nur wird in „Minihorror“ die sogar noch bei Brecht vorhandene Hoffnung einer auf gelungene Kommunikation drängende ästhetische Utopie gleich mit abgeschafft.

Inhalt: 1/5 Sterne (aneinandergereihte Alltagsszenen ohne Spannungsbogen)
Form: 1/5 Sterne  (Syntax und Wortschatz auf Minimalniveau)
Komposition: 1/5 Sterne (keine)
Leseerlebnis: 1/5 Sterne (intendiertes Entsetzen)

Ärgerlich: Rudimentäre Sprache erlaubt keinen Lesefluss.

Erfreulich: Das Wagnis, gegen die Sprache und Leseerwartung zu verstoßen, als ästhetisch-rebellierender, unkonformistischer Akt.


Julia Jost: „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Subversives Schreiben gegen das ländliche Kärntner Idyll. Eine poetische Aufruhr aus der Sicht seines kindlichen Wildfangs.

Wer, was ich erst durch den Kauf des Hardcover-Exemplars von Julia Josts Roman erfuhr, Geleitworte von Elfriede Jelinek auf dem Umschlagtext erhält und dieser sogar expliziert am Ende ihres Buches dankt, muss zumindest irgendetwas Textliches gewagt haben. Julia Jost wagt indes viel. Sie beschreibt aus der Sicht einer Heranwachsenden, das Alter der 1982 geborenen Ich-Erzählerin schwankt zwischen sieben und dreizehn Jahren, das Leben und Aufwachsen in Kärnten unter, so ließe sich mit Ingeborg Bachmann zusammenfassen, Mördern und Irren:

Obwohl der vulgo Focknhocker keine drei Kilometer vom Gratschbacher Hof entfernt wohnt, er dieselben Bäume anschaut wie ich und Schwalben, derselbe Geruch in ihn eindringt, er vom gleichen Speck isst und die gleiche Milch trinkt, obwohl er, wie ich, erst nach und nach den zweibeinigen Gang und die Artikulation mit der Zunge gelernt hat, obwohl sein Dialekt dem meinen gleicht, kam er mir in jenem Augenblick unüberbrückbar fremd vor.

Fremd sind der Ich-Erzählerin so ziemlich alle, vielleicht vom vier Jahre älteren Bruder Johan und ihrer Jugendliebe Luca, der Nachbarstochter, einmal abgesehen. Die Mutter, Lehrerin, der Vater, Autoverkäufer, der älteste Bruder Motorradverrückter gehen sehr eigenwillige Wege. Sie schmettern nationalsozialistische Lieder, gehen jagen, saufen, bauen die Häuser auf und beteiligen sich an der Schmierenoperette, die sich aller Ortens Politik nennt, nicht ohne selbst mächtig Federn zu lassen. Ihre Intensität und Vehemenz, mit denen Jost alle Figuren durch die Welt schreiten lässt, zwingen das junge Mädchen oft zum Rückzug:

Das Fahrrad ist ein Erbstück meines Bruders Johan, und ich durchbreche damit kaum einmal die Grenzen unserer umliegenden Wälder, um ins nächste Dorf zu fahren. Die Wälder genügen mir als Gegenüber. Manchmal liege ich stundenlang auf einem Moosbett, mit schwarzbeergefärbten Lippen, die eine Eichel-Pfeife halten. Ich liege auf der Lichtung, die auch Blöße genannt werden könnte oder Fratn, wie die Älteren sagen, ein unbedeutender, kleiner Wald-Parasit bin ich und phantasiere unter den Baumwipfeln.

Zentrales Erzählereignis stellt das traumatisierende Verunglücken eines gleichaltrigen Jungen namens Franzi dar, der beim Spielen und Versuch, ein Messer aus einem Brunnen zu holen, ums Leben kommt. Die Ich-Erzählerin kämpft mit ihrem schlechten Gewissen, denn sie hat Franzi zum Waldhaus mitgenommen; und sie kämpft auch gegen die Gleichgültigkeit ihrer Mitmenschen, ihrer Familie, dem Leiden andere, der Natur, Mensch wie Tier gegenüber. Ihr Kämpfen erhält, im erzählerischen Schwung, eine Distanzierung, die ohne Urteil und Denunziation vonstattengeht. Sie rüttelt mächtig am symbolischen Gewebe, bis die Fetzen fliegen und die goldenen Äpfel ihr in den Schoß fallen. Die Allegorie schlechthin gibt sie in ihrem Text selbst:

Die Mutter murmelte [wegen der vorsätzlichen Beschmutzung der Chaiselongue] hochtemperiert in der Küche vor sich hin, während der Vater im Wohnzimmer meine Brüder schlug. Aber diesmal mischte sich in das Gürtelschnalzen schon bald Hanis Lachen, und zuerst dachte Thomas, sein kleiner Bruder sei übergeschnappt, aber dann musste er selbst auch lachen, und so lachten die Buben und lachten und lachten. So dass auch ich, die ins Kinderzimmer Verbannte, mitlachen musste. Es war das letzte Mal, dass der Vater meine Brüder schlug.

Dem Irrsinn mit humoristischer Verve die Stirn bieten, hierhin gleicht Julia Jost der italienischen Autorin Claudia Durastanti aus „Die Fremde“. Jost wendet den Jelinekschen Bierernst ins Leichte und Verspielte, ohne an Schärfe einzubüßen. Der gesellige Blick der Ich-Erzählerin auf die Mit- und Umwelt erlaubt einen Rundumschlag, der sich gewaschen hat. Mit einem Rauschen bläst sie den Staub aus der Sprache und gleicht in vielerlei Hinsicht sogar, nur weniger stilistisch verschwurbelt, Jean Paul aus bspw. „Siebenkäs“. Lachen, so vielleicht die Lektion, und zwar ungerichtetes Lachen öffnet unerwartete Wege.

Ärgerlich: ein paar stilistische Ungereimtheiten, und eine störende, langatmige Anekdote ihres Bruder Thomas, die den Erzählfluss empfindlich stört und sogar unterbricht; sowie eine psychoanalytisch erzwungen erscheinende Metaphorisierung.

Erfreulich: gekonnte Wiederaufnahme der gewählten Symboliken durch den ganzen Text hindurch, so dass das Schreiben einen Klang, eine Stimmigkeit, einen Zug und Richtung erhält; Sprachwitz und großer, teilweise mundartlicher Wortschatz.

Inhalt: 4/5 Sterne (Kindheitserinnerung und Trauma)
Form: 5/5 Sterne  (Verve und Eindringlichkeit)
Komposition: 4/5 Sterne (kreisende, sich bestärkende Symbolik)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (ein überzeugendes Ich-Erwachen)


Max Frisch: „Der Mensch erscheint im Holozän“

Der Mensch erscheint im Holozän. Buch von Max Frisch (Suhrkamp Verlag)

Ein Buch aus der Stille der Einsamkeit heraus. Was übrigbleibt, wenn die Kraft ausgeht.

Der als „Eine Erzählung“ titulierte Kurzroman „Der Mensch erscheint im Holozän“ gehört zum Alterswerk von Max Frisch und erschien 1979 nach zwölfmaliger Umarbeitung. Wie über seine ganze Schaffensperiode hinweg experimentiert Frisch auch in diesem Text mit modernen und postmodernen Erzählweisen, mischt sie und sucht in ihnen einen eigenen Weg hin zum individualisiert-temporal-singulären Ausdruck eines Ichs, das nur in der Gegenwart, geologisch gesprochen im Holozän, erscheint:

Man kennt die Gestalt des Matterhorns von zahllosen Bildern; aus der Nähe, wenn man am Fels steht und sich eine Rast gönnt, das Seil um einen zuverlässigen Block geschlauft, und wenn man Ausschau hält, so ist von dieser Gestalt nichts zu sehen; nur Zacken und steile Platten und Kolosse von Gestein, zum Teil nicht senkrecht, sondern überhängend, man wundert sich, daß sie nicht längst abgebrochen und in die Tiefe gestürzt sind.

Erst mit dem Abschnitt der Besteigung des Matterhorns konnte Frisch das Manuskript für ihn befriedigend komplettieren. Das Matterhorn selbst lässt sich als „das Ich“ verstehen, das immer wieder uneinnehmbar vor einem steht, das nur im Gedächtnis, in der bewusstgemachten Selbstreflexion und Zeitfolge existiert und sich stets von Neuem aus dem Wust der Ereignisse selbst erschaffen muss, und doch, wie der Abschnitt betont, stets wieder droht, in die Tiefe, die Bewusstlosigkeit, hinabzustürzen.

Die Ameisen, die Herr Geiser neulich unter einer tropfenden Tanne beobachtet hat, legen keinen Wert darauf, daß man Bescheid weiß über sie, so wenig wie die Saurier, die ausgestorben sind, bevor ein Mensch sie gesehen hat. Alle die Zettel, ob an der Wand oder auf dem Teppich, können verschwinden. Was heißt Holozän! Die Natur braucht keine Namen. Das weiß Herr Geiser. Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht.

Zeit selbst existiert nur für den, der die Vergangenheit bewusst hält, nicht von Moment zu Moment lebt. Herr Geiser, der Protagonist von „Der Mensch erscheint im Holozän“, bringt bis auf die Erinnerung an die Besteigung des Matterhorn kaum noch kohärente Gedanken zustande. Er steht am Ende seines Lebens, isoliert, verwitwet, mit einem klopfenden, unruhigen Herz konfrontiert. Ihm steht klar vor Augen, dass die Welt, die sich in ihm geöffnet hat, wieder verschwinden kann. Er beginnt zu schreiben, Wissen zu sammeln, sein Gedächtnis zu bestärken, vor allem: mit der Welt, seiner Welt, der Gesamtvergangenheit zu kommunizieren, denn nur im Akt des Vermittelns, der Weitergabe dieser inneren, einmaligen Welt, bleibt die Welt eine offene:

Das Letzte, was Herr Geiser noch vernommen hat, sind schlimme Nachrichten gewesen, wie meistens, von Attentat bis Arbeitslosigkeit; dann und wann der Rücktritt eines Ministers, aber eine Hoffnung, daß es heute gute Nachrichten wären, besteht eigentlich nicht; trotzdem ist man beruhigter, wenn man von Tag zu Tag weiß, daß die Welt weitergeht.

„Der Mensch erscheint im Holozän“ liest sich zu schnell, zu einfach weg und hat deshalb den Ruf erhalten, lediglich ein schnödes, unwichtiges Beiwerk aus Frischs Œuvre zu sein. Je kompilierender, fokussierter jedoch die Lektüre, desto klarer geht hier ein Erkenntnis- und ein Entwicklungsprozess vonstatten. Es gibt den Kosmos, das Außen – und das Außen hat ein Innen. Der Riss in der Steinwand erinnert Geiser an den Schlaganfall, den er bereits in sich spürt, die Angst, die Ausweglosigkeit, die sich in einem letzten Akt der Rebellion vollzieht. Herr Geiser gibt sich nicht geschlagen, auch wenn die Welt ohne ihn weitergeht, aber eben um ein paar Inkommunikabilitäten ärmer.

Inhalt: 4/5 Sterne (die letzten Tage eines Menschen)
Form: 4/5 Sterne (collagierte, reduzierte Diktion)
Komposition: 5/5 Sterne (konsequent personal erzählter Erschöpfungsprozess)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (eisig, kühle Stoizität)


Gaea Schoeters: „Trophäe“

Trophäe | Gaea Schoeters | Hanser

Auf der Jagd nach einer Logik des Tötens, die aber leer ausgeht. Ein literarischer Entfremdungsprozess.

Tabuthemen locken das Schreiben, wie das Licht die Motten anzieht. Sei’s die Pädophilie aus der Sicht eines Täters zu beschreiben wie in Vladimir Nabokovs „Lolita“. Sei’s den Holocaust aus Sicht der Täter zu beschreiben wie Jonathan Littell in „Die Wohlgesinnten“ oder das pure, wahllose Töten wie Bret Easton Ellis in „American Psycho“, um nur einige Beispiele zu nennen. Wie im letzteren Roman beschreibt nun Gaea Schoeters in „Trophäe“ einen von Gewalt und Sex besessenen Wallstreet-Mann namens John Hunter White, dessen Lebensinhalt sich um das Großwildjagen in Afrika und den Sex mit Frauen dreht:

Sein ganzer Körper sehnt den Moment herbei, in dem er genau wie Theodore Roosevelt vor über einem Jahrhundert Auge in Auge mit einem der gefährlichsten Tiere der Wildnis stehen wird, sich vollkommen darüber im Klaren, mit einer winzigen Bewegung seines Fingers das Leben des Kolosses beenden zu können, des letzten nahezu prähistorischen Wesens, und in dem Wissen, dass all diese Kraft folglich seinem Willen unterworfen ist. Denn nur er, Hunter, und niemand anderes, steht ganz oben in der Nahrungskette.

Die Großwildjagd als Tabuthema reicht indes nicht aus. Zwar will Hunter seine Big Five vollmachen und hierfür fehlt ihm noch das unter Naturschutz stehende Nashorn, als es aber zu Zwischenfällen kommt, die das zu verhindern drohen, lässt er sich von seinem Buddy zu den Big Six überreden, nämlich das eigene Morden mit dem Erschießen eines Menschen zu krönen. Das Hauptinteresse von Schoeters liegt in „Trophäe“ aber auf der ambivalenten Psychostruktur des Protagonisten, der sich zum Töten berufen fühlt, aber nur unter dem Deckmantel der Rechtmäßigkeit:

Genau aus solchen Gründen ist die Jagd eine Form des Artenschutzes, und deshalb ein artgerechter, ehrenhafter Sport, und das Wildern ein schreckliches Verbrechen. Der Gedanke, dass der Bodensatz der Gesellschaft sein Nashorn gleich mit einem Streifschuss umlegt, um ihm danach mit einem Beil zu Leibe zu rücken und die Hörner illegal zu verkaufen, treibt Hunter zur Weißglut. Er, er allein, hat das Recht, dieses Nashorn zu töten […]

Wenig überraschend lässt sich aber eine Psyche, die durch die halbe Welt reist, um Tiere und Menschen zu töten, und mit der eigenen Frau nur schlafen, aber nicht reden will, nicht wirklich ergiebig ergründen. Die verwendeten Superlative, Objektivierungen, Metaphern und Umschreibungen führen nicht in das Herz der Finsternis. Sie stammen allzu sehr von Kino-, Roman- und Comickonsum ab, wie Szenen vermeintlich großer Intensität des Textes illustrieren, bspw.:

Der Geruch des Todes. Obwohl der Junge noch atmet, riecht er schon nach dem Tod. Schockiert lässt Hunter ihn los und taumelt zurück. !Nqate sackt am Baum zusammen, der Kopf prallt kurz zurück, als er auf den Stamm trifft, das Geweih löst sich und rutscht schief herunter. Es hat etwas grauenhaft Komisches. Wie eine Figur aus einem Stummfilm, balancierend auf der Grenze zwischen grotesk und lustig, sitzt er da, schaut Hunter an und macht keinen Mucks.

Erzählerisch reißerisch, auf den Effekt hin komponiert, simuliert der Roman einen Tiefgang, den er nirgendwo ansatzweise sprachlich und argumentativ einlöst. Dieses Problem teilt „Trophäe“ mit vielen Romanen über Tabuthemen. Sie versuchen oft das Unmögliche, nämlich dem Grausamen, Ungeheuerlichen charakterlogische Plausibilität oder eine menschliche Stimme zu verleihen. Jene wäre aber eine sich kommunikativ verständigende Reflexion und gegenseitige Unterstützung, die in solchen Belangen wie das lusterfüllte Morden, Töten und Zerstören zumeist aber für die meisten versagt bleibt.

Hunter White bleibt so leer, plakativ, gewollt, klischiert wie seine Taten monströs. Ein einfacher, blutrünstiger Racheroman, in dem die Buschmänner die Wilderer und Jäger, die ihre Welt zerstören, jagen und töten hätte vollauf genügt.

Inhalt: 3/5 Sterne (teilweise spannende Jagdszenen)
Form: 1/5 Sterne (Phrasen und Werbesprache)
Komposition: 1/5 Sterne (unsichere, wabernde personale Erzählweise)
Leseerlebnis: 2/5 Sterne (flüssig, aber effekthascherisch)


Ernest Hemingway: „Der alte Mann und das Meer“

Der alte Mann und das Meer

Der Müdigkeit und Vergeblichkeit Widerstandskraft abgetrotzt. Zwischen dem tiefen Wasser und dem weiten Himmel viel Platz für Leben.

„Der alte Mann und das Meer“ erschien als letzter, zu Ernest Hemingways Lebzeiten publizierter narrativer Text im Jahr 1952. Die Erzählung pendelt zwischen Roman und Novelle, besitzt aber weder die Länge von jenem, noch den überraschenden Twist, also die seltsame, unerhörte Begebenheit von dieser. Hemingways Erzählung behandelt eher sogar das uralte Thema der Erschöpfung, und wie geradezu mystisch, die Naturelemente dazu beitragen können, dass das Leben immer wieder neue Wege findet, sich selbst zu befeuern:

Nun wurde der Fisch lebendig, als er den Tod in sich spürte, und sprang hoch aus dem Wasser empor und zeigte seine ungeheure Länge und Breite und seine ganze Macht und Schönheit. Er schien über dem alten Mann in dem Boot in der Luft zu hängen. Dann fiel er krachend ins Wasser, so daß Schaum über den alten Mann und über das ganze Boot spritzte.

Der alte Mann, der seit 80 Tage ohne Fang ist, heißt Santiago, und sein bester Freund, ein Junge, heißt Manolin. Die Namen werden vom auktorialen Erzähler erst genannt, wenn der alte Mann und sein bester Freund bereits in einem klaren Zusammenhang stehen. Dies zeigt, dass Hemingway der Zusammenklang, die Wechselwirkung, das Miteinander der Worte wichtiger als die pure Benennung sind; und in der Tat spielt „Der alte Mann und das Meer“ mit ineinander übergehenden Kreisen der Empathie und des Kampfes. Beides mag sogar zeitgleich stattfinden, im Respekt, in der Trauer, in aller Ehrlichkeit, Bejahung und reflektorischer Durchschreitung:

Dann tat ihm der große Fisch, der nichts zu fressen hatte, leid, aber sein Entschluß, ihn zu töten, wurde durch sein Mitgefühl für ihn nicht geschwächt. Wie vielen Menschen wird er als Nahrung dienen, dachte er. Aber sind sie’s wert, ihn zu essen? Nein, natürlich nicht. Es gibt niemand, der’s wert ist, ihn zu essen, wenn man die Art seines Verhaltens und seine ungeheure Würde bedenkt.

„Der alte Mann und das Meer“ romantisiert die Natur nicht, auch nicht das Jagen. Es gibt Szenen der Ruhe, der Freundlichkeit, und Szenen, in denen sich das Fressen und Gefressen-Werden in aller Rohheit zeigt. Zwischen dem Hunger und der Armut, der Schwäche und dem Alter bleiben dem Fischer Santiago aber noch alle Wege offen, denn er weiß:

»Aber der Mensch darf nicht aufgeben«, sagte er. »Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben.« Es tut mir aber doch leid, daß ich den Fisch getötet habe, dachte er.

Tragödien müssen seit vielen Jahrhunderten nicht mehr in epischer Form gestaltet werden. Hier, in seiner kargen, einfachen nüchternen Erzählweise schließt Hemingway bspw. an Sophokles‘ „Antigone“ an, zwei Prinzipien, die gegeneinander und doch auch miteinander stehen: Fürsorge und Überlebenskampf. All dies geschieht im inneren und äußeren Monolog, als Selbstgespräch, auf hoher See, wo die Sterne scheinen und die Sonne leuchten, und somit vom Fischer auch mit in das Geschehen hineingezogen werden. So übernimmt bei Hemingway die natürliche Umgebung die Rolle des antiken Chors und führt auch so in ein gesteigertes Naturbewusstsein hinein.

Der alte Mann und das Meer“ lotet, vor diesem Hintergrund gesehen, ein kosmisches Geschehen aus, lässt sich auf die Einfachheit eines Daseins ein, das nichts mehr zu verlieren hat, sich nicht mehr zu verkleiden braucht. In der äußersten Betroffenheit schwingt so mit jedem Wort Respekt und Wohlwollen allem Lebendigen gegenüber mit. Literatur als Kommunikation mit allen und jeden, die ihr Herz vor dem Gespräch nicht verschließen wollen.

Inhalt: 5/5 Sterne (einsamer Überlebenskampf auf hoher See)
Form: 5/5 Sterne (erzählerisch schnörkellose Sprache)
Komposition: 5/5 Sterne (stoisch-intensives Panorama)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (Lebensmut fördernd)


Heinrich Mann: „Professor Unrat“

Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen von Heinrich Mann  (kartoniertes Buch) | Buchhandlung Stephanus

Eine biedere Doktor Faustus- und Sugar-Daddy-Geschichte. Eine Künstlerin lockt den Studienrat in Weltuntergangsphantasien. Züchtige, in Zaum gehaltene Dekadenzliteratur.

Was für Tonio Schachingers „Echtzeitalter“ der Dolinar ist, ist in Heinrich Manns „Professor Unrat“, das direkte Vorbild für Schachingers Roman, der strenge und stadtweit gefürchtete Gymnasiallehrer Raat. Wie der Dolinar so unterrichtet auch Raat Literatur. Jagt der Dolinar die, die schulschwänzen und rauchen, so Raat die, die ihn hinter vorgehaltener Hand Unrat nennen. Beide halten von ihren Schutzbefohlenen nicht viel, insbesondere Raat treibt nur ein Ziel um, sich an allen zu rächen, die sich über ihn lustig machen:

Es war ein guter Tag, an dem er einen »gefaßt« hatte, besonders wenn es einer war, der ihm »seinen Namen« gegeben hatte. Dadurch ward das ganze Jahr gut. Leider hatte er schon seit zwei Jahren keinen der heimtückischen Schreier mehr »fassen« können. Das waren schlechte Jahre gewesen. Ein Jahr war gut oder schlecht, je nachdem Unrat einige »faßte« oder ihnen »nichts beweisen« konnte.

„Fassen“, das in abgewandelter Form fast 80 mal in dem Text vorkommt, darin besteht zunächst der traurige Lebensinhalt des altgewordenen und verwitweten Lehrers, der auch mit seinem Sohn gebrochen hat, nachdem dieser einmal zu oft durch sein Beamtenexamen gefallen ist und sich darüber hinaus sogar mit leichten Mädchen in der Stadt gezeigt hat. Heinrich Manns „Professor Unrat“ zeichnet nur den aufhaltsamen Fall des Studienrates, vom gefürchteten Lehrer zur persona non grata in drei Akten nach: Von „Raath“ über „Unrat“ zu „Unratchen“. Der erste Akt besteht im Kennenlernen der Barfußtänzerin Rosa Fröhlich im Lokal der Blauen Engel. Der zweite Akt umfasst Raats rückhaltloses Verlieben in sie, für die er schließlich alles aufgibt, sein Geld, seinen Job und auch seinen Ruf. Im dritten Akt nun geht die Eifersucht mit ihm durch, und er lässt sich zu einer Straftat hinreißen:

Unrat warf sich herum, nach dem Wort, das nun kein Siegeskranz mehr war, sondern wieder ein ihm nachfliegendes Stück Schmutz – und erkannte Kieselack. Er schüttelte die Faust, er schnappte, den Hals vorgestreckt, in die Luft: aber Herrn Dröges [Wasser-]Strahl prallte ihm grade in den Mund. Er sprudelte Wasser, empfing von hinten einen Stoß, stolperte das Trittbrett hinan und gelangte kopfüber auf das Polster neben der Künstlerin Fröhlich und ins Dunkel.

Heinrich Mann schreibt ungelenk, hält bewusst sein Publikum im Unklaren, verquast die Sätze und setzt viele Wörter, die nicht dem Normsprachgebrauch entsprechen andauernd in Anführungszeichen, um den auktorialen Erzähler wohl gegen den Vorwurf der Banausensprache zu schützen. Gestelzt, mit zu vielen Prädikationen, manieriert und stets mit rückgestellter Objekt-Prädikat-Subjekt-Konstruktionen nimmt der teilweise skizzenhafte Roman erst im zweiten Drittel Fahrt auf, bis dann ihm dann aber leider kurz vor Schluss wieder die Luft ausgeht:

Immerhin ist die Sittlichkeit von Vorteil für den, der, sie nicht besitzend, über die, welche ihrer nicht entraten können, leicht die Herrschaft erlangt. Es ließe sich sogar behaupten und nachweisen, daß von den Untertanenseelen die sogenannte Sittlichkeit strenge zu fordern sei. Diese Forderung hat mich indes – aufgemerkt nun also! – niemals dazu verleitet, zu verkennen, daß es andere Lebenskreise geben mag mit Sittengeboten, die von denen des gemeinen Philisters sich wesentlich unterscheiden.

Biederer lässt sich Friedrich Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“ nicht zusammen und beschreiben. Thomas Mann fand eindringlichere Worte, selbst in seinem „Felix Krull“ und schon gar erst in „Doktor Faustus“. Insgesamt vollendet Heinrich Manns jüngere Bruder diese Vorstellung der Lust des bürgerlichen Sittenverfalls schon avant la lettre mit seinem Frühwerk „Buddenbrooks“, das 1901 oder vier Jahre vor „Professor Unrat“ erschien. Heinz Strunk modernisiert diese Geschichte gekonnt mit „Ein Sommer in Niendorf“, womit es dann kaum noch Gründe für diese sehr altbackende Tour-de-Force durch eine Kleinstadt gibt, die kein anderes Amüsement besitzt, als einem Lehrer namens Raat „Unrat“ hinterherzurufen.

Inhalt: 2/5 Sterne (kaum nachvollziehbare Romanze)
Form: 1/5 Sterne (hakeliger, gestelzter, schwammiger Stil)
Komposition: 2/5 Sterne (linear, chronologisch erzählt)
Leseerlebnis: 2/5 Sterne (zu skizzenhaft und altbacken)


Gabriel García Márquez: „Wir sehen uns im August“

Wir sehen uns im August

Die Reichen und Schönen unter sich. Eine Telenovela in Kurzform.

Gabriel García Márquez skizziert in dem wenig umfänglichen Roman „Wir sehen uns im August“ die Suche Ana Magdalena Bachs nach Romantik, Intensität und Sinnlichkeitserfüllung. Die Protagonistin fährt einmal pro Jahr auf eine Insel in die Karibik, wo ihre Mutter begraben liegt. Dorthin bringt sie ein Strauß Gladiolen, gedenkt ihrer Mutter, verbringt eine Nacht in einem Hotel und fährt zurück in ihr vermeintlich glückliches Leben mit Ehemann, Tochter und Sohn. Doch dann geschieht etwas Unvorhergesehenes:

Es hatte zwei Uhr geschlagen, als ein Donner das Haus bis ins Fundament erschütterte und der Wind den Riegel des Fensters aufdrückte. Schnell schloss sie es wieder, und im plötzlichen Mittagslicht eines weiteren Blitzes sah sie die aufgewühlte Lagune und, durch den Regen hindurch, den riesigen Mond am Horizont und die blauen Reiher atemlos im Sturm flattern. Er schlief.

Und der, der dort schläft, ist ein Unbekannter. Fast aus dem Unbewussten heraus begeht sie einen Seitensprung. Sie erlebte eine erfüllte Liebesnacht. Der Unbekannte verschwindet. Sie träumt weiter, hin und her gerissen, und ein Jahr später fährt sie wieder auf die Insel, setzt ihr Ritual fort und vermag nicht anders, als dem Wunsch nach Wiederholung des Abenteuers nachzugeben, und wieder geschieht etwas Überraschendes:

»Sie kleiden das Kleid.« Der Satz beeindruckte sie. Unbewusst fuhr sie sich mit den Handflächen über den Körper, den makellosen Ausschnitt, die lebendigen Brüste, die nackten Arme, um sich zu vergewissern, dass ihr Körper wirklich da war, wo sie ihn spürte. Dann schaute sie erneut über die Schulter, nun nicht mehr, um den Besitzer der Stimme kennenzulernen, sondern um ihn mit den schönsten Augen, die er je sehen sollte, in Besitz zu nehmen.

Die Diktion von Gabriel García Márquez lässt überraschende Vokabeln zu, erzeugt eine atmosphärische Stimmung von Wiedersehen und Abschied und lässt vor dem inneren Auge den Nimbus eines Geheimnis um die Insel, die Veränderungen, um das Leben in maritalen Architekturen, die zu Entfremdungen führen, entstehen.

Auffällig, und etwas störend, durchziehen den Text viele Zitate, die nur in einem gewollt-allegorischen Zusammenhang mit der Erzählung in Verbindung gebracht werden können. Da wären bspw. die Bücher, die die Protagonistin liest: Bram Stokers „Dracula“, Daniel Defoes „Die Pest zu London“, Graham Greenes „Das Ministerium der Angst“, „Die Mars-Chroniken“ von Ray Bradbury, nur um nur einige zu nennen. Desweiteren werden viele Musikstücke des typischen Klassik-Kanons genannt, vom plakativen Namen der Protagonistin einmal ganz abgesehen, um eine heile Welt der Oberfläche zu illustrieren, die untergründig durch sinnliche Lust untergraben wird.

Sie staunte über die Könnerschaft eines Salonmagiers, mit der er sie Stück für Stück entblößte, als häute er eine Zwiebel, während seine Fingerspitzen sie kaum berührten. Bei dem ersten Stoß glaubte sie vor Schmerz zu vergehen und erfuhr die schreckliche Erschütterung einer Färse, die zerlegt wird.

Der Roman verdichtet das schlechte Gewissen eine Spur zu stark. Die Szenen erscheinen fragmentarisch, die Situationen nur angedeutet, die Figuren verlieren, bis auf Ana Magdalena Bach selbst jede Kontur. Insbesondere das Ende fällt abrupt in den Leseprozess und markiert also, was Gabriel García Márquez dem Vorwort zu entnehmen, selbst empfand, „Wir sehen uns im August“ ist ein Fragment. Wer die Thematik aus einem ähnlichen Horizont bearbeitet lesen möchte, erhält mit Fernando Namoras „Os Clandestinos“ („Im Verborgenen“) nachhaltigere Kost.

„Wir sehen uns im August“ bleibt eine Skizze eines Romans, der, vielleicht leider, nie das Licht der Welt erblicken durfte.

Inhalt: 1/5 Sterne (allegorische Telenovela)
Form: 4/5 Sterne (atmosphärische Beschreibungen)
Komposition: 2/5 Sterne (nur ein Erzählrumpf)
Leseerlebnis: 2/5 Sterne (zu kurz, um zu wirken)

———————
Update: Ich ändere nach Diskussion und eingehendere Analyse meine Bewertung der
Komposition: auf 4/5 Sterne (Crescendo einer Aufgabe). García Márquez hat textgestalterisch eindeutig einen Plan der Fortschrittskritik angelegt, der mir erst im Nachhinein klar geworden ist. Daher nun: 3 Sterne. Größte Schwäche bleiben für mich die unverknüpften Allegorien und Anspielungen, die ornamentaler Zierat sind und dem Text selbst nichts als losen Verbundschmuch hinzufügen, bspw. der Bezug auf klassische Musik und Literatur.


Rüdiger Safranski: „Romantik. Eine deutsche Affäre“

Romantik: Eine deutsche Affäre : Safranski, Rüdiger: Amazon.de: Bücher

Informative, schwungvolle Einführung in die Epoche, mit etwas schnödem kulturkritischen Nachhall.

Safranskis Sachbuch über die Romantik als Epoche und die Romantik als philosophischer Gestus erfüllt viele Kriterien, um den Beschreibungen und Urteilen, ja Engführungen Plausibilität zu verleihen. In anderen Übersichtsbüchern fehlt es oft an Quellenrecherche, an Belegen, an Originalzitaten und deren Zusammenstellung. Nicht so bei Safranski. Kaum eine Seite in seinem vierhundert Seiten langen Buch, das nicht Zitate miteinander in Verbindung bringt und so Leben der angestaubt wirkenden Zeitgeschichte einflößt:

Fichte weiß, dass Menschen bisweilen schon tot sein können, ohne es zu merken. Solche wird er nicht erreichen: ‚Ein von Natur oder durch Geistesknechtschaft, gelehrten Luxus und Eitelkeit erschlaffter und gekrümmter Charakter wird sich nie zum Idealismus erheben.‘

Safranskis Sachbuch unterteilt sich in zwei Teile (Buch eins und zwei). Das erste Buch betreibt detailtreue Quellenanalyse, um die Epoche der Romantik zu beschreiben (1795-1835). Hier kommen Ludwig Tieck, Friedrich Schlegel, Novalis, Friedrich Hölderlin, E.T.A. Hoffmann und Joseph von Eichendorff, Friedrich Schleiermacher und viele mehr zu Wort. Die Romantik selbst zeichnet sich dadurch aus, dass sie dem Alltäglichen wieder das Ungewöhnliche abringen möchte. Safranski zitiert Novalis:

Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.

Goethe und andere beargwöhnen dieses Vorhaben. Friedrich Schiller bleibt auf fröhlich, aber wohlgesonnene Distanz. Kopfnüsse hagelt es hingegen aus Hegels Richtung. Das erste Buch lässt aber die Vielzahl der Autoren, der Wünsche, der Hoffnungen, der Ängste und Träume, der Vorhaben und Niederlagen selbst zu Wort gewonnen. Auf engstem Raum erweckt Safranski die Epoche wieder durch ein polyphones Literaturkabinett zum Leben. Das zweite Buch hingegen, das vom Romantischen als Gestus handelt, betreibt nur noch freundliche, aber schnöde Zeitgeschichte und Kulturkritik:

Das Romantische gehört zu einer lebendigen Kultur, romantische Politik aber ist gefährlich. Für die Romantik, die eine Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln ist, gilt dasselbe wie für die Religion: Sie muss der Versuchung widerstehen, nach der politischen Macht zu greifen. Phantasie an die Macht! – das war wohl doch keine so gute Idee.

Hier schlägt das Feuilletonherz hoch, aber die Begrifflichkeiten taumeln ins Nichtsagende. Die Religion existiert nicht als Akteur, genauso wenig wie die Politik oder die Kultur. Es gibt Diskurse, Entscheidungen, Verantwortlichkeiten und Verdrängungen, aber stets gibt es symbolische Ordnungen, die sich individuell beleben und widerstreiten. Safranski lässt im zweiten Teil des Buches viele Federn, mit welchem er sich im ersten noch zu schmücken wusste. Nichtsdestotrotz belebt es, obgleich überverdichtet und hier und da in etwas allzu groben Zügen, das Geschichtsbewusstsein und dies zumeist ohne großväterlichen oder deutungshoheitlichen Ton anzuschlagen:

Der romantische Geist ist vielgestaltig, musikalisch, versuchend und versucherisch, er liebt die Ferne der Zukunft und der Vergangenheit, die Überraschungen im Alltäglichen, die Extreme, das Unbewusste, den Traum, den Wahnsinn, die Labyrinthe der Reflexion.

Hier schreibt also jemand über etwas, das ihm am Herzen liegt, und so liest es sich dann auch. Ich kenne kein informativeres Buch über diese Epoche.

Inhalt: 4/5 Sterne (informativ und übersichtlich)
Form: 3/5 Sterne (angenehm, unphraseologische Sprache)
Komposition: 2/5 Sterne (chronologisch)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (romantische Enzyklopädie)


Omri Boehm, Daniel Kehlmann: „Der bestirnte Himmel über mir“

Der bestirnte Himmel über mir

Brainstorming über Kant. Im Schweinsgalopp über die Tiefen und Untiefen eines Denkens hinweg.

Im Kant-Jahr, am 22.4.2024 wird der 300. Geburtstag gefeiert, gibt es viele Einführungs- und Festschriften, sogenannte Liber Amircorum, worin eben schon die Freundschaft selbst anklingt, die sich Omri Boehm und Daniel Kehlmann festlich mit ihrem Buch über Kant „Der bestirnte Himmel über mir“ gegenseitig bestätigen. Da es sich selbst als „Ein Gespräch über Kant“ ausweist, lassen sich folgende Dialog Fetzen erklären:

Boehm: Aufzuwachsen ist nicht etwas, das auf natürliche Weise oder in Übereinstimmung mit der Natur geschieht …
Kehlmann: Gegen die Natur sogar!
Boehm: Anders als bei Tieren ist das Heranreifen eines Menschen eine Leistung, die von uns abhängt – sie fällt in unsere Verantwortung. Das ist der Schlüssel zur Idee der Aufklärung. Im Unterschied zu Tieren, die von Natur aus nicht anders können, als reif zu werden – es sei denn, sie werden durch äußere Umstände daran gehindert –, ist Reife für uns kein natürlicher Zustand.

Selbstredend fällt und steht hier alles damit, was Reife, Aufwachsen, was ein natürlicher Zustand ist oder sein könnte. Wo beginnt „das Tier“, wo fängt „der Mensch“ an, etc… Mit solchen Kleinigkeiten wollen sich die beiden jedoch nicht beschäftigen. Ihnen geht es nur darum in groben und langen Schritten durch das Gesamtwerk von Immanuel Kants drei Kritiken zu hoppeln, wobei von vorneherein feststeht:

Kehlmann: Wir sind der Natur unterworfen, und zugleich sind wir ihr unendlich überlegen. Das Meer kann uns physisch töten, aber moralisch kann es uns nichts anhaben. Und diesem Meer, so würde ich sagen, entspricht der alternde Körper.

Die Quintessenz des Buches besteht darin zu betonen, dass sich Kant in Ambivalenzen und Paradoxien zu denken traut und dass diese Art zu denken, gegen sich selbst, gegen die eigene Voreingenommenheit leichter fällt, wenn dezidierte Denkschemata eingehalten werden (so Boehm, Kehlmann nickt). Neben den Amphibolien der Reflexionsbegriffe gesellt sich da schnell der kategorische Imperativ hinzu, der wie das Ding an sich und die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht Widerspruch, Diskrepanzen und Uneinigkeit provoziert, also konstruktiv Verwirrung stiftet. Sie bestehen darauf, dass es in der Philosophie um das bedingungslose Befragen aller Dinge gehe:

Boehm: Was verrät uns der kategorische Imperativ über unsere Intuitionen? Diese Frage wäre der Hauptgewinn, denke ich, und kein geringer, wenn wir in unserer Kultur vorgegebener Intuitionen, in der die eigentliche Gefahr darin besteht, dass die Philosophie nur noch vorgegebene Antworten bereithält, die Tür zur Philosophie damit wieder einen Spalt weit öffnen könnten.

So wird aus Immanuel Kants Philosophie ein Stichwortgeber, eine Art Souffleuse, die dem müden Denken neue Denkanstöße gibt und zwar durch rigide Formelhaftigkeit. Wie weit diese Schemata und Formeln etwas taugen, wie sehr sie im Grunde die Welt erschließen, das steht nicht im Vordergrund. Hier hätte ein rigoroserer Versuch getaugt, im Vergleich zu anderen Denkschemata die Beschreibungsmächtigkeit von Kants Gedankenarchitekturen hervorzukehren. Pustekuchen.

Omri Boehm und Kehlmann führen nun einmal ein Gespräch, nicht auf Augenhöhe, aber mit stets bezeugter, fröhlicher, ja dynamischer Sympathie füreinander. Die beiden mögen sich (zumindest auf dem Papier). Von Kant bleibt nicht viel übrig. Zwei Freunde gehen zum Fußball und zitieren ein wenig Philosophie und stellen fest, sie beide mögen Kant – ein guter Grund sich zu verbrüdern. Warum nicht? Es war ja meine eigene Schuld, mich zu ihnen zu setzen und ihnen auch noch zuzuhören, wie sie sich schulterklopfend bestätigen, dass der alte Kant im Vergleich zum ollen Baruch de Spinoza zwar noch die Nase vorn habe, aber die Sache mit den synthetischen Urteilen a priori gar nicht mehr so zeitgemäß sei und wir eigentlich nur noch alle versuchen müssten, bessere Menschen zu sein und zu werden, um Kants Denken gerecht zu werden, und das sei’s ja halt im Grunde irgendwie vom Gehalt der kritischen Schriften her schon. Na Prost!

Inhalt: 1/5 Sterne (freundschaftstrunkenes Zuprosten)
Form: 2/5 Sterne (etwas peinliche Dialogform)
Komposition: 1/5 Sterne (Abklappern von Allgemeinplätzen)
Leseerlebnis: 2/5 Sterne (Nebenherlesen)


Émile Zola: „Der Totschläger“

Der Totschläger

Hingebungsvoll die Rolltreppe abwärts nachgezeichnet. Der tiefe Fall einer tapferen, hemdsärmeligen Frau.

Nach „Die Bestie im Menschen“ mein zweiter Émile Zola-Roman aus dem Rougon-Macquart-Zyklus. Trumpfte Zola schon in seiner „Bestie“ mit graphischen Details aus, die den gier- und geltungssuchtbesessenen Mord und Totschlag auf einer Eisenbahnlinie nachzeichnen, so konzentriert er sich in „Der Totschläger“, der Name einer Pariser Kneipe, auf das Leben in prekären Verhältnissen auf der Rue de la Goutte d’Or – Straße des goldenen Tropfen. „Der goldene Tropfen“ bezeichnet zynischerweise den Alkohol wie auch die Suche und Hoffnung auf Reichtum oder Wohlstand, oder zumindest Sicherheit, denn die Hauptfigur des dramatisch-tragischen Romanes, Gervaise Macquart, wünscht sich im Grunde nicht viel:

»Mein Gott, ich bin nicht ehrgeizig, ich verlange nicht viel für mich … Mein Ideal wäre es, ruhige Arbeit, immer Brot haben, ein sauberes Loch zum Schlafen, wissen Sie, ein Bett, ein Tisch und zwei Stühle, nicht mehr … Ach, ich würde auch meine zwei Kinder gut erziehen, gute Menschen daraus machen, wenn es möglich wäre … Und noch ein Ideal hätte ich, das ist, nicht geschlagen zu werden, wenn ich mich je wieder mit jemandem zusammentäte; nein, das würde mir nicht passen, geschlagen zu werden … Das, sehen Sie, das ist alles, ist alles …«

Von hier beginnt Zolas Rührstück, fast prototypische Aufklärungsschrift gegen den Alkohol, vor allem, gegen den Schnaps. Gervaise jedenfalls wehrt sich tapfer. Ihr Fehler besteht darin, nicht Nein sagen zu können. Sie will nicht alleine sein und füttert deshalb Männer durch, die sich auf ihren Rücken ausruhen, allen voran Auguste Lantier, der als Bösewicht in der Tragödie fungiert, und es durch sein Aussehen und seine Redeweise schafft, die Frauen für sich einzunehmen. Dem einzige Mann, der ihr beisteht, Goujet, verwehrt sie sich aus Treue ihrer kaputten Ehe gegenüber. Gervaise hält das soziale System so lange und so gut zusammen, wie es nur geht, doch alles geht unweigerlich in die Brüche:

Hinter ihr aber arbeitete die Schnapsmaschine wie das Murmeln eines Baches immer weiter; sie verzweifelte daran, sie anzuhalten und auszuschöpfen, ein dumpfer Zorn erfüllte sie gegen die Maschine, sie hatte die größte Lust, wie auf ein wildes Tier auf sie loszustürzen und ihr den Bauch mit Fußtritten zu bearbeiten. Alles ging ihr wirr durcheinander im Kopf, sie sah, wie die Maschine sich bewegte, und fühlte, wie ihre Kupferarme sie ergriffen, während der Bach jetzt mitten durch ihren Körper zu fließen schien.

Émile Zola beeindruckt im „Der Totschläger“ durch einen mechanistisch getriebenen Fatalismus dem technologischen Fortschritt gegenüber, der einerseits die arbeitende Bevölkerung von harter und schwerer Arbeit entlastet, andererseits aber sie auch überflüssig werden und mit Schnaps sich selbst töten lässt. Die Schmiede- und die Schnapsmaschine stellen eine dialektische Einheit des Tötungsgetriebes dar, gegen die die ankämpfenden Massen irgendwann kleinbeigeben müssen. Sie werden entlassen und ersäufen, in Armut vegetierend, ihren Frust im Schnaps.

Als aber der Winter kam, wurde das Leben bei den Coupeaus unerträglich. Jeden Abend bekam Nana Schläge. War der Vater müde vom Schlagen, nörgelte die Mutter an ihr herum, um ihr ein gutes Betragen beizubringen. Oft gerieten alle durcheinander, wenn einer losschlug und der andere sie wieder verteidigte, so daß sich oft alle drei mit den Scherben des zerschlagenen Geschirrs am Boden wälzten. Bei alledem war die Nahrung so knapp und man klapperte vor Kälte.

Sprachlich, kompositorisch gibt es an diesem abgerundeten, klar konzipierten Roman von Zola nichts zu bemängeln. Inhaltlich schrammt er knapp an Voyeurismus vorbei, hält aber bei aller Qual Gervaise klar die Treue. So liest sich der Roman als Tortur, als Rosskur, als einhämmerndes, brutales Dokument vom Elend und der vergeblichen Tapferkeit von Frauen wie Gervaise und Lalie.

Kein Lesespaß, nicht eine Zeile, aber verbindliche Intensität bis zum Schluss, bis hin zu traumatischen Ereignissen, die ich lieber nicht und nie gelesen hätte (Stichwort: Lalie). Zolas Roman „Der Totschläger“ hinterlässt Tränen und Wunden, die nicht heilen, nur ignoriert werden können.

Inhalt: 5/5 Sterne (detailreiche Welt von den Armen in Paris)
Form: 5/5 Sterne (naturalistisch-klarer, intensiver Stil)
Komposition: 5/5 Sterne (mechanistisch-zermalmendes Räderwerk)
Leseerlebnis: 0/5 Sterne (atemloses Leiden – keine Wertung)


Bodo Kirchhoff: „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“

Seit er sein Leben mit einem Tier teilt

Dem Tode nochmal von der Schippe gehüpft, oder wie jemand nach dem letzten Strohhalm greift und nicht daneben. Schaurig-kitschig verstörendes Lehrstück.

Selbstzerfleischende männliche Protagonisten kennt die Gegenwartsliteratur zuhauf: Michel Houellebeq in „Vernichten“; Heinz Strunk in „Ein Sommer in Niendorf“; Emmanuel Carrère in „Yoga“. Bodo Kirchhoffs „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“ schlägt in dieselbe Kerbe:

„[…] um sein Bereuen für neue Fragen zu nutzen, führt dazu, dass er Zeit braucht für eine Antwort, erst seinen Atem regulieren muss, um nicht zu schnaufen nach jedem Wort. Ich glaube, in meiner Nähe fühlt man die Möglichkeit des eigenen Scheiterns, sagt er nach einer Weile. Und zieht sich entweder bald zurück oder rennt dagegen an.“

Rahmenhandlung: Louis Arthur Schongauer lebt nach seiner Karriere als Nebendarsteller, zumeist als Nazi in Hollywoodfilmen, in einem beschaulichen Haus in Italien, verwitwet, nachdem seine Frau Magda, berühmte Fotografin, beim Schwimmen im Meer ums Leben gekommen ist. Eines Tages erreicht ihn die Anfrage von Almut, einer Journalistin, die über ihn ein Porträt verfassen will. Wie es der Zufall so möchte, verreckt auf seinem Grundstück am Tag von Almuts Besuch das Wohnmobil einer jungen Reisebloggerin, deren Mutter Lilly, eine Talkshow-Masterin, bald auch noch dazustößt. Schongauers junge Hündin Ascha weiß plötzlich kaum noch ein und aus und hängt sich an die Reisebloggerin, während Schongauer sich nach und nach seinen romantischen Gefühlen zu Almut hingibt:

Alles ist vorläufig, man glaubt nur lange, es sei anders. Auch der Stent, den er voriges Jahr bekam, ist nicht der Weisheit letzter Schluss, nur ein Plastikröhrchen, das für eine Weile das Schlimmste verhindert. Almut könnte seine Tochter sein, aber er stellt sich vor, dass auch er sie verrückt macht, womit, das bleibt fraglich. Was weiß er schon über Frauen und die Liebe, was weiß er überhaupt  – der Pizzicollo ist genau tausendfünfhundert Meter hoch. Der See ist dreihundertfünfundvierzig Meter tief. Er wird morgen fünfundsiebzig.

Schongauers Herz schlägt schwer. Die Schritte schmerzen und seine Einsamkeit auch. Wortkarg wie sein Nebendarsteller-Dasein gibt er Almut kaum etwas an die Hand. Er antwortet nicht. Er schafft es nicht, sich zu öffnen. Er bleibt, sexuell geladen, kommunikativ gehemmt und rudert um das eigene Begehren, bis es nur noch allzu offensichtlich wird. Sein Glück: Er sieht gut aus. Und noch mehr Glück: Almuts Ehe befindet sich in einer Krise. Ihr Ehemann schläft mit einer jüngeren, warum also, hofft Schongauer, sie nicht auch mit einem älteren?

Kirchhoffs Sprache „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“ bleibt durchweg zäh, widerborstig. Die ersten fünfzehn Kapiteln ziehen sich. Erst Lilly, die Talkshow-Masterin, bringt wirklich Schwung in die Abendgesellschaft. Sie trinkt zu viel, redet sich um Kopf und Kragen, aber lebt intensiv, offensiv, voller Sehnsucht und Selbstreflexion. Das beständige Schnaufen, Keuchen Schongauers deutet auf den drohenden Herzinfarkt hin. Doch je länger der Text gereicht, sich Schongauers Leben erschöpft, desto mehr kulminiert das Buch in eine kaum fassliche Intensität, die überraschenderweise selbst atemlos stimmt.

Wir sind allein, sagt sie, und etwas beruhigt sich in ihm, er könnte kaum angeben, was, nur dass sein Grauen vor dem Winter nachlässt, den er noch einmal erleben könnte, aber eigentlich vor dem, der er nachts im Winter ist, wenn er nach einem Körper greift, den es nicht gibt, und stattdessen sein Tier umarmt.

In „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“ geht es schlichtweg ums große Ganze, wo keine Lügen mehr helfen, kein schönes Nebendarsteller-Gesicht darüber hinwegtäuscht, dass da eine Leere und ein Nichts prangen, wo einst Leben gewesen ist. Schmerzhaft, brutal, radikal graben sich die Gedanken Schongauers in die Nichtwirklichkeit und den nahenden Tod, der ihn zu unvorhergesehenen Maßnahmen zwingt. In der Komposition, in der Dramaturgie schwer zu ertragen, nichtsdestotrotz überzeugend, ein Mahnmal, eine Warnung, ein Wink mit dem Zaunpfahl, Leben mit Leben, nicht mit Tod und Entschuldigungen zu begegnen. Heftig.

Inhalt: 2/5 Sterne (alter Mann sucht junge Frau)
Form: 3/5 Sterne  (stilistisch gehobene Standardsprache)
Komposition: 5/5 Sterne (Crescendo der Todesangst)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (nachhallendes Angst nebst lebensbejahendem Unbehagen)


Sophokles: „Antigone“

Antigone

Das vieldeutige Unbewusste gegen die verbriefte Autorität. Die antike Tragödie als Auseinandersetzung, wie weit das Wort und der Mythos noch zusammenhängt.

Sophokles‘ „Antigone“ lässt sich als politisches Theater lesen und wurde als solches auch, u.a. von Jean Anouilh und Bertolt Brecht, interpretiert. Friedrich Hölderlin und Simone Weil fügen der Tragödie jedoch eine metaphysische Spannung hinzu, die, so die Lektüreerwartung mehr als die Problematik des zivilen Ungehorsam behandelt und zum Thema erhebt. In des Sehers Teiresias Worten:

Dies nun, mein Sohn, bedenke! Denn den Menschen insgesamt gemeinsam ist das In-die-Irre-Gehen. Wenn einer aber in die Irre ging, ist der nicht länger ein gedankenloser oder glückverlassner Mann, der, falls ins Unglück er sich stürzte, Heilung sucht und sich nicht unbeugsam verhält. Nur Starrsinn macht des Unverstands sich schuldig.

Worum es nämlich in „Antigone“ hauptsächlich geht, inwieweit ein Gesetz trägt, das gesagt, verkündet, als Verkündung durchgesetzt werden muss, also sich gegen die Gewohnheit vergeht. Das, was einfach passieren darf, passiert. Die Beerdigung von Antigones Bruder Polyneikes wäre ein solcher Umstand gewesen. Nur, Kreon interveniert, um an Polyneikes ein Exempel zu statuieren. Die Macht muss nicht nur vorhanden, sie muss auch symbolisch unterfüttert werden, so Kreon:

Wer aber, übertretend, vergewaltigt das Gesetz oder Weisung der Regierung zu erteilen denkt, unmöglich kann der Lob von mir erlangen. Nein, wen die Stadt bestellt, auf diesen soll man hören im Kleinen und Gerechten und im Gegenteil.

Hier hebt die Tragödie an. Sie besitzt zwei Seiten: Antigones Ungehorsam gegen das Staatsoberhaupt Kreon, ihren Bruder doch zu beerdigen; und Kreons Hybris zu vermeinen, als Staatsoberhaupt wäre er das Gesetz. Sophokles lässt diesen Konflikt im Chor vermitteln:

Die Toten ehren, eine Art frommer Dienst ist’s, doch der Staatsmacht – wem immer die Staatsmacht obliegt – darf man keinesfalls trotzen. Dich aber hat dein eigenwilliges, heftiges Wesen vernichtet.

Nun kommt alles zusammen: Antigone geht fehl aus Ungeduld. Sie wird wegen „ihres heftigen Wesens“ vernichtet, also ihrer Ungeduld wegen. Die Mühlen der alten Gesetze mahlen langsamer. Am Ende ist Theben auf ihrer Seite, sie aber aus Trotz, hat sich bereits erhängt. Kreon vernichtet sich und seine Macht als Familienvater und Staatsoberhaupt seinerseits durch den Starrsinn, dass er das Gesetz ist und nicht nur repräsentiert. Sophokles mit hintergründigen Metaphern plädiert für das Nebulöse, in welchem allein die Gewalt ins Leere fährt:

Weitaus erste Bedingung des Glücks ist das vernünftige Denken; man darf die Sphäre der Götter niemals entheiligen; doch große Worte der über die Maßen Stolzen lehren, haben sie unter großen Schlägen gebüßt, im Alter vernünftiges Denken.

Große Worte wären hier Kreons leere Worte, aber auch Antigones leerer Stolz, indem sie ihren Tod zwar begrüßt, aber ohne zu berücksichtigen, dass mit ihr direkt mehrere in Mitleidenschaft gezogen werden (ihr Verlobter, die Mutter des Verlobten) und so das Gemeinwesen, das allein vor Gewalt schützt, in Gefahr gerät. All dies ohne zu psychologisieren, ohne auszuholen, ohne zu erklären. Sophokles erschafft mit wenigen Zeilen Charaktere, erzeugt mit dem raunenden Chor einen Kosmos und führt Ungeduld und Starrsinn als sicherer Weg ins Verderben vor Augen. Das Wort nämlich, das spürt Kreon am Ende, ist niemals Gesetz.   

Inhalt: 5/5 Sterne (das allgemein Sittliche gegen moralische Willkür)
Form: 5/5 Sterne  (das Zeitlich-Verbindliche im mahnenden Chor)
Komposition: 5/5 Sterne (äußerste Verdichtung des Konflikts)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (besänftigte Sinnabgründe)


Wolf Haas: „Eigentum“

Eigentum

Mit viel Empathie, dennoch der Trauer und dem Schock mit Flapsigkeit ausgewichen. Freundlich, doch etwas feige und zu kurz.

Wolf Haas, bekannt vor allem für seine Brenner-Krimis, zuletzt „Müll“, befeuert in „Eigentum“ das aufblühende autofiktionale Genre. Im harten, schnellen Präsenz schreibt er nicht über, sondern gegen den Tod und das Sterben, hier, von dem Tod von dem Tod der Mutter seines Ich-Erzählers, die er im Altenheim besucht und zu diesem Anlass ihr Leben Revue passieren lässt:

Aber ich hab keine Zeit. Ich will das hinschreiben, solange sie noch lebt, danach möchte ich mich nicht mehr damit beschäftigen. Das heißt, ich hab keine Zeit, ich muss es schnell hinschreiben, womöglich lebt sie nur noch ein paar Tage (tatsächlich nur noch zwei), dann möchte ich diese verdammten Geschichten auch endlich begraben, was geht es mich an, dass ein Mensch, den ich nicht gekannt habe, sein kleines Lechn immer wieder gegen ein größeres Lechn getauscht hat.

Auf sehr wenig Seiten, 160 an der Zahl, hetzt der Ich-Erzähler zwischen Friedhof, seines eigenen, ehemaligen Zuhauses, zwischen Kirche, Hotel und Altenheim, um noch die letzten Stunden mit seiner Mutter zu verbringen. Die Mutter, die zuerst ein wenig wie viele Mütter der 1920er Generation wirkt, erhält auf den Seiten zunehmend störrischen und anarchischen Charakter, der gegen das Dorf, gegen die Menschen, überhaupt, also, wie sie sagt, gegen ‚la gente‘ gerichtet ist:

Die Leute, das war die unüberschaubare Masse aller Menschen, die meiner Mutter etwas angetan hatte. La gente. (Ich lernte gerade Spanisch aus Angst vor dem geistigen Verfall, der einen angesichts des Elternsterbens erfasst. La gente. Die Leute als teuflischer Massensingular, als vielköpfiges Ungeheuer, das gefiel mir. La gente wollte ein Rad. Aber bezahlt hat la gente nicht.)

Intensiv und mitreißend aufersteht diese Mutter in „Eigentum“ von den Toten, denn dass sie stirbt, steht bereits von der ersten Seite an fest. In Vorbereitung auf eine Poetologie-Vorlesung entwickelt der Ich-Erzähler also eine Möglichkeit, implizit, durch Literatur und in der Literatur, Lebendiges über den Tod hinaus lebendig zu halten. Hier seine Mutter:

Da hab ich nie gewusst, soll ich Zivil anziehen oder soll ich die Uniform anziehen. Uniform wär halt eine Hose gewesen, gell. Da hab ich eine Hose gehabt. Wir haben Skihosen gehabt. Und so blousonartige Janker. Halt so aus grauem Loden. Waren aber ganz fesch. Und so eine Kappe, so eine Schirmmütze, wie sie es heute haben. Ja und dann bin ich gegangen bis Hinterthal hinaus und durch Hinterthal durch und dann hinaus bis zum Thunhäusl, und da bin ich dann einmal auf der Bank gesessen, weil ich schon so müde war.

Eigentum“ in seiner Verve und Fröhlichkeit, in dem nicht-endenden Erinnerungs- und Vergegenwärtigungsversuch zählt viele literarische Momente sein eigen, wo die Figuren aus dem Schatten treten und lebendig werden. Der direkte Dialog, als Ansprache, geht als literarisches Mittel auf. Leider bleibt „Eigentum“ eine Fingerübung. Es ist schlicht zu kurz. Es wiederholt das Wenige zu oft, und es gibt der mehr und mehr sich herauskristallisierenden Marianne Haas zu wenig Raum, viel zu wenig im Vergleich zu dem, den sie durch die widerborstige Art, mit der sie gelebt hat, verdiente, als dass „Eigentum“ rundweg überzeugend und abgerundet wäre. Sie stirbt. Das war’s, und da hilft auch kein lockerer Spruch.

Es ist kein Buch gegen den Tod wie Elias Canettis gleichnamiges Fragment. Es ist auch keines über die Trauer wie „Unzertrennlich“ vom Ehepaar Yalom. Es ist aber auch keine süffisante Abkanzlung wie Christian Krachts „Eurotrash“ vom Altwerden der Mutter. Wolf Haas „Eigentum“ sitzt zwischen allen Stühlen und hinterlässt so, den vielleicht nicht schlechtesten Eindruck, einfach zu hastig geschrieben worden, und deshalb zu kurz zu sein.

Inhalt: 4/5 Sterne (Lebensgeschichte einer dickköpfigen Frau)
Form: 2/5 Sterne  (unterhaltsamer Erinnerungs-Poetry-Slam)
Komposition: 2/5 Sterne (Strudel der Trauer, rhythmischer Wechsel)
Leseerlebnis: 3/5 Sterne (zu kurz, zu unverbindlich)


Herta Müller: „Der Fuchs war damals schon der Jäger“

Der Fuchs war damals schon der Jäger

Eine erstarrte Welt in parataktischen Bildern. Der halsstarrige Klang des Unentkommbaren – die Welt in Scherben als Dichtung.

Medusa wird laut antiken Sagen durch Perseus‘ List getötet. Statt ihr ins Angesicht zu schauen, was zu seiner sofortigen Versteinerung führen würde, blickt er sie nur über die spiegelnde Oberfläche seines Schildes an und enthauptet sie so. Herta Müller verfährt in „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ ähnlich. Statt in die Leere und Apathie ihrer Figuren zu schauen, psychologisch die Endzeit von Ceausescus Diktatur zu beleuchten, lässt sie sich auf die Widerspiegelung des Faktischen ein und raubt ihr so jeden Sinn- und Bedeutungsanspruch:

Und vor dem Einsteigen liefen die Frauen. Sie hatten früh morgens zerdrücktes Haar und fliegende Taschen, sie hielten Schweißflecken unterm Arm. Die waren oft getrocknet und hatten weiße Ränder. An den Fingern der Frauen fraß Maschinenöl und Rost den Nagellack. Schon beim Laufen zur Straßenbahn stand zwischen Kinn und den Augen die Müdigkeit der Fabrik.

Der Fuchs war damals schon der Jäger“ zeichnet vor allem das Leben von der Lehrerin Adina Ende der 1980er Jahre in Timișoara (Tmeswar) nach. Der Ex-Freund von ihr, Paul, arbeitet als Arzt in einem Krankenhaus, dichtet und singt systemkritische Lieder, und ihre beste Freundin Clara, Ingenieurin in einer Drahtfabrik, bandelt mit dem verheirateten Anwalt Pavel an, der sich als Securitate-Mitarbeiter herausstellt und u.a. Pauls Musikgruppe bespitzelt. Das Zentrum des Romans bildet also der Konflikt zwischen Clara und Adina, die ihrer besten Freundin nicht verzeihen kann, dass sich diese mit einem vom staatlichen Geheimdienst vergnügt, zumal Adina selbst ein Opfer der Überwachung ist:

Und der Fuchs, sagt Adina [zu Clara], hat [Pavel] dir gesagt, warum sie den Fuchs zerschneiden. Der fickt dich im Auftrag, er wollte uns beide, sagt sie, die eine im Sommer, die andre im Winter, der hat, wenn er morgens aufwacht, zwei Wünsche im Kopf wie zwei Augen – für Männer wird seine Faust hart, für Frauen sein Schwanz.

Im Laufe des Romans dringen immer wieder Geheimdienstleute in Adinas Wohnung ein und schlitzen dort ihrem Bettvorleger, einem Fuchspelz, nach und nach die Beine ab als Warnzeichen und hinterlassen in der benutzten Toilette noch Zigarettenstummel. Das Bedrohungsszenario kulminiert, bis Adina und Paul fliehen müssen:

Sie schieben das Auto in die Scheune. Liviu bedeckt es mit Stroh und stellt Säcke vor die Räder. Die weißen Gänseflügel leuchten durch die Bretterritze, sie schnattern, ihre Schnäbel klopfen ans Holz. Das Lamm [Livius Frau] steht im Nachthemd, barfuß in zu großen Schuhen auf der Treppe und leuchtet mit der Taschenlampe einen Kreis in die Scheune. Doch der Kreis kommt nicht an, er bleibt in einer Pfütze stehen, weil er sich im Wasser selber sieht.

Müller rekonstruiert keine Zeitgeschichte. Sie zieht keine Begründungsmuster heran. Sie gibt wieder. Sie lässt die Welt auf sich wirken, und die Welt, die ihr synästhetisch erscheint, zersplittert in Millionen winziger Details und Fetzen, die keine Tiefenschärfe mehr besitzen. Wie in einer Kollage bleibt alles zweidimensional. Hüte schieben sich vor die Fenster, Beine stehen quer, und eine Locke fällt losgelöst über den Rahmen. Die Sprache unterminiert jedwede Bedeutungserheischung. Grundlosigkeit als freier Fall in den sinnentleerten Raum.

Wie Elfriede Jelinek in bspw. „Die Kinder der Toten“, nur weniger explizit allegorisch und Zeitgeist kommentierend, wie Olga Tokarczuk in „Empusion“, nur weniger mystisch und naturverbunden, wie vor allem Brigitte Reimann in „Franziska Linkerhand“, nur weniger aufbruchsbereit und energie- und utopiebeladen, unterwandert Herta Müller in „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ die Ideologie mit dem Zerschlagen ihrer gestelzt-geschraubten faktischen Sprache. Keine Argumente, keine Erklärung, das Unterfangen gelingt irritierend: Die Welt in Scherben als Dichtung.

Inhalt: 5/5 Sterne (intensives Bedrohungsszenario)
Form: 5/5 Sterne  (Sprache nahe am Schmerzlaut)
Komposition: 3/5 Sterne (schnelle, harte Kollagen-Schnitt-Technik)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (atemloses Widerstehen und Fliehen)


Iris Wolff: „Lichtungen“

Lichtungen

Eine Retrospektive der Verluste. Ein Leben, das wartet, auf sich warten lässt und keine Erlösung findet. Zu einem passiven Protagonisten gesellt sich eine destruktive Erzählweise.

Iris Wolffs Roman „Lichtungen“ dreht sich alles um Heimat und Identität einer deutsch-rumänischen Familie in der Nähe Siebenbürgens. Die Hauptfigur, Lev oder Leonhard, wächst in einer Familie aus Halbgeschwistern auf. Lis, seine Mutter, heiratete Levs Vater, als dieser nach dem Tod seiner Frau drei Kinder, zwei Söhne, eine Tochter durchzubringen versucht. Doch zwischen den Familienmitgliedern herrscht keine Harmonie. Vor allem Lev fühlt sich als außenstehender:

Lev hatte keine Großmutter mütterlicherseits. Keinen Großvater väterlicherseits. Er hatte keinen Vater. Und wer ebenso fehlte, war Ferry. Er war in all den Jahren kaum zu Besuch gekommen.

Lichtungen“ erzählt Levs Leben rückwärts. Der Roman startet mit Kapitel neun, als Lev seine Freundin Kato in Zürich besucht, wo sie ein Leben als Straßenkünstlerin führt, sich von ihrem Partner Tom getrennt hat. Sie hat Lev eine Karte geschrieben, in der sie ihn fragt, wann er komme. Nach kurzem Zögern entschließt sich Lev seine Kindheits- und Jugendfreundin zu besuchen. Hiermit beginnt und endet das Buch. Was daraufhin folgt, ist eine Reise zurück zu den Anfängen, die erläutert, was Kato und Lev verbindet, woher sie stammen und welche Verluste sie erlitten haben. In neun Kapiteln erzählt insofern Wolff in „Lichtungen“, wie aus Levs Leben nach und nach wichtigen Menschen verschwinden, also emotional-aufgeladene Heideggersche Lichtungen entstehen.

In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich auch bemühte, es tauchte nie wieder auf. Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand. Die eindrücklichsten Momente, das, was sich nicht verlor, gehörte einem nie alleine. Die Angst gehörte einem alleine. Das Vergessen. Alles sonst, dachte Lev, bleibt nur durch andere gegenwärtig.

Lev, wie das Zitat zeigt, definiert sich nur durch das Außen, durch die Anderen, durch Zuspruch, Widerspruch, durch Anerkennung und Zurückweisung. Die narrative Reise in seine Vergangenheit bringt nur diese Passivität zutage. Lev lebt nicht für sich. Er lebt für andere, aber die anderen, als sei es sein Schicksal, verschwinden, entgleiten ihm. Er trägt schwer an diesen Verlusten, befreit sich nicht von dieser Schwere, und so nimmt es nicht wunder, dass er sich zu Kato flieht, sobald diese nach ihm wie nach einem Schoßhündchen pfeift. Auf sich allein gestellt, weiß er nun einmal nicht, was er mit sich anfangen soll:

Sie schüttete den Inhalt eines Bechers in Levs Wanne, und der Geruch von Lavendel, Rosmarin und etwas anderem stieg auf. Lev sank auf den Grund. So musste sich ein Tropfen fühlen, der sich in der Iza auflöste.

Zu verschwinden, in Harmonie aufgehen, sich auflösen, darin besteht das geheime Ziel von Lev. Ausgestoßen aus einer Heimat, die in sich zerstritten wie die Familie ist, weiß er keinen Weg zu sich heraus in die Welt. Er kehrt immer wieder zurück, und so am Ende auch mit Kato:

»Wir reisen gemeinsam zurück?«, vergewisserte er sich, als sie bei dem Land Rover am Parkdeck angekommen waren. So lange hatte er gebraucht, um seine Sprache wiederzufinden. Er wollte nicht zu früh glücklich sein. Er wollte sie nicht noch einmal verlieren. »Ja«, sagte Kato. Einfach nur: Ja. Das reichte ihm für den Moment.

In disharmonischer Uneinigkeit mit sich und der Welt zerbricht der Roman von Iris Wolff an einer zu schwachen Hauptfigur, die in schiefen Bildern eine Welt in den Scherben ihres Selbstbewusstseins sucht. Die Allegorien verfehlten ihr Ziel. Die Metaphern schießen ins Leere. Der bemühte Stil radebricht von einer Heimat, die keine sein will. Wolff schreibt stilsicherer als die meisten, doch über Stichworte, Skizzen, Reminiszenzen geht „Lichtungen“ trotz vermeintlich hintergründiger barocker Ornamentalik nicht hinaus. Schade.

Inhalt: 1/5 Sterne (stereotypes Coming-of-Age)
Form: 3/5 Sterne  (zielsicherer, aber gewollter Stil)
Komposition: 1/5 Sterne (unverbindliches Rückwärts-Erzählen)
Leseerlebnis: 1/5 Sterne (leeres, trauriges Evaneszieren)


Joseph Conrad: „Lord Jim“

Lord Jim

Über das Erzählen schlechthin, der Zauber und das Abenteuer des Unvollendeten in seiner vollen poetischen Kraft.

Joseph Conrad schreibt mit „Lord Jim“ einen Text, der bis an die Grenze des Sprachlichen geht, ja, die Weite und Tiefe des Erzählens, des Romans, der Literatur schlechthin auslotet. In sich stets steigernder, sich multiplizierender Multiperspektivität erhält ein schlichter See- und Abenteuerroman, der beinahe klischeebesetzte Plot über die Männlichkeit eines gescheiterten Seemannes, den Charakter eines antiken, Sophokleischen Chors, ein Raunen, das die Häfen, die Zeiten, die Räume der menschlichen Zivilisationen in jedem Ende und Winkel verbindet, denn er stellt angesichts des Verhängnisses, der Ananke, die folgende schmerzhafte Frage:

Ein großer Friede herrschte, als sei die Erde ein einziges Grab, und eine Weile stand ich da, in Gedanken an die Lebenden versunken, die an entlegenen, der Kenntnis der Menschheit entzogenen Orten begraben, dennoch dazu auserkoren sind, an deren tragischem und wunderlichem Geschick teilzunehmen. An ihrem edlen Ringen auch – wer weiß? Des Menschen Herz ist weit genug, um die ganze Welt einzuschließen. Es ist tapfer genug, die Bürde zu tragen, aber, wo findet sich der Mut, sie abzuwerfen?

Der Roman „Lord Jim“ lässt sich als Schlüssel auf die Beantwortung dieser Frage begreifen. Der Erzähler Marlow räsoniert über „James Soundso“, später bei den Malaien „Tuan Jim“ genannt, das in Übersetzung „Lord Jim“ heißt. Die Reise vom „Soundso“ zum „Lord“ vollzieht sich in exzentrischen Bahnen, denn James, der voller Selbstbewusstsein seine Reise beginnt, wird seinem Selbstanspruch einfach nicht gerecht. In einer entscheidenden Situation, der Situation, in der er seinen Charakter zeigen, der Welt beweisen könnte, er wäre der, der er zu sein vorgibt, versagt er:

„Zurückgelehnt in seinem Sessel, die Beine ausgestreckt und die Arme hängen lassend nickte er einige Male leicht mit dem Kopf. Man hätte sich keinen traurigeren Anblick denken können. Plötzlich hob er den Kopf; er setzte sich auf; er schlug sich auf die Schenkel. »Ah! Mein Gott! Was habe ich für eine Gelegenheit verpaßt!« rief er, und der Klang dieses »verpaßt« entrang sich ihm wie ein Schmerzensschrei.

Es geht also Marlow um die Desillusion, um das unsichtbare Gesetz des eigenen Scheiterns, um das, was einen Charakter auszeichnet, als unsichtbare Bahn dessen, was das Leben des je einzelnen hinterlässt. Bei James ballen sich die Ereignisse in schmerzlicher, kläglicher Klarheit und Intensität zusammen, und so reden in allen Häfen der Welt die Menschen von ihm, von seinem Scheitern, seiner Feigheit, von diesem einen Rätsel, wie dieser Mann dieses Leben führen konnte. Conrad behandelt also mit seinem impliziten Erzähler, der Marlow auf einer Veranda lauscht, wie dieser über das spricht, was wiederum andere über James oder dieser selbst über sich sagt. Von Hörensagen erhält bei Conrad einen literarischen Charakter gerade durch die sich vollständig ihrer selbst bewussten Reflexion, die schließlich den Sinnanspruch sprichwörtlich über Bord wirft:

Aber wofür hielt der der arme Teufel sich auch? Wahrheit soll den Sieg davontragen – Sie wissen: Magna est veritas et … Ja, wenn sich ihr eine Gelegenheit bietet. Ohne Zweifel gibt es da ein Gesetz – und in gleicher Weise bestimmt ein Gesetz euer Glück beim  Würfeln. Nicht Gerechtigkeit, die Dienerin der Menschheit, sondern Zufall, Laune, Schicksal – die Bundesgenossen der geduldigen Zeit – halten ein stets und peinlich genaues Gleichgewicht aufrecht.

Marlow zitiert den lateinischen Spruch unvollendet. Es fehlt „praevalebit“ – was so viel heißt „wird den Sieg davontragen“ – denn in Conrads Erzählweise setzt sich nur das durch, was mit sich auch eine Lücke enthält, eine fortdauernde Rätselhaftigkeit des Augenblicks aufrechterhält, also sich öffnet, in neuen Kreisen die Welt auf ungeahnte Weise erforscht. Hier wird Literatur wieder Überlieferung und Weitergabe und zwar eines delphinischen Rätsels, das die Welt größer und weiter werden lässt, vergleichbar mit bspw. Claude Simon in „Das Gras“ oder vor allem Virginia Woolf „Zum Leuchtturm“, also andere Weisen des Mutes sich von der Bürde der Unfreiheit zu befreien.  

Inhalt: 5/5 Sterne (psychologischer Seefahrts- und Abenteuerroman)
Form: 5/5 Sterne  (romantische, in die Tiefe bohrende Sprache)
Komposition: 5/5 Sterne (multiperspektivische Sinnüberlagerungen)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (sich entfaltende Sprachfreude)


Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Die Phänomenologie des Geistes“

Probe aufs sprachliche Exempel, oder wie das Lesen im Lesen sich selbst überschreitend seine eigenen Horizonte erforscht. Passhöhe des verschriftlichten Denkens.

Über „Die Phänomenologie des Geistes“ lässt sich keine wirkliche Lesebesprechung schreiben. Der Text wirkt allzu sehr nach, zu dicht, zu verflochten, zu multidimensional perspektiviert, als dass ein einfaches, bündiges, sich selbst über den Weg trauendes Urteil möglich wäre:

Die Wissenschaft enthält in ihr selbst diese Notwendigkeit, der Form des reinen Begriffs sich zu entäußern, und den Übergang des Begriffs ins Bewußtsein. Denn der sich selbst wissende Geist, eben darum, daß er seinen Begriff erfaßt, ist er die unmittelbare Gleichheit mit sich selbst, welche in ihrem Unterschiede die Gewißheit vom Unmittelbaren ist, oder das sinnliche Bewußtsein, – der Anfang, von dem wir ausgegangen; dieses Entlassen seiner aus der Form seines Selbsts ist die höchste Freiheit und Sicherheit seines Wissens von sich.

Hier beschreibt Hegel den Zustand des absoluten Wissens, der, als Wissen, nur im Akt des Produzierens verständlich zu werden vermag. Hingerissen von viel missbräuchlichen Interpretierens und Kolportierens steht Hegel im Lichte der Öffentlichkeit ein wenig größenwahnsinnig da. Nichts könnte, nach genauer Lektüre, weiter von dem Eindruck entfernt sein, der sich ergibt, sobald den Begriffsfiguren des absoluten Wissens nachgespürt wird:

Dies Ich = Ich ist aber die sich in sich selbst reflektierende Bewegung; denn indem diese Gleichheit als absolute Negativität der absolute Unterschied ist, so steht die Sichselbstgleichheit des Ich diesem reinen Unterschiede gegenüber, der als der reine und zugleich dem sich wissenden Selbst gegenständliche, als die Zeit auszusprechen ist […]

Hegel selbst begreift das Denken als Attribution, als Zuschreibung und somit Verknüpfung von Vorgängen, die sich durch die Sprache zu einer Bedeutungsmannigfaltigkeit zusammenschließen, also das Produkt von Benennen, Vergleichen, von Abstraktion und zurückgewonnener Konkretionen sind und so stets Spuren hinterlassen. Diese Spuren, als Knoten, dienen als Auflösungspunkte und Neubestimmungsorte, wodurch das Denken stets Negativität, das Ich stets gespalten, die Bedeutung stets vorläufig bleibt. In diesem Sinne erscheint das absolute Wissen als Mächtigkeit des Denkens, die eigenen Knotenpunkte wieder zu finden und zurückzubefragen (Knochen des Geistes) und im letzten Akt sogar die Attribuierung dynamisch neu bestimmen zu können.

„Dieser Inhalt ist in seinem Unterschiede selbst das Ich, denn er ist die Bewegung des Sich-Selbst-Aufhebens oder dieselbe reine Negativität, die Ich ist. Ich ist in ihm als unterschiedenem in sich reflektiert; der Inhalt ist allein dadurch begriffen, daß Ich in seinem Anderssein bei sich selbst ist.“

Von einem ontologischen, zeitlosen, allmächtigkeitsverdächtigen Wissen lässt sich also bei genauer Lektüre nicht sprechen, sondern eher von dem letzten Akt der denkerischen und philosophischen Selbsttransparenz, was möglich, tatsächlich, Wissen und Denken dem eigenen Begriff nach selbst ist. „Die Phänomenologie des Geistes“ bietet also eine Art Prüfstein oder Rosskur für den an sich selbst müde werdenden, seinen eigenen Gespenstern und Geistern unterliegenden Geist. Hegel scheucht sie alle hervor, die Dämonen, die unter dem Bett liegen und ihr Unwesen im Schattenreich des Unbewussten treiben.

Folgefragen für die Nächst- und Wieder-Nächst- und Erneut-Lektüre:
1.) Inwiefern vollzieht sich die Veräußerung des Geistes und das Selbstbestimmen des Bewusstseins über historische Figurationen? Wie denkt Hegel den Lernprozess konkret, das Entäußern und Verinnern als Erinnern?
2.) Wie lassen sich gehemmte Denkprozesse in dem Begriffsschema einordnen, also sich selbst ausweichende Denkformen, die dem eigenen Erkenntnisprozess nicht in die Augen sehen wollen?
3.) Wie genau lässt sich bei Hegel Religion von Kultur, Kunst von Glauben, Ästhetik von Wissen trennen? Sind das nicht Erscheinungsformen ein und desselben Selbstverständigungsprozesses? Aber wie wird dann die begriffliche Unterteilung motiviert?
4.) …

Anschließend erwähne ich noch gerne Ernst Blochs: „Subjekt-Objekt: Erläuterungen zu Hegel“ und Theodor W. Adornos: „Drei Studien zu Hegel“ und das Buch von Charles Taylor: „Hegel“, nicht als Ersatz, aber als Ergänzung und reflektorische Zwiesprache-Gelegenheit, um dem eigenen Hegelverständnis auf den Zahn zu fühlen.

Inhalt: 5/5 Sterne (intellektuell-historischer Selbstbehauptungsversuch)
Form: 5/5 Sterne  (in sich geschlossenes transformatives Gewebe)
Komposition: 4/5 Sterne (große Denkbögen, das Wiederholung als Religion, aber fragwürdig und nur lose verknüpft, etwas aufgesetzt)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (ein Lesen, das das Denken in neugewonnenen Freiräumen atmen lässt)


Tijan Sila: „Radio Sarajevo“

Radio Sarajevo

Unverbindliches aus dem Nähkästchen-Plaudern über Krieg, Flucht und Traumaverarbeitung. Mehr eine Skizze, ein Brainstorming, aber kein Werk gegen das Vergessen.

Gegen das Vergessen schreiben, so schließt Sila sein eigenes Buch, das von sich nicht behauptet ein Roman zu sein und auch, in der Tat, nicht im entferntesten einer ist:

„In Bosnien wird die Generation meiner Eltern die »entwurzelte« oder die »ausgerissene« genannt. Meine Generation aber hat keinen Spitznamen, wir sind die Vergessenen. Ich schrieb dieses Buch auch, um dem Vergessen etwas entgegenzusetzen.“

Die Frage, die sich nun stellt, ballt sich im „auch“ zusammen, warum noch? Die Szenen, die Sila aneinanderreiht, schneidet er, wie er selbst sagt, wie ein Dokumentarfilmregisseur zusammen. Das muss nicht uninteressant sein. Das kann sogar literarische Verbindlichkeit erzeugen, muss aber nicht:

„Sowohl als Schüler wie auch später als Lehrer (ich unterrichte seit fünfzehn Jahren an Berufsschulen) wurde ich immer wieder zur Schulleitung vorgeladen und mit Disziplinarverfahren bedroht, weil ich mich irgendwem gegenüber im Ton vergriffen hatte. Wer weiß schon, woran das liegt? Vermutlich am Krieg, wie irgendwie fast alles in meinem Leben.“

Radio Sarajevo“ genau gelesen, konzentriert, lässt nur einen einzigen Schluss auf den Ich-Erzähler zu, er weiß nicht, was er erzählen und warum er es erzählen will. Er sucht. Er forscht. Er gräbt in seinen Erinnerungen, findet aber nichts und behält meist nur Fragen, Unsicherheiten, Fragmente einer Spur zurück, die sich nicht wieder zusammensetzen lassen. Sein Text berichtet von einem zerstörten Gedächtnis, von einem Trauma, das so stark in die Sprache hineingefahren ist, dass es kohärente, in sich geschlossene Szenen abbricht, auflöst und ins Fragwürdige verwischt:

„Unser neues Klassenzimmer war jenes Schlittschuhgeschäft, in das Ermin eingebrochen war – erst vor einem Jahr, doch wie alles andere, das vor dem Krieg stattgefunden hatte, kam es mir vor wie ein Ereignis aus einem anderen Zeitalter. Mir ist bewusst, dass dieser Satz fast immer fällt, wenn Menschen ihre Erinnerungen an einen Krieg aufschreiben. Er fällt fast immer, weil er wahr ist.“

Sätze wie diese fahren ins Leere. Der Ich-Erzähler verdeckt seine Unfähigkeit, die Erinnerung lebendig werden zu lassen, in der Notwendigkeit von Phrasen, die fallen, weil sie wahr seien. Wahrheit jedoch als dynamisches Konstrukt einer narrativen Geste erreicht der Text nicht. Er bleibt leider platt, performativ, weil der Ich-Erzähler sich die Maske eines Pausenclowns aufsetzt. „Radio Sarajevo“ zeigt mit seinem Titel an, was der Text ist, eine Art Radiosendung, in der sich hier und da ein Moderator einschaltet, hier und da etwas erzählt, von sich, von der Welt, in der jedoch die Hauptsache eben die Musik bleibt, die von den Worten nur unterbrochen wird. Was in „Radio Sarajevo“ also fehlt? Die Musik:

Die Herzen meiner Freunde waren durch den Krieg zu verwildert, als dass zartere Samen in diesem Dickicht hätten keimen können.

Voller Klischees, eingeübter Phrasen, voller Fragmente und sich selbst kommentierender Gags, die stets nur „auf Bosnisch“ lustig seien oder zumindest sich reimten, erreicht der Text keine Intensität.

„»Pisse, Muschi, Kopfnuss – stinkt alles, stinkt alles, stinkt!« Auf Bosnisch reimt sich das.“

Wer sich dem Trauma literarisch explorativ nähern will, dem sei Tatjana Gromačas „Die göttlichen Kindchen“ ans Herz gelegt. Tijan Silas „Radio Sarajevo“ ist bloßes Gedudel in der Art von Necati Öziris „Vatermal“ und dem schelmisch-episodenhaften Fabulieren eines Ivo Andrić in „Die Brücke über die Drina“, die als Lose-Blatt-Sammlung weder sprachlich noch inhaltlich noch szenisch überzeugt.

Inhalt: 1/5 Sterne (Brainstorming ohne roten Faden)
Form: 2/5 Sterne  (gut lesbare Sprache, aber voller Phrasen und Klischees)
Komposition: 1/5 Sterne (keine)
Leseerlebnis: 2/5 Sterne (kurz und bündig, schmerzlos)


Joseph Conrad: „Herz der Finsternis“

Herz der Finsternis

Der inneren Wildnis auf der Spur. Rastlos am Rande der eigenen Psyche, ein sich an die Allegorie eines erzählenden Selbst Klammern.

Joseph Conrads Novelle mag heutzutage berühmter als Vorlage für Francis Ford Coppolas Film Apokalypse Now sein. Sie selbst aber spielt das aus, was nur literarisch passieren kann, eine lineare, sich zirkulierende Selbstbefragung, die im Erinnern, im sprachlichen Herantasten der psychischen Mythologie der eigenen Jetztzeit auf die Schliche zu kommen versucht:

Das Garn der Seeleute ist von einer rückhaltlosen Einfältigkeit, deren ganzer Sinn in einer aufgeknackten Nußschale liegt. Aber Marlow war nicht typisch (wenn man von seiner Neigung, ein Garn zu spinnen, absieht), und für ihn lag der Sinn einer Begebenheit nicht in dieser eingeschlossen wie der Nußkern, sondern draußen, rings um die Geschichte, die ihn lediglich sichtbar machte, so wie eine Feuersglut einen Dunst sichtbar macht – ähnlich einem jener Schleierhöfe, die mitunter im gespenstischen Licht des Mondscheins sichtbar werden.

Entscheidender bei Conrad bleibt also das Nichtgesagte, das, worum die Erzählung sich dreht, ohne das, was die Erzählung behandelt, mit einem Begriff zu belegen. „Herz der Finsternis“ beschreibt vor allem eine Reise, einen Aufbruchsversuch des Erzählers und Protagonisten Charlie Marlow. Er, gepackt von Idealismus, Begehren, unruhig, zu intensiv, um sich einzurichten, muss in die letzten unbekannten Winkel der Welt reisen, also an den Rand des Bekannten, dort, wo die Karten aufhören – also ein Selbst beginnt, eine Reaktion in der Dunkelheit, die nicht antizipierbar ist:

Er war zu einem Ort der Finsternis geworden. Doch gab es darin vor allem einen Fluß, einen gewaltig großen Fluß, den man auf der Landkarte sehen konnte und der einer riesigen, sich aufringelnden Schlange glich, deren Kopf im Meer, deren Leib über eine weite Fläche hingelagert war und deren Schwanz sich in den Tiefen des Kontinents verlor. Und als ich mir die Landkarte im Schaufenster eines Ladens betrachtete, faszinierte mich der Fluß, wie eine Schlange einen Vogel fasziniert – einen dummen kleinen Vogel.

Was passiert und erzählt wird, lässt sich vordergründig als ambivalente, in sich zerstrittene Kolonisierungsphantasie und Fortschrittskritik verstehen. Die Diktion, die Sprache, das langsame Herantasten und vorsichtige Sich-Nähern an den Kolonialhändler Kurtz in Afrika, dem widerspruchsvollen Helden Marlows, zeigt aber, dass sich hier das Selbst dem Rand seiner Zurechenbarkeit nähert. Hier stellt sich der Kulturmensch Marlow und mit ihm die ganze Zivilisation selbst in Frage:

Marlow verstummte und saß da: abgerückt, undeutlich und schweigend, in der Haltung eines meditierenden Buddha. Eine Weile rührte sich niemand. »Wir haben den Beginn der Ebbe verpaßt«, sagte der Direktor plötzlich. Ich hob den Kopf. Die Flußmündung war von einer schwarzen Wolken- wand verhängt, und die ruhige Wasserstraße, die bis an die äußersten Grenzen der Erde führt, strömte düster unter einem bewölkten Himmel dahin […]

Wenige Zeilen reichen nicht, den Reichtum des Textes einzufangen, die vielen Neben- und Hauptstränge dieser kurzen Novelle zu rekapitulieren. Hier spricht ein Erzähler aus der Fülle seiner Erfahrung und seines ungeminderten Empfindens. Wie auf hoher See im Sturm packt der Erzähler seine Zuhörer, die atemlos zuhören oder lesen, wie es jemand wagt, immer weiter hinaus, immer tiefer hinein zu fahren. Mit Joseph Conrad lassen sich wenige bruchlos vergleichen. Einer wäre Hermann Broch und sein „Tod des Vergil“, ein anderer Vergil selbst, vor allem mit seiner „Äneis“ in der Christian Ludwig Neuffer-Übersetzung.

Inhalt: 5/5 Sterne (innere und äußere Reise an den Rand der eigenen Welt)
Form: 5/5 Sterne (hart, umfassende, anpackende Sprache)
Komposition: 5/5 Sterne (atemlos, dicht, verschränkt, fast zu kurz)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (Literatur als Gedanken- und Gefühlpflug)


Joseph von Eichendorff: „Aus dem Leben eines Taugenichts“

Aus dem Leben eines Taugenichts. Buch von Joseph von Eichendorff (Insel  Verlag)

Idyllisch-konfliktloser Eskapismus in Reinform, oder Tagträumereien für Fortgeschrittene.

Nichts mit der Prosa des Alltags hat Joseph von Eichendorffs Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ zu tun. In zehn dichten, ineinander verschränkten Kapiteln zieht der Taugenichts vom Hofe des Vaters aus, die Liebe und Lust seines schwelgerischen Lebens zu finden. Er findet sie auch alsbald: Die schöne, Gitarre spielende Gräfin im Schloss in den Donauauen bei Wien.

Da sah ich nun allemal die allerschönste Dame noch heiß und halb verschlafen im schneeweißen Kleide an das offne Fenster hervortreten. Bald flocht sie sich die dunkelbraunen Haare und ließ dabei die anmutig spielenden Augen über Busch und Garten ergehen, bald bog und band sie die Blumen, die vor ihrem Fenster standen, oder sie nahm auch die Gitarre in den weißen Arm und sang dazu so wundersam über den Garten hinaus, dass sich mir noch das Herz umwenden will vor Wehmut […]

In schwelgerisch-optimistischer Manier nähert sich ihr der Ich-Erzähler, macht der geheimnisvollen Schönen den Hof, aber durch Missverständnisse, Ungeduld, aus Vorsicht und Rücksichtnahme entwickelt sich eine Liebes- und Reiseroman, denn als die Liebe nicht sofort erwidert wird, flieht der Ich-Erzähler in die weite Welt in Richtung in Italien hinaus:

Mit dem Spielen ging es aber auch nicht lange, denn ich stolperte dabei jeden Augenblick über die fatalen Baumwurzeln, auch fing mich zuletzt an zu hungern, und der Wald wollte noch immer gar kein Ende nehmen. So irrte ich den ganzen Tag herum, und die Sonne schien schon schief zwischen den Baumstämmen hindurch, als ich endlich in ein kleines Wiesental hinauskam, das rings von Bergen eingeschlossen und voller roter und gelber Blumen war, über denen unzählige Schmetterlinge im Abendgolde herumflatterten. Hier war es so einsam, als läge die Welt wohl hundert Meilen weit weg.

Wie es aber in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, will Joseph von Eichendorffs Novelle wohl sagen, denn der Ich-Erzähler, der keiner Fliege etwas zu Leide tun will, stößt hier und da und bis hinunter nach Rom nur offene freundliche Gemüter und hilfsbereite Menschen, die ihn zurück zu seiner Geliebten geleiten, denn alles war, war ja ohnehin von Anfang an nur ein Missverständnis:

Sie lächelte still und sah mich recht vergnügt und freundlich an, und von fern schallte immerfort die Musik herüber, und Leuchtkugeln flogen vom Schloss durch die stille Nacht über die Gärten, und die Donau rauschte dazwischen herauf – und es war alles, alles gut!

Die Rahmenhandlung selbst wird der Novelle aber nicht gerecht. Die Erzählweise lebt von den kleinen Einfällen, von Eidechsen, fröhlichen Lerchen, von fatalen Fliegen und katzbuckelnden Gesten, von bucklichen Männlein, Kratzfüßchen und Grimassen und plätschernden Brunnen und als schlafende Löwen erscheinende Städte. Eichendorff besingt eine Welt ohne Häme, ohne Gewalt, ohne Furcht und Engstirnigkeit. Der Kleinkariertheit entgegenarbeitend lässt er sich auf Wald und Wiesen, auf Mond und Sterne ein und träumt und liebt, musiziert und singt, dichtet und wandelt unter dem wohlgesinnten Firmament.

Malus nur die für den Schelmenroman typische Okkasionalität. Es passiert etwas, aber was passiert, ist kompositorisch ziemlich gleichgültig. Die Weltzugewandtheit lässt sich als eigentlicher Topos und Protagonist der Novelle behaupten. Die Sprache spannt sich weit und fröhlich lebendig über die Welt. Für philiströse bierernste Gemüter bietet Eichendorffs Sprache und Novelle nichts. Wer das Schematische sieht, sieht auch vor lauter Fatalität und Kommodität nichts anderes als ein in Prosa umgesetzter mittelalterlicher Liebes- und Reiseroman. Für alle anderen aber ein Auf- und Durchatmen und exploratives Erzählen.

Inhalt: 3/5 Sterne (wildloses Durcheinander)
Form: 4/5 Sterne  (poetische, schwelgerische Sprache)
Komposition: 3/5 Sterne (assoziativ mit kleinem Twist)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (fröhliches Lesetrunkensein)


Jenifer Becker: „Zeiten der Langeweile“

Zeiten der Langeweile

Stilsicher in die selbst gestellte Falle getappt. Ein ins Leere gelaufener antidigitaler Fluchtversuch.

Jenifer Beckers Debütroman „Zeiten der Langweile“ beginnt, als Mila, die Protagonistin, ihre Dissertation abgegeben hat und sich zum ersten Mal wirklich die Frage stellt, wohin die Reise nun gehen soll. Bis dato, von Kindheit, über Jugend, Schule, Universität bis hin zum Ende der Promotion verlief das Leben im seichten Fahrwasser des Gegebenen und Geforderten, aber was nun? Statt sich jedoch mit dieser Frage zu konfrontieren, sucht sie Ablenkung in einer anderen, nämlich wie sie sich aus dem Internet löschen kann:

Im Hinblick darauf, dass ich nichts davon mehr online preisgeben müsste, fühlten sich die meisten Sachen gar nicht mehr so fatal an – die Tatsache, dass ich keine künstlerischen Ambitionen mehr hatte, zum Beispiel.
Dass ich vierunddreißig war und mir den falschen Job ausgesucht hatte.
Dass ich nicht wusste, ob ich Kinder kriegen sollte – wenn ja, mit wem? Und wie sollte ich das finanzieren?
Dass ich in Berlin fast nichts mehr mit den Leuten zu tun hatte, mit denen ich in Offenbach befreundet gewesen war.eine Akne immer schlimmer wurde.

Um sich also um all die brennenden Fragen nicht zu kümmern, die sich ihr stellen, fängt Mila Meyring mehr und mehr an, sich aus dem digitalen Zeitalter zu löschen, aus den sozialen Medien auszusteigen, ja, Schritt für Schritt jede digitalen Spuren zu verwischen, die sich von ihr und ihrer Vergangenheit noch finden lassen. Dass dieses Ausweichmanöver in eine Sackgasse führt, ist der Protagonistin nur allzu bewusst:

Ich wollte mein Gehirn nicht fordern, sondern in einen tumben Zustand versetzen, in dem Gedanken nach ein paar Biegungen lächelnd in einer Sackgasse zum Stehen kamen. Mit Ida und Senta fühlte ich mich dafür sicher genug.

Jenifer Becker inszeniert in „Zeiten der Langeweile“ eine Welt und Existenzflucht als eine Art Kritik am Überwachungsstaat, die hinten und vorne nicht aufgeht und auch keinen Abschluss finden kann. Mila führt ein Täuschungsmanöver aus, dem sie selbst nicht auf den Leim geht. Sie hat Angst vor Zurückweisung. Sie hat Angst vor Liebesentzug, aber vor allem hat sie Angst vor jedweden eigenverantwortlichen Handeln, also reagiert sie auf ihr Umfeld in passiver und ablehnender, sich isolierender Art und Weise, bis sie völlig allein, mit sich und der weiten Welt konfrontiert irgendwo am Rande des Nichts steht:

Ich schaute durch die lichten Bäume hinweg auf die flachen Wellen, die weiter draußen auf einer Sandbank brachen. Wenn ich Glück hatte, würde ich ins offene Meer gespült werden, und niemand würde jemals meine sterblichen Überreste finden. Wenn ich Pech hatte, wäre das letzte Foto, was von mir zurückbleiben würde eins von meinem aufgequollenen Körper auf einem norwegischen Strand, wahrscheinlich wäre ich nackt und durch die spitzen Felsen vor der Küste übel zugerichtet.

Sich nur aus den Augen anderer zu sehen, gerät in „Zeiten der Langeweile“ zu einer literarischen Farce und Tour de Force gegen die Protagonistin selbst. Ihre Motive werden nicht erklärt. Ihre Vergangenheit bleibt unbeleuchtet. Ihre Psyche steht unthematisiert im Hintergrund, und auch der Grund für die Furcht, gecancelled zu werden, wird nur angerissen, aber niemals semantisch, interpretatorisch, argumentativ durchleuchtet. Mit anderen Worten, die Protagonistin wird der Lächerlichkeit preisgegeben – mit ihr aber steht und fällt aber die Glaubwürdigkeit des Erzählkonzepts und somit des Romans. Er fällt, da die implizite Erzählerin nicht weiß, was sie will, genauso wie die Protagonisten, womit das Ganze zu einer parataktischen Farce ersten Ranges wird. Zumindest aber flüssig geschrieben. Joshua Groß bietet dennoch in „Prana Extrem“ eine überzeugendere Variante von Joseph von Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ im gleichen Sound, aber mit mehr Beat.

Inhalt: 1/5 Sterne (herablassend gegen die Protagonistin)
Form: 3/5 Sterne (stilsichere moderne Sprache)  
Komposition: 1/5 Sterne (Plot nicht motiviert)
Leseerlebnis: 2/5 Sterne (interessante, aber unreflektierte Gegenwartskritik)


Viktor Gallandi: „Kaspar“

Kaspar

Grenzen des Schelmenromans. Alles ist erlaubt – aber nicht alles ist erzählens- oder bemerkenswert.

Der Schelmenroman dient als Quodlibet diverser, unabhängiger Einfälle. Der Schelm berichtet unzuverlässig, erzählt frisch und fröhlich, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Mit anderen Worten, ein Schelm überzeugt durch seine authentische, dichte Erzählkraft, seinen Wortwitz, der die Inkonsistenz seines Erzählten in den Hintergrund treten lässt. Zur Erzählkraft gehörten eindrucksvolle Beschreibungen, überraschende Wortwendungen, Neologismen, Grenzüberschreitungen und Überraschungseffekte. Was aber passiert, sobald es an der Wortgewandtheit mangelt? Viktor Gallandi macht in „Kaspar“ die Probe aufs Exempel, und das auf fast 500 Seiten:

Solange ich leide, bin ich immerhin nicht tot – und solange ich tot bin, leide ich immerhin nicht mehr. So habe ich zwei halb volle Gläser und kann aus keinem trinken.
Also, Frage, ich muss wieder anfangen, die richtigen Fragen zu stellen, bevor sie sich als die falschen herausstellen, bin ich
Und als ich so lief, durch diese Weite, in der gellenden Stille wie in einem weit aufgerissenen Auge, über die steinerne Rinde, musste ich an die Liebe denken

Der aristotelische Kniff, in allem und jeden einen Syllogismus zu vermuten, und aus der Logik eine Banausenlehre zu veranstalten, gelingt Gallandis Ich-Erzähler ganz gut, der einerseits in einem Krankenzimmer liegt und von einem mysteriösen Viech verpflegt wird, andererseits aber in seiner Phantasie schwelgt, die er zu Papier bringt, um das Viech zu beeindrucken oder um einfach nur die Zeit totzuschlagen. Der Erzähler bleibt bettlägerig, und nach einer Weile nagt an ihm der Hunger, und bald schon bleiben die Besuche des Viechs aus. Mehr gibt es erst einmal plottechnisch nicht zu berichten:

Während mein Körper schmerzt, besonders der Rücken, die Gelenke, die Haut, die Muskeln und die inneren Organe, stelle ich mir vor, wie ich das Viech eifersüchtig machen könnte, mit einer gebastelten Puppe, zu der ich vorgäbe, eine intime Beziehung aufgebaut zu haben. Basteln? Nein. Oder ich muss anfangen, mit meinem Kissen zu sprechen. Manchmal hat es doch ein Gesicht. Und dann liegen wir, mein Kissen und ich, Gesicht auf Gesicht, und doch so lieblos.

Alles, was sonst passiert, bindet sich erzählerisch an die Fiktion des fiktionalen, bereits im eigenen Erzählen unzuverlässigen Berichterstatters. Klarheit gibt es nicht. Die Lust an der Fabulation scheint das dichterische Motiv gewesen zu sein – hierzu jedoch scheint aber ein leeres Krankenzimmer in einer leeren Welt mit einem unkommunikativen Viech nicht wirklich geeignet zu sein. Es passiert schlicht nichts:

Drumherum alles leer, dunkelweiß, menschenlos, tierlos und so weiter. Toll. Keine Eichhörnchen? Nein. Wenn es sie dort jemals gegeben hatte, würden sie an diesem Punkt schon lange Reißaus genommen haben, mit wehenden Fahnen, sobald sie verstanden hätten, dass es dort nichts zu essen gibt. Und das versteht sich schnell von selbst. Ja, das ist das Problem, wenn alles so leer ist, es versteht sich von selbst, es braucht einen nicht, und trotzdem geht es weiter, dank der Zeit, auf mich zu, dank mir. Wo immer das sein mag.

Viktor Gallandi betreibt einen literarischen Versuch mit der Fiktion auf dem Nullpunkt mit der maximalen Ungewissheit und Unentschiedenheit im Erzählfluss. Inwiefern der erzählerische Akt als Performance glückt, als Versuch, destruktiv zu verwirren, oder die Lust am Text gänzlich zu vereiteln, vermag ich nicht mehr zu beurteilen. Zu viele Tautologien, Scheinbarkeiten, zu viele „vielleicht“, „als ob“ erzeugen ein weißes Rauschen, das selbst die Frage als solche nach Bedeutung verhöhnt. „Kaspar“ von Gallandi eifert der avantgardistischen Anti-Literatur der 1960er mit Verve nach und nichtet das Nichts ein weiteres Mal, nur dass ein nichtiges Nichts nichtig bleibt, wie ein bereits leeres Glas nach dem weiteren Leeren noch immer leer. Schade.

Inhalt: 1/5 Sterne (bettlägeriger Erzähler langweilt sich)
Form: 1/5 Sterne (einfachste Sätze ohne Verbund)
Komposition: 1/5 Sterne (beliebig wie lang oder kurz)
Leseerlebnis: 0/5 Sterne (kein Erzählmotiv)


Magdalena Saiger: „Was ihr nicht seht“

Was ihr nicht seht oder Die absolute Nutzlosigkeit des Mondes : Saiger,  Magdalena: Amazon.de: Bücher

Ein imaginärer Befreiungsschlag, der weniger narrativ, plottechnisch, als expressiv überzeugt. Kollage einer surrealistischen Fahrt ins Freie.

Magdalena Saigers Debütroman „Was ihr nicht seht oder Die absolute Nutzlosigkeit des Mondes“ reiht sich ein in die Gattung der freien Assoziationstexte, die in einer eher losen Verquickung von Handlungsabläufen Zeit und Raum für Reflexionen schaffen, um dort nach Selbstverständigung zu suchen. Er beginnt mit den folgenden, wegweisenden Worten:

Diesen Text wird nie jemand lesen.
Würdet ihr ihn lesen, ihr würdet euch wundern.
Wer kann schon damit rechnen, dass es das gibt: dass jemand aufbricht, sein Leben aufgibt, wie es doch recht glatt lief zuletzt. Und sucht sich einen Ort, der einem Nirgends nahekommt, sehr nahe, und baut dort unermüdlich, Tag und Nacht, an dem Kunstwerk, das nie jemand sehen wird – nicht weil sich niemand dafür interessieren würde, sondern weil es nie jemand sehen soll.

Die romantische Ironie, die hier dem eigenen Publikum das Werk verweigert, die Distanznahme schlechthin zum Kunst- und Kulturbetrieb liegt auf der Hand und wird durch den namenlosen Ich-Erzähler repräsentiert, der kurzerhand von seinem sozialen Leben, seiner Person, seiner Rolle und Funktion Abschied nimmt, um in die Lausitz, in die Nähe eines Autobahnkreuzes zu ziehen, wo er ein für niemanden je sichtbares Werk zu bauen gedenkt. Hier erinnert der Plot, oder besser: die Szenerie an Thomas Bernhards Das Kalkwerk, ohne jedoch die Bernhardschen monomanischen Züge zu erhalten. In Stimmung und Ton an „Prana Extrem“ von Joshua Groß erinnernd bleibt der Protagonist nämlich zurückhaltend und besonnen:

Ich will einfach nur nicht gefunden werden.
Die Wut brauche ich nicht mehr. Auch bei dem Wort Milchbärtchen kommt nichts in Gang, ich könnte es streichen. Trotzdem kitzelt mich diese letzte Mitteilung an euch, nennt es, wenn ihr wollt, Nachricht von der Rückseite des Mondes:

Ein Aussteiger, Bildhauer in der Lebenskrise wie bei Max Frisch in „Stiller“; die Schweiz, das Dorf, das einfache Leben, die kulturpessimistischen Untertöne und Odysseus wie bei Thomas Hettche in „Sinkende Sterne“; die ornamental-lyrischen Eskapaden im Singsang des postapokalyptischen „Diese ganzen belanglosen Wunder“ von Leona Stahlmann; all dies vereint und doch für sich stehend im Sound von Joshua Groß bietet Magdalena Saiger viel auf wenig, vielleicht doch gar zu wenig Seiten.

Räume wie das Dunkel, das ein behagliches Feuer umrahmt. Die Aggregatzustände, alle, und Wärme und Kälte von Licht, in allen Graden, wimmelnde Schatten, Blendung und Dunst. Wie es das Scratching geben muss, einerseits, aber die eingenudelte Schubert-Platte auch, den Goldenen Schnitt und das schrille Missverhältnis.

Es fehlt an charakterlogischer Entwicklung. Es häufen sich zu viele dadaistische Poème trouvés, die den Text strecken, ohne ihn zu verlängern. Es mangelt kurz an Literarizität als Fiktion und Fabulation, aber da der Text an all dies erinnert, es im Kleinen zelebriert, die Hoffnung auf Phantasie und Selbstbestimmung nährt und es auch in Wort und Sprache umsetzt, obgleich dennoch sehr verkopft und intellektualistisch-referenziell verspielt, bietet es viel und glänzt und scheint im literarisch doch oft nur allzu dunklen Jetzt.

Inhalt: 2/5 Sterne (keine Spannung)
Form: 4/5 Sterne (lyrisch-ornamental)
Komposition: 3/5 Sterne (surrealistisch-anspruchsvoll)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (reflektorisch-befreiend)


Rebecca Yarros: „Flammengeküsst“

Rebecca Yarros: „Flammengeküsst“

Viel Schaumschlägerei um den ersten bedeutsamen Kuss und Sex. Eine Protagonistin findet sich und ihre Lust in einer leeren, faden Welt.

Ein Roman über die Suche und das Finden des richtigen Partners, über ein Schwanken zwischen dem Spatz in der Hand und der Taube auf dem Dach, über den Versuch, über sich und das Auferlegte hinaus- und wieder hineinzuwachsen – Sehnsuchts- und Traumprosa, die die Untiefen der eigenen Individualität aus dem Wege geht und in die geliebten und gehassten Mitmenschen projiziert:

Xaden, der grüblerisch und rechthaberisch, gefährlich und tödlich ist, ist ein hinreißender Anblick, der meinen Puls in die Höhe treibt. Aber Xaden, der lacht, mit zurückgelegtem Kopf und einem Lächeln auf den Lippen, ist einfach umwerfend schön. Mein törichtes, dummes Herz fühlt sich an, als wäre es von einer Faust umschlossen, die fest zudrückt.

Violet, die Protagonistin, wird von ihrer Mutter, der Generalin, gezwungen, sich dem Reiterquadranten anzuschließen, d.h. eine lebensgefährliche Ausbildung zu beginnen, die bereits ihre berühmte Schwester und ihr verstorbener Bruder erfolgreich absolviert haben. Im Gegensatz zu diesen verfügt Violet aber über eine körperliche Benachteiligung. Sie besitzt äußerst schwache Gelenke, kugelt sich schnell mal den Arm aus und besitzt im Grunde keine Eignung, den martialischen Überlebenskampf gegen ihre Konkurrenz zu überleben. Ihr bleibt nur, sich Schutz zu suchen, und sie findet ihn zuerst bei Dain, ihrem Kindheitsfreund, und dann bei Xaden, dem Todfeind ihrer Mutter, zu dem sie aber schnell erotische Gefühle entwickelt.

Jede Kontur von Xadens geschliffenem Körper ist eine Waffe, nur scharfe Linien und Kanten, ein Ausbund roher Kraft. Sein Rebellionsmal windet sich um seinen Torso und hebt sich deutlich gegen den tiefen Bronzeton seiner Haut ab. Und dann dieser Bauch …

Hintergründig steht Dain für das Königreich und Xaden für Rebellion gegen eine sattsame Herrschaft, die sich nur um sich und sonst niemanden kümmert, derweil an den Grenzen und außerhalb unschuldige Menschen von arkanen Wesen namens Veneni abgeschlachtet werden. Das Königreich verteidigt sich mit der Symbiose aus Mensch und Drachen und der daraus hervorgehenden Fähigkeit, einen Schutzwall aufzubauen. Doch nicht alles ist Gold, was glänzt. Schon gar nicht in Violets Leben:

Xaden. Der Klumpen aus Schuldgefühl, der mir seit letzter Woche im Magen liegt, wird noch etwas schwerer. Laut Kodex sollte ich Dain – oder überhaupt irgendwem – melden, dass sich die Gezeichneten unter einer Eiche getroffen haben, aber das werde ich nicht tun. Nicht weil ich Xaden gesagt habe, dass ich es nicht tue, sondern weil es das Richtige ist.

Ob der böse oder der gute Junge die richtige Wahl ist, ob Selbstsucht oder Selbstlosigkeit die Bestimmung Violets wird, ob sie in den Fußstapfen ihres Bruders oder ihrer Schwester tritt, all dies wird im ortlosen und weltlosen Raum eines raunenden Gespräches von Rebecca Yarros inszeniert, das überall, auf Hogwarts wie in Yale, wie auf der Mittelstufe einer herkömmlichen Vorortoberschule stattfinden könnte. Auch die Lösung liegt auf der Hand: Die anderen entscheiden, die Heldin folgt und sucht Schutz hinter dem bösen guten Mann, der allen nur nicht ihr Böses will.

Die Vermutung liegt nahe, das weite Teile (wegen ständiger Wiederholungen von Phrasen und Logikfehlern) von einer KI geschrieben wurden. Wenn nicht, umso schlimmer.

Inhalt: 2/5 Sterne (am Ende spannend, davor Trist)
Form: 1/5 Sterne (winziger Wortschatz, Kurz- bis Einwortsätze)
Komposition: 1/5 Sterne (kein Gespür für Szenerie)
Leseerlebnis: 1/5 Sterne (keine Intensität)


Rhea Krčmářová: “Monstrosa”

Rhea Krčmářová: “Monstrosa”

Selbstfindungsoper im Institut für Essstörungen. Eine Opernsängerin haut auf den Putz und wirbelt das Leben der Mitinsassen herum. Eine wortgewandte Rhapsodie.

Rhea Krčmářová schreibt Bücher über Voluminositäten. In „Monstrosa“ lautet die Rahmenhandlung: eine Opernsängerin namens Isabella wird von ihrer weltbekannten Gesangslehrerin vor die Wahl gestellt, sich wegen Essstörungen in Behandlung zu begeben oder ihren Status als Schülerin und somit alle Chancen zu verlieren, sich noch einen Namen als Opernsängerin zu machen. Isabella beißt in den sauren Apfel, vermietet ihr Zimmer unter und weist sich selbst in das Klinikum Gertraudshöhe im Wienerwald ein:

Ich muss meine Spiegelung nicht sehen, angedeutet im Glas der Trenntüren zwischen Krankenstation und Stiegenhaus; in den Überresten des zersplitterten Spiegels im Therapieraum oder im kleinen Rund dessen, was einmal mein Schminkspiegel war. Das Monster bin ich.

Im ziemlich verlassenen Institut findet sie jedoch nur Magersüchtige, die an Anorexie und Bulimie leiden, und die sehr beleibte fröhliche Isabella ob ihrer offenkundigen Essfreude nicht leiden können:

Wir beobachten das Ungeheuer, diskret und voller Unglauben, diese feiste Medusa, deren Anblick uns zu Stein verwandeln könnte, oder noch schlimmer, zu Fett.

In „Monstrosa“ geht es einerseits um die Gruppendynamik, andererseits um die Selbstfindung der Ich-Erzählerin, die in Erzählgegenwart berichtet, während eine Art antikischer Chor ihr immer wieder ins Wort fällt. Isabella erinnert sich, kämpft mit sich, ringt mit ihren und den Dämonen der anderen:

Der Wald ein Dunkel, ein Hasten durch Schneeschichten. Ein Stehenbleiben. Im Innersten eine Leere, im Äußersten eine Kälte, ein Drang, zu verschlingen. Etwas. Alles. Überall. Zähne drücken gegen einen Mund. Aus dem Hungern wächst eine Wut. Kein Denken mehr, nur Suchen. Ein Atmen, ein Riechen. Ein Sich-leiten-Lassen, ein dunkles Sich-Erinnern.

In sehr abwechslungsreichen Passagen werden Innen- und Außenperspektiven, naturalistisches, surrealistisches Erzählen getauscht, miteinander in Beziehung gebracht und durch das Thema Musik zusammengehalten. Hier geht es um die Entwicklung eines lyrischen zu einem dramatischen Sopran, und das Crescendo begleitet den ganzen Text, bis Isabellas Stimme walkürenhaft die Welt zum Erzittern bringt. Da kann sie weder die Gruppendynamik, noch die Corona-Epidemie, noch die Trauer um Freunde und Freundinnen stoppen. Isabella nimmt Schwung und singt los, was das Zeug hergibt.

Krčmářovás „Der Zauberberg“-Miniatur überzeugt als eine Vermittlung von Olga Tokarczuks „Empusion“ mit Elfriede Jelineks „Winterreise“ und Rainold Goetz fetzigen, musikalischen, obgleich viel unausgeglichenerem „Irre“. Rhea Krčmářovás Stil weiß, wohin er will, was er ausdrücken möchte. Die Verve setzt sich um und spendet Lesemut und Lesefreude, ein großes Mehr zum Leben und Ja zum Sein.

Inhalt: 4/5 Sterne (privates Trauma, Widerstand gegen Gruppenzwang)
Form: 4/5 Sterne (einfache Sätze, aber mit Rhythmus, Schwung, Intensität)
Komposition: 5/5 Sterne (antiker Chor, Echtzeiterzählung, Immersion)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (mitreißende, spannende Selbstfindung)


Karl May: „Der Ölprinz“

Der Ölprinz

Murakami im Wilden Westen. Gebrüder Sanftmut geben Nachhilfe in Spuren Lesen und lassen ein paar Problemchen im Friedenspfeifenrauch aufgehen. Zwiespältiges Leseerlebnis.

Inhalt: 2/5 Sterne (spannende Stellen/viele redundante Stellen)
Form: 3/5 Sterne (sehr einfache Sprache Sätze, aber vergnügliche  Mundart +1)
Komposition: 1/5 Sterne (sehr lose geknüpfter Erzählrahmen)

Mein erster Karl May-Roman seit der Jugendzeit in der ungekürzten Originalfassung (die meisten kursierenden Varianten sind schätzungsweise um ein Drittel kürzer). In „Der Ölprinz“ beschreibt May in dokumentarisch-naturalistisch-kommentierender Manier die Reise deutscher Auswanderer im Süden der USA, die sich auf die Suche nach Abenteuer, einen Neuanfang oder nach musikalischer Inspiration begeben haben.

»Ich suchte ihn natürlich sofort auf, kam jedoch zu spät, denn die Villa „Bärenfett“, welche er bewohnt, war verschlossen – alles zu, kein Mensch da, und vom Nachbar konnte ich nur erfahren, daß der Hobblefrank für längere Zeit verreist sein müsse. Ich habe als ganz selbstverständlich angenommen, daß er nach Amerika ist, und bin ihm nachgereist.«
»Warum aber grad in dieses wilde Arizona hinein? Haben Sie denn Grund, zu glauben, daß er sich in dieser Gegend befindet?«

Was sich entspinnt, liest sich als Gaukler- und Schelmenroman mit zivilisationskritischen Untertönen. May lässt seine Helden nie Gewalt anwenden. Sie wehren sich höchstens, und selbst dann wollen sie nichts und niemanden töten. Der Erzähler bedauert auch das Schicksal der Bisons und der Wildpferde, und assoziiert bereits die ersten Umweltverschmutzungen, die hier der Ölprinz bewirkt, um eine unermessliche Ölquelle zu simulieren. Die edlen Kämpfer auf Seiten der Navajo und Nijora lassen sich zeitweise an der Nase herumführen, finden jedoch alsbald zum Frieden zurück:

Dieser gab die Friedenspfeife an Mokaschi, welcher sich auch erhob, die gleichen sechs Züge that und dann ebenso laut wie Nitsas-Ini verkündete: »Hört, ihr Krieger der Navajos und Nijoras, der Tomahawk des Krieges ist wieder in die Erde versenkt. Die Männer der Navajos öffnen den Kreis, mit dem sie uns umschlossen haben, und sind dann unsre Brüder. Ich habe das mit dem Calumet bestätigt und es ist ganz so, als ob meine Krieger es gesagt und die Pfeife dazu geraucht hätten. Ich habe gesprochen, howgh!«

Ärgerlich: die wiederholende, didaktische Art, unanschaulich das Spähen und Suchen von Spuren aufzuarbeiten, das sich über Seiten hinzieht, obwohl bereits alles vom Erzähler wiederholt dargelegt wurde. Viele Szenen, nächtliches Anschleichen, Gefangennahme, das Aussenden von Kundschaftern wiederholt sich viel zu oft.

Erfreulich: Szenen, die ins Herz der Westernmystik führen, schnelles, spannendes Handeln, die Freundlichkeit und Höflichkeit von Winnetou, das zeitweilige Erfühlen und literarische Gestalten der Weiten des nordamerikanischen Kontinents.

Obwohl es mir zeitweise große Freude bereitet hat, wirkte das ausgeschwurbelte, verspielte, bizarre Handlungsgewirke doch oft zu gestreckt und die Situationen zu vorhersehbar. Ein Hunderte Seiten andauernde Lesefluss kam nicht auf. Ich werde dennoch „Der Schatz im Silbersee“ gerne lesen, denn die Figuren wurden von Seite zu Seite lebendiger und haben tatsächlich ein Eigenleben bekommen. Literarisch passiert so gut wie nichts. Karl May verwendet Sprache. Er gestaltet sie nicht.


Cees Nooteboom: „Über das japanische Kloster Kozan-ji“

Über das japanische Kloster Kozan-ji und die Zeichnungen der 'Lustigen  Tiere'

In einer lauten Welt, leise geschrieben. Wenig Worte, umso mehr Ruhe.

Nooteboom reist viel und gerne und berichtet über seine Reisen in autobiographischer Form. Mit Autofiktion besitzt sein Schreiben keinerlei Verwandtschaft. Er rekapituliert, reflektiert, versinnbildlicht seine eigene Erfahrungen in verdichtender Art und Weise:

Mit fünf Menschen, die ich nicht kannte und deren Sprache ich nicht verstand, stand ich also leise summend in diesem ausgeschmückten Raum und fühlte mich wohl dabei, für kurze Zeit war die Logik des Denkens ausgeschaltet und ich stand einfach irgendwo in den Bergen mit ein paar Unbekannten, die ich noch nie gesehen hatte, ohne zu wissen, was ich da sang.

In seiner typisch bescheidenen Form berichtet Nooteboom über eine seiner Japanreisen. Kurz, verdichtend, intensiv verharrt die Zeit in den langen, gewundenen Sätzen, dreht sich um sich selbst, kehrt inne und verliert sich im Bekannt-Unbekannten eines kulturell überlieferten Wissens. Im Zentrum hier eine gezeichnete Tempelrolle voller Tiere, die springen, motzen, gaukeln und miteinander leben.

[…] es sind Tiere, die aussehen wie Menschen, aber doch Tiere bleiben, sie tanzen, kämpfen, verspotten einander, purzeln übereinander, bilden kleine Gruppen, dies sind keine Buddhisten, die Sutras singen und sich rituell verneigen, es sind von jemandem ersonnene Wesen, die ebenfalls in diesem Kloster leben, die Welt jedoch als Spiel begreifen, das man keinesfalls zu ernst nehmen darf.

Bei Nooteboom gibt es kein Müssen, keine Notwendigkeit, kein Schicksal. Es gibt Leben, das sich als Leben unter Leben begreift und dieses mittels Kunst, Sprache, Poesie besingt. Ein sehr kurzes Buch, mit Fotos und einer Reproduktion der Tierzeichnungsrolle, eher eine Lücke im Wortrauschen, das umso erholsamer ist und zum Wiederlesen einlädt.


Tomer Dotan-Dreyfus: „Birobidschan“

Birobidschan : Dotan-Dreyfus, Tomer: Amazon.de: Bücher

Wirr, überladen, sprachlich unterhalb der Schmerzgrenze trotz starken Anfangs und interessanten Settings.

Das zweite Buch der Shortlist des Bloggerpreises „Das Debüt“ lockt mit einem geheimnisvollen Cover, das einen Stahlarbeiter zeigt, der vor einer übergroßen Hebel- oder Pressvorrichtung steht. Selten hat ein Cover weniger mit einem Inhalt zu tun gehabt wie bei Tomer Dotan-Dreyfus‘ Debütroman „Birobidschan“. Dort geht es nicht um Stahlarbeit, um die Verfertigung einer Transsibirischen Eisenbahn, um die Härten und Zumutungen der sowjetischen Industriearbeit. Stattdessen dreht sich alles um Familie, Partnertausch und verschwundene Ehemänner:

Rachel sah ihren Vater [Gregory] nie wieder, aber er sah sie. Ab und zu war er da, im Hintergrund, zwischen Bäumen und Büschen, als würde er in diesem Zeitpunkt in Tunguska, im Wald, im ewigen Hintergrund feststecken. Sogar die Beerdigung von Jakov beobachtete er aus der Ferne. So gern hätte er hingehen und Josephin [Rachels Mutter] noch einmal umarmen wollen. Aber die Distanz … man gewöhnte sich nicht nur an sie, man wurde davon abhängig.

Dotan-Dreyfus betreibt ein ausführliches Versteckspiel um eine magere Handlung, die im wesentlichen von zwei Roadtrip erzählt, dem von 1990, auf welchem Rachels Vater Gregory verschwindet, und den 2007, auf welchem Rachel verschwindet. Beide Roadtrips führen mehr oder weniger in die Nähe von Tunguska, welches samt seines berühmt-berüchtigten Ereignisses aber keinerlei Rolle in dem Roman spielt. Auch das historische Setting Birobidschan wird glattweg ignoriert. So etwas wie Geschichte existiert sowieso nicht:

Ich bin der Erzähler dieser Geschichte. Ich bin der Versuchsleiter. Die Beziehung zwischen einem Erzähler und einer Geschichte ist immer rund: Es gibt ein Innerhalb und ein Außerhalb – aber wer oder was befindet sich in wem oder in was?

Im Eiltempo werden so ziemlich alle aktuellen Debatten per Drag-and-Drop gestreift: Pandemie, Sexismus, Kunst und Politik, Depression, Trauma, Schusswaffenbesitz, Flüchtlingswelle etc … und zwar auf eine Weise, die aus „Birobidschan“ einen kitschbeladenen Wortsalat werden lassen und das historische Setting als Stichwortgeber missbraucht. Philosophische Themen garnieren das Chaos nur oberflächlich. Wer Ordnung in das Chaos bringt, merkt, wie leer das Buch eigentlich ist:

Gregory nickte, obwohl ihn dieser Satz, weit weg von Birobidschan, sogar noch weiter davon zu entfernen schien. Eine frische Sehnsuchtswelle nach seinem Heimatsschtetl brach sich in seinem Herzen wie an einem Wellenbrecher, und als das Wasser sich zurückzog, blieben winzige Salzkörnchen schmerzend zwischen den Felsen seines Herzens.

Was nach guten, narrativ dichten Anfang passiert, lässt sich nur Kabarett oder dadaistische Performance mit hintergründigem Wollustverlangen verstehen. Eine Unzahl an Figuren, die irgendwie miteinander verwandt, verbandelt, sexuell liasoniert sind, werden eingeführt, ohne ihnen Kontur, Persönlichkeit, ohne ihnen Geschichte, ein Gesicht, ja Aussehen, eine Verbindlichkeit zu geben. Zumindest aber haben sie Sex in freier Wildbahn. Der Erzähler interessiert sich schlichtweg nicht für sie und auch nicht für seine Handlung, die symbolträchtig als ein Feuerwerk der Belanglosigkeit in einem Autounfall auf einer Straße Richtung Moskau verpufft.

Wäre nicht die schlechte Sprache, die ungekonnte Grammatik, die fehlverwendeten Adjektive und die vielen, vom Lektorat nicht behobenen Fehler, wäre nicht diese rastlose, sich selbst überholende Konfusion und das aberwitzige Räsonieren über Zeit als Illusion und Einbildung, könnte „Birobidschan“ als Witz à la Ephraim Kishons Kabinettstückchen durchgehen. So aber bleibt auch dieses Hintertürchen versperrt. Tomer Gardis „Eine runde Sache“, das ähnlich Antiliterarisches unternimmt, überzeugt da mehr, insbesondere im aberwitzigen ersten Teil voller Selbstironie und Leichtigkeit, die leider bei „Birobidschan“ vollends abhandenkommt.


Grit Krüger: „Tunnel“

Tunnel: Roman : Krüger, Grit: Amazon.de: Bücher

Episodenhaft geschrieben, jedoch mit klarer Einheit in Raum und Zeit mit dramatischer Zuspitzung und in sich rundender Allegorie. Sprache, die bröckelt, aber der Wille zum Symbolischen zeigt sich tiefgründig.

Der Debütroman „Tunnel“ von Grit Krüger lese ich im Rahmen des Bloggerpreises „Das Debüt“. Die Shortlist beginnt für mich direkt mit einem außergewöhnlichen Roman, der mit dem Willen zur Allegorese dem Alltag auf den Pelz rückt. Die Protagonisten heißen Mascha, Enders, Tomsonov und Tinka. Sie sind arm, leben prekär, stehen irgendwie windschief zur Gesellschaft:

Der Wagen fährt an ihr vorbei, verschwindet hinter dem Hügel. Mascha sieht ihm noch nach, hält sich davon ab, stehen zu bleiben. Abdrehen möchte sie, quer über die Felder davonpreschen – aber reißt sich zusammen, geht weiter. Was soll so ein Ort auch weiter mit ihr zu tun haben? Nicht stehen bleiben. Ein Termin nur, nicht zögern.

Mascha will ihrem Alltag entfliehen. Bis auf ihre sieben Jahre alte Tochter Tinka zeigt sich dieser nur von der grauen und erbarmungslosen Seite, denn ihre Liebesbeziehung, Enders, treiben ebenfalls nur, eigenbrötlerisch trübe Gedanken um:

»Ist gut.«
»Ist es nicht. Es ist beschissen.«
»Enders, ist gut.«
»Eine beschissene Scheiße ist es.«
»Enders.«
»Ein Drecksleben und eine Scheiße.«
»Ja und? Dann wühl dich raus.«

Hier geht die Metapher auf und Form schlägt in Inhalt um. Mascha wühlt sich nämlich tatsächlich heraus. Mit Tomsonov, einem Ex-Musiker aus dem Ostblock, beginnt sie einen Fluchtplan aus dem Altersheim auszuhecken, in welchem sie (noch) alle einquartiert sind. Tomsonov völlig unfreiwillig, denn er möchte lieber in die Freiheit, auch wenn ihm gesundheitliche und geistige Kapazitäten dazu abhandengekommen zu sein scheinen.

Noch einmal, er muss zurück, er muss seine Tochter noch einmal hinbringen, um ihr zu erzählen, das man nicht zu still sein durfte in den Blocks. Nein, bei Stille haben sie noch genauer hingehört – was man sagt, laut genug, muss man unter Kontrolle behalten. Es bleibt, etwas im Polster zu verstecken, in einer Geste, in Flötenarrangements. Aber wie kann man das jemandem verständlich machen, am Telefon, ohne zu fahren, ohne noch einmal dort zu sein?

Grit Krüger gelingt eine eigenartige Melange. Ihr Schreiben besitzt keine Konsistenz. Die Wörter werden hingeworfen wie Brocken. Oft werden die Sätze vor Hektik und Desinteresse nicht ausformuliert. Es bleibt bei Stichworten. Diaphan, fast kaum vorhanden, flirrt das Textgewebe fort und umhüllt ein seltsames Etwas an Allegorie, nämlich die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Das ganz Andere, in das führt der Tunnel, in die Freiheit, die gelungene Flucht, der Ausweg, auch wenn das bedeutet, geliebte Menschen, obgleich vielleicht nur vorerst, zurückgelassen werden müssen.

Das Anstaltsleben erinnert an Rainald Goetz‘ „Irre“, auch durch seine Sprach-Fahrlässigkeit. Es erinnert auch etwas an Clemens Setz‘ „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ ob der Psychopathologien der einzelnen Bewohnern und Figuren. Vor allem aber wird der Text, je länger er anhält, eine Art Kafka, zerbrochen, verwüstet, ein Suchen nach Sinn, ein Zerborsten des Bedeutungsraumes, eine untergründiges Wühlen durch die Kulturtradition nach Halt, „Das Schloss“ nur als Untergrund. Wäre es musikalischer, hätte es träumerisch wie Katerina Poladjans „Zukunftsmusik“ werden können. So hadert es weiter mit sich und der Welt wie Slata Roschals „153 Formen des Nichtseins“ und macht wie dieses neugierig auf das nächste Werk, zumal bei diesem die letzte, sich öffnende Wendung der Allegorie fehlt. Inhalt und Form gehen hier einfach zu weit auseinander.


George R.R. Martin: „Der Thron der sieben Königreiche“

Der Thron der Sieben Königreiche (Das Lied von Eis und Feuer, Band 3) eBook  : Martin, George R.R., Helweg, Andreas: Amazon.de: Kindle-Shop

Eine Welt aus den Fugen und ein hilfloser Erzähler mittendrin, der nicht weiß, wohin er schauen soll und so fast gar nichts sieht.

Im Folgenden keine Spoiler. Ein selbstzufriedener König Jeoffrey in Königsmund treibt seine Späße, wird bevormundet von seiner Mutter Cersei und beraten von seinem Onkel Tyrion, die untereinander um die geheime Vorherrschaft kämpfen. Zwei Brüder, Stannis und Renly, die um die Vorherrschaft in ihrer Familie ringen und sich den Thron sehnlichst wünschen, gehen aufeinander los, und eine alte Fehde zwischen den Starks und den Graufreuds führt eine Art bärbeißiges Wikingervolk in die Buchreihe ein, während jenseits der Mauer eine Expedition nach Überlebenden und im Osten Daenerys eine Bleibe in der Roten Wüste sucht.

»Bist du eine von Crasters Töchtern?«, fragte er. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. »Jetzt seine Frau.« Während sie den Wolf nicht aus den Augen ließ, kniete sie traurig neben dem zerbrochenen Stall. »Ich wollte Kaninchen züchten. Wir haben keine Schafe mehr.«

Das Zitat zeigt ein Problem von George R.R. Martin auf. Seine Erzählweise bleibt inkohärent. Sie gibt den Figuren keine Tiefenschärfe, und sie erzeugt verstörende Dialoge, deren Sinn und Zusammenhang erraten werden müssen, sobald sie nicht nur illustrativ gelesen werden sollen. Ansonsten ist das „Kaninchen züchten“ nur ein Sinnbild für „die Unschuld vom Lande“, und die Schafe, die Wärme und Freundlichkeit geben, müssen ersetzt werden, warum also nicht von den Kaninchen, die Schwangerschaft spielt keine Rolle. Dass das alles wenig mit dem Missbrauch, dem Inzest, der Gewalt zu tun hat, die nebenbei angesprochen wird, liegt auf der Hand. Die Antwort von Jon verwirrt noch mehr:

»Die Wache wird sie dir ersetzen.« Jon selbst besaß kein Geld, sonst hätte er es ihr angeboten … obwohl er nicht wusste, was man mit ein paar Kupfermünzen oder gar einer Silbermünze hinter der Mauer anfangen sollte.

Die Elefant im Porzellan heißt bei George R.R. Martin Empathie. Es fehlt dem ganzen Roman an Innerlichkeit, an Verbindlichkeit, an Kommunikabilität. Vor diesem Hintergrund wirken die allseitigen Versuche der Diplomatie völlig vergeblich, und zwar von Anfang an. Das Einzige, das zählt, ist Gewalt und Geiselnahme, Vergewaltigung und Tötung, Drohung und Vernichtung, zumal noch immer keine Fantasyelemente in die Handlung eintreten. Statt dessen wollüstiger Sadismus:

Der Rest wird uns in die Hände fallen, die Wälder, die Felder, die Hallen, und wir werden das Volk zu unseren Leibeigenen und die Frauen zu unseren Salzweibern machen. « Aeron Feuchthaar hob die Arme. »Und die Fluten des Zorns werden steigen, und der Ertrunkene Gott wird sein Reich über die grünen Lande ausdehnen.«

Das völlige Fehlen von Gesetzen, Tradition, Bräuchen, von jedwedem Fundament, auf das sich die sich streitenden Völker beziehen könnten, lässt das Buch zu einer Lose-Blatt-Sammlung von Gewalt- und Inzestanekdoten werden. Einzige Hoffnung, oder gar Lichtblick, besteht in Martins Versuch, einen religiösen Hintergrund zu etablieren – aber auch hier setzt Martin wieder auf Masse statt auf Klasse und verwirrt die Angelegenheiten so noch mehr.


Alfred Kubin: „Die andere Seite“

Die andere Seite : Alfred Kubin: Amazon.de: Bücher

Dem Strudel des Traumatischen entgegen geschrieben, um dann doch in ihm zu versinken. Kompositorisch eine Literatur aus einer anderen Welt. Phantastisch in jedem Sinne.

Alfred Kubin, Illustrator von Beruf, hat mit „Die andere Seite“ aus dem Jahr 1909 zeitlebens nur einen Roman geschrieben, der aber bei schreibenden Zeitgenossen (u.a. Franz Kafka, Hermann Hesse, Gustav Meyrink) auf große Resonanz traf und viele Techniken des späteren Surrealismus vorweggenommen hat. Er schrieb den Roman aus der Dringlichkeit heraus, um den ihn bedrängenden  inneren Dämonen, die ihn zerwühlen, eine Form zu geben, und genau so liest sich der Text:

Verrenkte Arme und Beine, gespreizte Finger und geballte Fäuste, geblähte Tierbäuche, Pferdeschädel, zwischen den langen gelben Zähnen die wulstige blaue Zunge weit vorgestreckt, so schob sich die Phalanx des Untergangs unaufhaltsam vorwärts. Greller Lichtschein flackerte und belebte diese Apotheose Pateras.

Ein Zeichner, der in München mit seiner Frau lebt, erhält einen sonderbaren Besuch und durch diesen eine Nachricht von einem ehemaligen Schulkameraden, Patera, zugestellt, der zu unermesslichem Reichtum gekommen ist und ein Traumreich im fernen Asien nach seinem Gusto gegründet hat. Nur handverlesene Individuen dürfen einreisen. Der Ich-Erzähler gehört dazu und nimmt die Einladung, nachdem sich der 100,000 Mark-Scheck als gedeckt erwiesen hat, gerne an, trifft aber auf eine sehr seltsame Welt mit sehr seltsamen Einwohnern:

Die Massen waren ebenfalls nach dem Gesichtspunkt des Abnormen oder einseitig Entwickelten ausgewählt: Schöne Potatorentypen, mit sich und der Welt zerfallene Unglückliche, Hypochonder, Spiritisten, tollkühne Raufbolde, Blasierte, die Aufregungen, alte Abenteurer, die Ruhe suchten, Taschenspieler, Akrobaten, politische Flüchtlinge, ja selbst im Ausland verfolgte Mörder, Falschmünzer und Diebe u. a. m. fanden Gnade vor den Augen des Herrn. Unter Umständen befähigte sogar schon ein ins Auge fallendes Körpermerkmal, ins Traumland berufen zu werden. Daher die vielen Zentnerkröpfe, Traubennasen, Riesenhöcker.

Das friedliche Leben im Traumreich steht bei diesen Bewohnern offensichtlich auf Messers Schneide und gerät letztlich völlig aus den Fugen, als ein US-Amerikanischer Multimillionär namens Herkules Bell auftaucht und gegen Patera und seine Regierungsform wettert. Der Ich-Erzähler, der mehr und mehr unter den Bedingungen im Traumreich leidet, gerät in einen Strudel voller Gewalt, Phantasmagorien, Epidemien und Orgien, die über das Traumreich hinweg branden, bis kaum noch etwas übrig ist.

Es war ein Blutozean, der sich, soweit meine Blicke schweiften, da unten dehnte. Die purpurnen heißen Fluten stiegen immer höher, meine Füße wurden von dem rosenfarbenen Schaum der Brandung bespült. Ein ekelhafter Dunst stieg mir in die Nase. — Das rote Meer trat zurück und verfaulte vor meinen Augen; immer dicker und dunkler und schwärzer wurde das Blut, während es manchmal in allen Farben des Regenbogens schillerte. Oft teilte sich die zähe Flüssigkeit, es ward der Grund dieses Meeres sichtbar, der mit weichem Kot bedeckt war und entsetzliche Dämpfe verbreitete.

Alles, was George R.R. Martin in Das Lied von Eis und Feuer nicht einlöst; alles das, was in Haruki Murakamis eng an Kubins Roman angelegte Die Stadt und ihre ungewisse Mauer einfach nur fehlt; wo Franz Kafka wie in Der Process lieber drüber schweigt und Hermann Hesse in Der Steppenwolf nur ansatzweise drauf eingeht, die unbewussten, verdrängten, phantasmagorischen Schichten, aber vor allem die sich unbändig selbst diktierende Écriture automatique der Surrealisten; all das kommt bei Kubin in Die andere Seite zum Vorschein und zum Tragen. Sein Roman steht hiermit in der Reihe der Versuche, tief in die Psyche des Einzelnen hinabzusteigen, sich von nichts und niemandem bange machen zu lassen, tiefer und tiefer zu bohren, um der Literatur und mit ihr der symbolischen Form neue Horizonte zu erschließen. Ein Leseereignis.


Lukrez: „Welt aus Atomen“

Lukrez: De rerum natura / Welt aus Atomen | Reclam Verlag

Unbeirrbarer Hedonismus gepaart mit kaleidoskopischer Atomfülle voller Honig und Fröhlichkeit. Der philosophische Höhepunkt des Reduktionismus schlechthin.

Lukrez‘ philosophisches Versepos bietet eines der ersten systematischen philosophischen Werke, in denen das System des Materialismus zur Entfaltung gebracht wird. Lukrez übt sich in Nachfolge Epikurs und Demokrit darin, alles Sichtbare auf die Wechselwirkung von Atomen zurückzuführen. Mit Lukrez wurde mithin der Reduktionismus salonfähig:

Daraus schließt man mit Recht, daß aus glatten und runden Atomen/ Alles besteht, was unseren Sinn wohltuend berühret:/ Alles, was bitter hingegen und rauh scheint, muß durch Atome,/ Die mehr Haken besitzen, genau miteinander verknüpft sein./ Deshalb pflegen sie auch die Wege zu unseren Sinnen/ Aufzuritzen und so den Eingang zum Körper zu brechen.

In der Lateinisch/Deutschen-Ausgabe Reclams besteht das fast vollständig überlieferte philosophische Werk des Lukrez aus sechs Büchern. Grob zusammengefasst erörtert er die Grundlagen des Atomismus in Buch 1, wohingegen er dieses System in Buch 2 zum Erklären von Phänomenen verwendet. Im dritten Buch kommt er auf die berühmte Weise zu sprechen, wie Epikur die Todesfurcht überwindet, und fügt eine Abbildlehre hinzu, die bis über Leibniz zu Hans Heinz Holz ins 21. Jahrhundert weitergetragen wurde und noch immer als materialistische Antwort auf die kantische Apperzeptionslehre dient. Er schließt mit einer Kosmologie und Meteorologie, die auch die athenischen Epidemien samt Keuchhusten inkludiert. Wegweisend bleibt jedoch seine Individualitätslehre:

Aber nachdem ich gelehrt, wie beschaffen die Urelemente/ Sämtlicher Dinge und wie sie verschieden durch mancherlei Formen/ Eigenem Triebe gehorchend in ew’ger Bewegung sich tummeln/ Und wie hieraus sich alles im einzelnen könne gestalten,/ Will ich dir jetzo die Lehre beginnen, die eng sich daranschließt,/ Über die Bilder der Dinge

Viele archetypische Denkprobleme ergeben sich für Lukrez, bspw. das Seele-Leib-Problem, die Abbildtheorie, die Quantelung des Lichts, und die Fernwechselwirkung der Schwerkraft, ebenso ganz diesseitige wie das Entstehen von Donner und Blitz, von der Rundheit der Welt und die dazugehörige Rundheit der Atome. All dies, das principium individuationis und die adaequatio rei atque cogitationis, führt bei Lukrez zuletzt zu seinem fröhlichen selbst sich immunisierenden Hedonismus:

Nur dies glaub‘ ich dabei als sicher vertreten zu können,/ Daß es nur wenige Reste des angeborenen Wesens/ Gibt, die sich nicht durch Vernunft vollständig beseitigen ließen./ So steht nichts uns im Wege, ein göttliches Leben zu führen.

Die Furchtlosigkeit seines Denkens bricht sich gegen die Gewalt der Begriffe bahn. Er fluidisiert sie. Er spielt mit ihnen. Er wagt mit ihnen und über sie hinaus zu denken. Lukrez‘ Logik schlägt so manchem Purzelbaum und je genauer die Argumentation rekonstruiert wird, desto schleierhafter wird manches. Das aber verleiht dem widerborstigen Werk nur noch mehr Stacheln, an denen es sich zu reiben und zu kratzen lohnt. Das naive und fröhliche Drauflos-Denken kennt Lukrez als seinen Gründer. Furchtlos der Vielfalt entgegentretend, hat der Reduktionismus dort seinen Höhepunkt erreicht, wo er als homo ludens auftritt. Der Rest, bis hin zur Schrödingers Katze und der Heisenbergsche Unschärferelation, bleibt nur ein Addendum zu Lukrez‘ kaleidoskopischen Kosmologie und nimmt höchstens diesem tummeligen Atomwirrwarr so manchen überraschenden Zauber.


Haruki Murakami: „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“

Mühsam verkitteter Allegorie-Exzess, oder wie Sprache gegen sich selbst kämpft und das Erzählen dabei auf der Strecke bleibt. Seltsam nahe am Bedeutungsnirwana.  

Ob es an der Übersetzung liegt (mir wurde versichert, dass nicht), Stilist ist Haruki Murakami jedenfalls nicht. Auch in „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ hakelt und radebricht es von Seite zu Seite im Stolperschritt:

In diese diffusen Gedanken versunken, schritt ich durch die abendliche Dämmerung. Auf Höhe des Uhrturms warf ich gewohnheitsmäßig einen Blick auf die zeigerlose Uhr, die nicht die Zeit anzeigte, sondern deren Bedeutungslosigkeit veranschaulichte. Die Zeit ist nicht stehen geblieben, hat aber ihre Bedeutung verloren.

Absätze wie diese konzentriert gelesen, fallen in sich zusammen. Wie kann etwas, das fehlt, eine Bedeutungslosigkeit veranschaulichen? Und was hat das Stehenbleiben der Zeit mit ihrer Bedeutung zu tun? Bei der Lektüre „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ häufen sich solche Sätze, die entweder metonymisch Katachresen erzeugen oder letztlich tautologisch ineinander übergehen und die Erzählung auf der Stelle treten lassen:

War ich dieses wahrere Ich geworden? War es – dieses Ich, das ich nun war – mein wahres Ich? Aber wer konnte schon beurteilen, ob er sein wahres Ich war oder nicht? Wie sollte man eindeutig zwischen einem Subjekt und einem Objekt unterscheiden, die miteinander verschmolzen waren? Je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger begriff ich.

Worum geht’s? Ein Ich-Erzähler verliebt sich in jungen Jahren. Das Mädchen verschwindet, bevor es aber verschwindet, imaginieren sie gemeinsam eine geheimnisvolle Stadt, in der sie gemeinsam leben und voneinander träumen könnten. Der Ich-Erzähler wächst auf, vergisst das Mädchen nie, und trifft fortan auf Repräsentanten seines jüngeren und älteren Ich. Es trifft auch auf Repräsentanten des jungen Mädchens, und all dies im Zusammenhang mit dem Leib-Seele-Problem, dem Unbewussten, dem Traum und der Frage, was ist ein Traum, was Wirklichkeit und eigentlich Fiktion?

Ich weiß nicht, wie viel davon wahr ist und wie viel Fiktion. Aber die Stadt gewährt mir diese Freuden und Gefühlsregungen.

Der Ich-Erzähler weiß sehr wenig. Er weiß nicht, wann er schläft, wann er träumt, was er fühlt, was er begehrt, was er sich wünscht. Er weiß nicht, Tod und Leben zu unterscheiden, Subjekt von Objekt zu trennen. Im Grunde lässt er sich treiben und will auch nichts anderes, als sich treiben zu lassen:

„»Sind Sie aus Tokio hierher in die Berge gezogen, um [die Liebe ihres Lebens] zu vergessen?«
Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, so einen romantischen Grund hatte ich nicht. Egal, wo man ist, in der Stadt oder auf dem Land, es ist immer das Gleiche. Ich schwimme einfach mit dem Strom.«“

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ will niemandem ans Leder. Der Roman entzieht sich allen Fragen, allen Bedeutungsebenen. Friedlich, geruhsam, sanftmütig schleicht der Ich-Erzähler durch die Nächte, den Winter, während Schnee unter seinen Schuhen knirscht. Er wünscht sich eine andere Welt. Er wünscht sich Zauber, Mystik und Transzendenz, Einhörner, Gespenster und auch Blaubeermuffins. Leider findet das alles nicht zusammen.

Es besitzt Stellen, die komisch sind, wie Halldór Laxness‘ „Am Gletscher“, in denen ebenfalls die Transzendenz und das Leben nach dem Tod verhandelt werden. Es enthält etwas von Alfred Kubins Traumwelt „Die andere Seite“, in der das Unbewusste sich zeigt und wütet (martialisches Prokreation der Einhörner, bspw). Und es besitzt das Impressionistische von Joshua Groß‘ „Prana Extrem“, und das Dunkle, Wiederkehrende von Jon Fosses „Der andere Name“.

Im Grunde wirft Murakamis Sprache aber das weiße Handtuch. Er will nicht festgelegt werden, und niemanden festlegen. Er will einfach lauschen, spazieren gehen, vor sich hindümpeln und in Ruhe gelassen werden. „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ lädt zu einer leeren, fröhlichen, sinnlosen Fahrt ein – und das Erzählen, na ja, es ersetzt einfach die Stille, so dass es noch nicht einmal ärgerlich ist.


Thomas Bernhard: „Der Untergeher“

Schonungsloses Selbstzerfleischen führt zum humoristische Befreiungsschlag. Lachen statt Untergangsstimmung.

Mit „Der Untergeher“ leitet Bernhard 1983 seine letzte Werkphase ein, die mit seinem Opus Magnum „Auslöschung. Ein Zerfall.“ ihren Höhepunkt 1986 findet. Dazwischen arbeitet er sich mit „Holzfällen“ (1984) am Theater, mit „Alte Meister“ (1985) an der Malerei ab, bevor er mit „Auslöschung“ die Kultur als Ganzes in das Räderwerk seiner Selbstgespräche zieht und zermalmt. Die Selbstzerfleischung beginnt Bernhard in „Der Untergeher“ mit der Musik:

„Glenn und die Rücksichtslosigkeit, Glenn und das Alleinsein, Glenn und Bach, Glenn und die Goldbergvariationen, dachte ich. Glenn in seinem Studio im Wald, sein Haß auf die Menschen, sein Haß auf die Musik, sein Musikmenschenhaß, dachte ich. Glenn und die Einfachheit, dachte ich, das Gastzimmer betrachtend.“

Der Ich-Erzähler erreicht auf dem Weg zum Anwesen seines Freundes Wertheimers, von dessen Beerdigung er kommt, ein Gasthaus, die„Dichtelmühle“, und lässt seine Erinnerungen und Gedanken um das Musik-Genialische kreisen, das in der Gestalt Glenn Goulds personifiziert wird. Der Ich-Erzähler möchte die aphoristische Hinterlassenschaft seines Freundes besichtigen, bevor diese vernichtet wird, muss aber nach dem Eintreffen in Traich einsehen, dass er zu spät gekommen ist. Wertheimer hat selbst dafür gesorgt, dass von seinem schriftlichen Werk nichts mehr übrigbleibt:

„Er wisse nicht, was für Zettel ich meinte, sagte der Franz, um dann doch von der Tatsache zu berichten, daß Wertheimer an dem Tag, an welchem er sich in Salzburg, im Mozarteum, sagte er, das Klavier bestellt habe, also einen Tag, bevor die vielen Leute nach Traich gekommen sind, die Traich mehr oder weniger verwüstet haben, ganze Haufen von Zetteln im sogenannten unteren Ofen, also im Speisezimmerofen, verbrannt habe. Er, Franz, habe seinem Herrn dabei geholfen, denn die Zettelstöße seien so groß und schwer gewesen, daß Wertheimer selbst sie nicht hinunterschleppen habe können.“

Die Bernhardsche Selbstzerfleischung dreht sich um die Körperlosigkeit, die diaphane Anti-Präsenz der Intellektuellen, die sprechen und sprechen, schreiben und schreiben, um im Werk eine Dauerhaftigkeit zu erlangen, die leiblich gesehen unmöglich bleibt. Immer wieder wird über das Schwächliche Wertheimers, über die Verletzbarkeit des Ich-Erzählers, über das Dahinraffen des Körpers lamentiert, nur Glenn Gould, der einzig wirklich Erfolgreiche des Trios, besaß eine gewisse, sich selbst behauptende Körperlichkeit:

„[Glenn] war tatsächlich ein athletischer Typus, viel stärker als Wertheimer und ich zusammen, das hatten wir gleich wieder gesehen, als er daran gegangen war, eine ihm, wie er selbst sich ausdrückte, im Klavierspiel hinderliche Esche vor seinem Fenster umzuschneiden, eigenhändig. Er sägte die Esche, die einen Durchmesser von mindestens einem halben Meter hatte, allein um, ließ uns gar nicht an die Esche heran, zerkleinerte die Esche auch gleich und schichtete die Scheiter an der Hausmauer auf, der typische Amerikaner, hatte ich damals gedacht, dachte ich.“

Das thema probandum Bernhards, inwiefern Kunst die körperliche Tätigkeit ersetzt, zieht sich durch sein ganzes Werk. Das Ergebnis lautet: Kunst ersetzt nie die materielle, wechselwirkende Tätigkeit. Sie zerfleischt sich im Anspruch, Realität zu werden, und gibt sich der Lächerlichkeit und Vergeblichkeit preis. In „Der Untergeher“ wird dies anhand der Wirtin, dem Holzknecht und Tiraden auf den sozialistischen Materialismus ausexerziert – und doch zerstören sich die Schriftstücke wie von selbst und der Ich-Erzähler beginnt seinen Text über Glenn Gould immer wieder von neuem, da das Geschriebene als Geschriebenes nun einmal nicht ausreicht:

„Denn immer glauben wir, wir sind authentisch und sind es in Wirklichkeit nicht und glauben, wir sind konzentriert und sind es in Wirklichkeit nicht. Aber natürlich hat diese Erkenntnis bei mir immer dazu geführt, daß schließlich keine meiner Schriften erschienen ist, dachte ich, nicht eine einzige in achtundzwanzig Jahren, in welchen ich mich mit Schriften befasse, allein mit der Schrift über Glenn befasse ich mich seit neun Jahren, dachte ich.“

In sich selbst unterhöhlender Konsequenz rattert, schreibt, rädert der Ich-Erzähler gegen seinen eigenen Lebensentwurf, gegen seine Angst, Behäbigkeit, gegen seine Fremdgelenktheit und Fremdgesteuertheit, ohne sich jedoch befreien zu können. Er tritt auf der Stelle. Er kommt nicht vorwärts und hasst sich dafür. Der Roman „Der Untergeher“ wendet dies sprachlich durch slapstickartige Offensichtlichkeit ins Humoreske: In der schonungslosen Darstellung dieser ‚Sackgassenmenschen‘ invertiert sich das Thema zu einem Befreiungsschlag. Lachen ist möglich und Leben trotz oder gerade mit Kulturpessimismus auch.


Stefan Zweig: „Schachnovelle“

Eine Novelle mit zwei Gesichtern … interessant, energiegeladen, auf dem zweiten Blick aber dualistisch, holzschnittartig komponiert.

Zweigs „Schachnovelle“ liest sich schnell und fesselnd. Ihr Aufbau strebt einem klaren Höhepunkt entgegen: die Erzählung Dr. B.s, wie er in die Gefangenschaft der Gestapo gerät und dieser entkommt. Die Geschichte nimmt beinahe exakt das zweite Drittel der Novelle ein. Das erste Drittel befasst sich mit dem ungeheuerlichen Aufstieg von Mirko Czentovic vom Bauernwaisen zum amtierenden Schachweltmeister, und das letzte Drittel mit dem Aufeinandertreffen der ungleichen Kontrahenten in einem von einem US-Amerikaner bonierten Schachwettkampf. Dr. B.s Erzählung jedenfalls stellt die Rahmenhandlung ganz und gar in den Schatten:

„Es gab nichts zu tun, nichts zu hören, nichts zu sehen, überall und ununterbrochen war um einen das Nichts, die völlige raumlose und zeitlose Leere.“

Aber dann:

„[…] ein BUCH! Vier Monate lang hatte ich kein Buch in der Hand gehabt, und schon die bloße Vorstellung eines Buches, in dem man aneinandergereihte Worte sehen konnte, Zeilen, Seiten und Blätter, eines Buches, aus dem man andere, neue, fremde, ablenkende Gedanken lesen, verfolgen, sich ins Hirn nehmen könnte, hatte etwas Berauschendes und gleichzeitig Betäubendes.“

Von dieser Handlung berauscht, liest sich die „Schachnovelle“ intensiv. Der Text setzt sich absolut und spielt mit einer auf der Stelle tretenden Handlung, die der Gefangenschaft Dr. B.s gelungenen Ausdruck verschafft. Einstieg und Ausstieg aus der Szenerie, die Rahmenerzählung, dient als Begleiterscheinung, als gelungenes Einstimmen und Ausklingen aus dieser höchst klaustrophisch beschriebenen Isolationshaft.

Näher besehen zeigt sich erzähltechnisch eine schroffe Opposition von dem höchstvergeistigten Dr. B., der aus reiner Imaginationskraft das Schachspiel zelebriert, und dem „matten“ „Spezimen intellektueller Eingleisigkeit“ mit seinem „vermauerten Gehirn“, Mirko, der nur konkret mit Figuren, die er bewegt, Schach zu spielen vermag, aber nicht über das Schachspiel selbst reden kann. Mirko wird im ersten Drittel mit überdeutlich pejorativen Adjektiven versehen. Das Bäuerliche, Gemeine, ja Physisch-Mechanische gilt es zu besiegen, und dies schafft der strahlende Held Dr. B. auch, aber um den Preis, dass er völlig vom Konkreten abstrahiert und das Schachspiel ins rein Imaginative erhebt und den Wahnsinn streift, im Grunde völlig körperlos wird.

In Zweigs „Schachnovelle“ treten Körper und Geist dualistisch auseinander. Mirko, nur Körper, bäuerlich mit mechanischer Schachschlauheit versehen, aber ohne Vernunft, und Dr.B., der aristokratische Feingeistige, der kaum eine Stimme, kaum einen Körper besitzt, beinahe mehr Erscheinung als lebendiges Wesen, der das ewige Reich der Ideen repräsentiert und über das Mechanische triumphiert. Rein kompositorisch klafft eine zu große Asymmetrie zwischen den Figuren, als dass es zu einer Vermittlung kommen könnte. Die Symmetrie, gefangen in einem Hotelzimmer, gefangen auf einem Schiff auf hoher See, reicht nicht. Rahmenhandlung und narrativer Höhepunkt fallen auseinander:

„»Schade«, sagte [Mirko Czentovic] großmütig. »Der Angriff war gar nicht so übel disponiert. Für einen Dilettanten ist dieser Herr eigentlich ungewöhnlich begabt.«“

Die Körperlosigkeit der Konzeption, der Beschreibung, der fast schon mittelalterlichen Dichotomie von Leib und Seele, Bauernschaft und Adel geschuldet, bringt seine widersprechenden Motive nicht zum Klingen. Sie bleiben für sich, starr und unbeweglich, und wirken ganz und gar nicht von moderner Reflexion verflüssigt und durchdrungen. Wer es aber nicht allegorisch, sondern intensiv und perspektivisch liest, und wer denkt, es sei wirklich schlimmer, wohlgenährt, aber einsam in einem warmen Hotelzimmer auf Verhöre zu warten, als „in Stank und Kälte“ blutend und in Eiseskälte, aber mit anderen zusammen zu schuften und zu erfrieren, wie es Dr. B. zu sagen weiß, der wird sich an der Schieflage nicht stören. Ich fand die Frage als Opposition zu irritierend und literarisch auch nicht ausreichend genug vermittelt.


Bernhard Schlink: „Das späte Leben“

Von der Belanglosigkeit des Unvermeidlichen … ein ziemlich schwacher Trost voller Fragezeichen.

Schlink wählt sich gern die großen Themen: Die Vergangenheitsaufarbeitung Nazi-Deutschlands in „Der Vorleser“, der Rechtsradikalismus und die völkischen-identitären Gemeinschaften in Ostdeutschland in „Die Enkelin“, nun der Krebstod in „Das späte Leben“:

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Wenn die Wirbelsäule betroffen ist …« Er strich das zerknüllte Papier glatt. »Herr Brehm, wir haben vor Jahren einmal über den Tod gesprochen, erinnern Sie sich?«

Martin Brehm, 76 Jahre alt, ist nicht der Typ, der sich an etwas erinnert. Er lebt so vor sich hin, ganz zufrieden, genießt es mit einer 34 Jahre jüngeren Frau zusammen zu sein und mit ihr einen sechsjährigen Sohn zu haben. Der Alltag als pensionierter Professor und Sohn eines Professors mit großem Schreibtisch erfüllt ihn, hier und da ein Artikel über Gerechtigkeit für eine Tagung reicht. Der Rest besteht aus häuslichen Vergnügungen, indes seine Frau Ulla ihre Karriere als bildende Künstlerin verfolgt:

Die zwölf Jahre seit der Hochzeit waren gute Jahre. Sie kauf‌ten ein kleines Haus mit Garten am Rand der Stadt. Ulla schloss das Studium ab, verlegte sich ganz aufs Malen, fand ein Atelier und eine Galerie, in der sie ausstellte und immer wieder aushalf, und bekam vor sechs Jahren David. Er lehrte bis siebzig an der Universität und schrieb danach weiter, wandte aber immer mehr Zeit an David und an den Garten und ans Kochen. Er nahm das Leben mit Ulla, dem Sohn und den verbliebenen Tätigkeiten als Geschenk, dem man nicht ins Maul schaut. Manchmal sehnte er sich nach einer liebevolleren, weicheren, wärmeren Ulla.

Konflikte gibt es nur am Rande. Der Tod gehört nicht dazu. Martin ignoriert ihn, sieht diesen eher als Anlass, um ein Zeitmanagementproblem zu lösen, und fährt kurzerhand mit seinem Sohn übers Wochenende weg, um zu wandern und eine Male-Bonding durchzuführen, das nur bedingt gelingt:

»Das hast du toll gemacht, David.« Er machte ein paar Fotos; David wollte nicht stolz vor dem Staudamm posieren, sondern stellte sich scheu daneben.

Martin denkt viel über David und Ulla nach, über das gemeinsame Leben nach, ohne in diesen mehr als nur ein Schattenfigurendasein einzuräumen wie sich selbst. Die Brehms bleiben unterkühlt. Hier und da rollt eine Träne, aber es kommt, wie es kommt, und Ulla findet sowieso noch andere Wege, sich zu amüsieren, indes Martin noch ein bisschen Familienhistorie betreibt, die er in Form eines Briefes an seinen Sohn verfasst:

Dann habe ich noch Großvaters Taschenuhr. Sie steckte in der Tasche seiner Weste und war mit einer silbernen Kette an einem Knopf‌loch festgemacht. Sie ist auch eine Stoppuhr, und als ich ein kleiner Junge war, zog mein Großvater sie unterwegs manchmal aus der Tasche, sagte: »Wie lange du wohl bis zur Schiffsanlege brauchst« oder zum Hochsitz oder zum Friedhof, und stoppte mich.

Brehm bedauert ein wenig, doch nicht intensiv, dass er seinen Sohn nicht aufwachsen sehen wird, auch interessiert es ihn, wie sich der Konflikt zwischen den USA und China entwickelt, welche Rolle Europa einnimmt, aber auch all dies nur am Rande. Sein Leben verlieft gut, und so plätschert es aus, versöhnlich, ohne Angst, ohne Bedauern, ohne Widerstand. In vielen Passagen des Textes scheint es, als wandle Martin Brehm bereits zu Lebzeiten als Geist zwischen den Lebendigen.

Das späte Leben“ erweist sich als ein Buch über ein zufriedenes Leben, über einen lebenssatten alten Mann mit einer viel jüngeren Frau, mit der er genügend Sex haben kann, um gedankenlos einschlafen zu können. Vieles erinnert deshalb an Michel Houellebecqs „Vernichten“, nur eben ganz ohne Dramatik, also eher an Martin Walsers „Das Traumbuch“, nur dieses Mal ohne Witz.

Das selbstzufriedene Geplänkel Schlinks besitzt leider kaum Berichtenswertes, weder Komik noch Tragik, weder Humor noch Spannung, weder Reflexion noch Kontemplation, weder Tiefgang noch Schaumschlägerei und erreicht so einen geradezu abstrusen Grad an stilsicherer Sprachlosigkeit, die nichts als Leere und Fragezeichen hinterlässt (von denen es im Text auch nur so wimmelt).


Benjamin Labatut: „Maniac“

Krachend, fesselnd, explosiv … aber knallhart, mit Wucht am Gegenstand vorbei geschrieben.

Würde ich nochmal ein Buch von Benjamin Labatut lesen? Ja, aber hoffentlich geht es um Jugendbanden, um Boxkämpfe, um wütende Jünglinge, die sich die Hörner abstoßen und der Vergeblichkeit ihres Tuns innewerden. Ich wünsche mir, es spielt in Kolumbien, in den Banlieus von Paris, im Kreuzberg eines verwüsteten Berlins wie Tim Staffels „Terrordrom“, aber nicht in Harvard, am MIT, in Cambridge oder Oxford und reflektiert nicht wutentbrannt über Theoretische Physik, Kybernetik und künstliche Intelligenz, sondern wo der höchste und beste Kick zu finden ist und von welchem Hochhaus es sich mit einem Hängegleiter oder Deltasegler am besten zu springen lohnt, um einen heftigen und langen Ausblick auf die Stadt zu genießen. Doch leider passiert nachgerade das Gegenteil in „Maniac“

[…] dabei verknüpfte er Konzepte aus den verschiedensten Bereichen, Vorstellungen, die er aus einer stetig anwachsenden Zahl von Büchern bezog und mit seiner schwammartigen Intelligenz gierig aufsog. Paul war in der Lage, unterschiedslos alles um sich herum zu absorbieren. Sein Verstand war ganz und gar durchlässig, vielleicht fehlte ihm eine entscheidende Membran, und so war es weniger ein Interesse an der Welt als vielmehr die Welt, die ihn mit ihren vielen Formen bestürmte.“

Vieles passt in dem Stil nicht zusammen, aber was vor allem stört, ist die fehlende inhaltliche Konsistenz, die das Leben Paul Ehrenfests mit dem von John von Neumann und Lee Sedol bzw. Demis Hassabi mehr als nur äußerlich verknüpft. Die über 350 Seiten des Buches bleiben insgesamt anekdotisch, besitzen weder eine Einheit in Raum und Zeit, noch eine konsequent durchgehaltene Erzählperspektive. Im Grunde dienen die Figuren nur als Sprachrohr, um zusammengebasteltes Wissen zu präsentieren, das leider nirgendwo im Buch auch nur im entferntesten in die Tiefe geht. Wie der Computer Maniac funktioniert, wieso Transistoren so wichtig gewesen sind, warum John Bardeen zweifacher Nobelpreisgewinner gewesen ist, wie das Shannon Theorem in die Computerentwicklung hineinspielt, und was es mit dem Turing-Test auf sich hat. Nichts lässt sich aus dem Text heraus verstehen …

„Denn die moderne Kunst lasse keine Gesetze gelten, keine Methode, keine Wahrheit, nur ein blindes, unaufhaltsames Branden, eine Woge des Wahnsinns, die vor nichts und niemandem haltmache und uns vorantreibe, und sei es bis ans Ende der Welt.“

Der Clou von Labatut besteht in einem Zwei-Schritt. Erst wird der Nimbus eines Genies aufgebaut, und dann wird der Nimbus zerstört. Im Falle von Ehrenfest durch die ach so undurchschaubare Unschärfe der Natur (in der vermeintlichen Heisenbergschen Formulierung der Quantenphysik); im Falle von John von Neumann durch die Unvollständigkeit der Mathematik (repräsentiert hier von Kurt Gödels Theoremen); und bei dem nahezu göttlichen Go-Spieler Lee Sedol die künstliche Intelligenz AlphaGo. Hier spielt nur Aufbau und Fall, Triumph und Niederlage eine Rolle – nicht das wie, wieso, weshalb und warum:

„[John von Neumann] saß hinter seinem Schreibtisch, mit bloßem Oberkörper. Auf seiner Haut glänzte der Schweiß, die stolze Wampe ragte hervor, während er unbeholfen Anstalten machte, sich die schwarzen Lederriemen der Tefillin um den Arm zu wickeln, eine weitere Gebetskapsel hielt sich in wackliger Balance über seiner mächtigen Stirn.“

Da, wo Fernanda Melchor berauscht, Atmosphären im schwül-gewaltbereiten Jugendsprech schafft, die Verzweiflung, die Wut, die Unfähigkeit, die Impulse zu kontrollieren beschreibt und bspw. in „Paradais“ erforscht, da bleibt Benjamin Labatut in „Maniac“ oberflächlich und matt, aber nur aufgrund seines ihm entgleitenden Gegenstandes. Das Buch wirkt mechanisch, zusammengeflickt und leider passagenweise von Fachartikeln und Aufsätze abgeschrieben, die nur noch durch Superlative, die „krassesten“, „außergewöhnlichsten“, aufgepeppt und abgeschmeckt worden sind.

Ja, ich werde mir ein weiteres Buch anschauen, vielleicht sogar lesen, aber nicht, wenn es über Gentechnologie, DNA, und Cyborgs handelt, oder gar um Zeitreisen, Satelliten und Dunkle Materie.  Dann lieber und immer wieder Douglas R. Hofstadters „Gödel, Escher, Bach: An Eternal Golden Braid.“


Slavoj Žižek: „Absoluter Gegenstoß“

Als Stichwortgeber, vielleicht. Als Position und theoretische Evokation, völlig unzulänglich.

Žižek schreibt viel. Er schreibt auch darüber, wie viel er schreibt und wie sehr manche seiner Kollegen ihn deshalb beneiden. Sollte dem so sein, lesen sie nicht, was er schreibt. Er schreibt nämlich immer wieder dasselbe. Nach „Weniger als nichts“ schien „Absoluter Gegenstoß“ auf den ersten Blick, als ein Versuch der Weiterentwicklung, eine kybernetische Fortführung des intellektuellen Unternehmens, begriffsstruktuell einen dynamischen Materialismus zu erschließen, denn anders lässt sich der Untertitel: „Versuch einer Neubegründung des dialektischen Materialismus“ nicht verstehen. Weit gefehlt:

„Im Gegensatz zu [dem Idealismus], dessen Problem darin besteht, ausgehend von der ewigen Ordnung der Ideen die zeitliche, endliche Realität zu erklären, muss der Materialismus die Frage beantworten, wie eine ewige Idee aus der Tätigkeit von Menschen hervorgehen kann, die in einer endlichen historischen Situation gefangen sind.“

Nun, hier konfligieren direkt mehrere argumentative Ebenen, bspw. woher Žižeks „muss“ herstammt, wieso der Materialismus als Instanz etwas erklären soll (was sich ja nicht als Materie denken lässt, woraus sofern auch eine Unterbestimmung des Materialismus als -ismus selbst entsteht). Davon abgesehen, also akzeptiert, dass der Materialismus etwas muss, wie lässt sich die Idee der Ewigkeit daraus ableiten. Evolutativ passiert da nichts. Der schnöde, in sich gar nicht differenzierte Idealismus bekommt bei Žižek nur einen materialistisch geläuterten Deckmantel:

Allerdings ist hinzuzufügen, dass, auch wenn die Spaltung zwischen dem Einen und dem »den« das Unhintergehbare ist, der äußerste Horizont unseres Denkens, über den wir nicht hinausgelangen können, das Eine (die signifikante Spur) dennoch Priorität genießt, das heißt, wir befinden uns immer schon im Symbolischen.

»Den« soll ein vorontologisches »weniger als nichts« bei Demokrit bezeichnen. Ins Gewicht fällt hier jedoch, dass die Theorie Žižeks sich rein im Bereich des Symbolischen verortet, wobei sich das Symbolische durch allerlei Techniken, musikalisch, pragmatisch, athletisch, poetisch überschreiten ließe. Als immanente Kritik an einer symbolischen Ordnung aber lässt sich Žižeks Texten viel abgewinnen, so auch in „Absoluter Gegenstoß“. Zumindest lässt er einige philosophiehistorische Begrifflichkeiten in einem neuen, obgleich oft obszönen Licht erscheinen. Das war’s dann aber auch::

Der erste Schöpfungsakt ist somit das Leeren des Raumes, die Schaffung des Nichts (oder, um es freudianisch zu formulieren: Der Todestrieb und die schöpferische Sublimierung sind auf komplizierte Weise miteinander verknüpft).

Wer sich nun fragt, wie der Todestrieb mit der schöpferischen Sublimierung wechselwirkt, geht leider leer aus. Žižek will konstruktiv Verwirrung stiften. Leider bleiben hier vielerlei philosophische Errungenschaften auf der Strecke, zum Beispiel Konsistenz. Žižek improvisiert wie ein Derwisch und tanzt den Tanz der Tausend funkelnden Begriffe, schlägt ein Pfauenrad nach dem anderen und speit Flammen wie ein an sich selbst irre gewordener Feuerschlucker. Mit Philosophie hat dieser Sermon nicht mehr viel gemein. Mit Literatur auch nicht. Eher mit einer sich selbst desavouierenden Intellektualität, die vor lauter Belesenheit und Kinofilmkonsum, vor lauter psychoanalytischer Séancen und Sessions nichts mehr mit sich anzufangen weiß, als einen Text nach dem anderen abzusondern und zu copy&pasten:

„Und damit sind wir wieder bei ‚Der Mann, den sein Gewissen trieb‘, wo die implizite Frage, die das Paar am Ende des Films stellt, nämlich präzise lautet: »Was sind wir für den Blick der Eltern, während wir es miteinander treiben?«“

Slavoj Žižeks betreibt ein intellektuelles Schaulaufen, bei dem er alle Seiten belustigen und unterhalten möchte. Seriös daran war einzig der Akt des Buchkaufes, also gänzlich auf Seiten des Publikums. Der Rest verschreibt sich dem Ulk. Das war wohl auch so gewollt, vielleicht als Konsumkritik.


Emile Zola: „Die Bestie Mensch“

Mechanik der Gefühle und Gefühle der Mechanik. Die Eisenbahn als Metapher zwischenmenschlicher Entgleisungen. Ein Allegorienfest.

Émile Zolas „Die Bestie im Menschen“ erschien 1890 als 17. Teil des Rougon-Macquart-Zyklus. Vordergründig liest er sich als ein fehlgeleiteter Kriminalroman, in dessen Zentrum der rätselhafte Tod des Präsidenten der Eisenbahngesellschaft, Grandmorin, steht:

»Wie?« fragte Roubaud. »Ein Mord unter unserem Personal?«
»Nein, nein, an einem Fahrgast in einem Halbabteil … Die Leiche ist ungefähr an der Ausfahrt des Tunnels von Malaunay bei Kilometerpfahl einhundertdreiundfünfzig aus dem Zug geworfen worden … Und das Opfer ist einer unserer Aufsichtsräte, der Präsident Grandmorin.«

Grandmorins Leiche wird auf halber Strecke zwischen Paris und Le Havre gefunden. Ein Mord hat stattgefunden, in welchem der Untersuchungsrichter Denizet ermittelt, vor allem auch deshalb, um sich endlich das Kreuz der Ehrenlegion zu verdienen und eine Versetzung nach Paris zu erzwingen. Tatverdächtige sind der stellvertretende Bahnhofsvorsteher Roubaud und der bereits vorbestrafte Cabuche. Jacques Lantier, der den Mord im vorüberfahrenden Zug bezeugt hat, verbleibt im Vagen, vor allem weil ihn Roubauds Ehefrau Séverine bezirzt. Eine Affäre bahnt sich an.  

„Den Mann [Roubaud] kannte er, da er ihm manchmal die Hand drückte, seitdem er im Schnellzugverkehr eingesetzt war; die Frau hatte er hin und wieder flüchtig gesehen, in seiner krankhaften Scheu hatte er sie wie die anderen Frauen gemieden. In dieser Minute aber fiel sie ihm auf, wie sie so weinend und blaß, mit der verstörten Sanftmut ihrer blauen Augen unter der schwarzen Last ihres Haars dastand. Er wandte keinen Blick mehr von ihr, und auf einmal war er geistesabwesend […]“

Ein naturalistisch-verfasstes Shakespeare’sches Komplott zieht sich zusammen, in welchem viele sterben und nur wenige davonkommen. In nüchterner Sprache beschreibt Zola die Zusammenhänge, die ihre Wucht durch die Mechanik der absolut gesetzten Wünsche und Triebe der Figuren erhalten, die diesen wie eine führerlos gewordene Lokomotive nicht mehr Einhalt gebieten können. Die Technologie als Metapher zieht, da der Kopf der Eisenbahngesellschaft, Grandmorin, selbst ein Lüstling ist, und die eigentlich empfindsamen Wesen in „Die Bestie im Menschen“ dessen Geschöpfe selbst sind, die Maschinen:

„Dort unten, jenseits der Brücke, kreuzte sie sich mit einer Lokomotive, die wie eine einsame Spaziergängerin, allein vom Depot kam; ihre Achsen und Kupfertheile leuchteten, als hatte sie soeben frisch und keck sich zur Reise angekleidet. Die große Maschine hielt jetzt und forderte durch zwei kurze Pfiffe den Weichensteller auf, die Geleise passirbar zu machen; dieser that es sofort und die Lokomotive rollte auf den in der Halle für den Fernverkehr abgangsbereit stehenden Zug zu.“

Wahrhaft unschuldig können nur die Maschinen sein, und Zola lässt daran stilistisch auch keinen Zweifel aufkommen, wenn er mit aller Empathie das Schicksal der Lokomotive Lison beschreibt:

„Die Riesin mit dem aufgeschlitzten Bauch wurde noch stiller, sank nach und nach in einen ganz leisen Schlaf, verstummte schließlich. Sie war tot. Und der Haufen aus Eisen, Stahl und Kupfer, den sie hier hinterließ, dieser zerschmetterte Koloß mit seinem gesprungenen Rumpf, den verstreuten Gliedern, den zerschundenen, frei zutage geförderten Organen nahm die gräßliche Traurigkeit eines ungeheueren menschlichen Leichnams an, einer ganzen Welt, die gelebt hatte und aus der das Leben soeben unter Schmerzen herausgerissen worden war.“

Émile Zola führt eine Welt vor, in der die Triebe zu Mord und Totschlage führen, in welcher alle Menschen bis auf den Naturburschen Cabuche Schuld auf sich laden und sich doch alle als Opfer fühlen. Die Zeitkritik à la Jean-Jacques Rousseau wirkt hart. Der Blick fährt in die vernunftlose Mechanik der Menschen, die ihre Begehren nicht zu bremsen mögen.

Literarisch eiskalt und Wort für Wort überzeugend, kompositorisch ausgeführt, eine Allegorie auf Julien Offray de La Mettries „Der Mensch als Maschine“, die im Gegensatz zu Günther Anders „Die Antiquiertheit des Menschen“, den Ausweg mehr im entweder ganz Artifiziellen oder ganz Natürlichen sieht, jedenfalls nicht im kopflosen Gewoge eines bedürfnisgetriebenen, Waren umherschiebenen Güterbahnhofs.


Ludwig Wittgenstein: „Über Gewissheit“

Reflexionen über das, was andere Wahrheit nennen – und warum radikale Skepsis genauso wenig wie Gewissheit zu erreichen ist. Eine Fundgrube des philosophischen Widerspruchsbeweises.

Über Gewissheit“ gilt als letztes, einigermaßen zusammenhängendes Satzbündel von Ludwig Wittgenstein. In sich argumentierende, sich zusammenschließende Texte strebte Wittgenstein von seinem Erstling „Tractatus Logico-Philosophicus“ bis hin zu „Philosophischen Untersuchungen“ nicht an. Seine Reflexionen gleichen Annotaten zu mathematischen Beweisen und lassen sich nur mit den mathematischen Grundlagendiskussionen seiner Zeit entschlüsseln. Wird Wittgenstein aus der Luft gerissen, erscheint er trivial:

„Wer annähme, daß alle unsre Rechnungen unsicher seien und daß wir uns auf keine verlassen können (mit der Rechtfertigung, daß Fehler überall möglich sind), würden wir vielleicht für verrückt erklären. Aber können wir sagen, er sei im Irrtum? Reagiert er nicht einfach anders: wir verlassen uns daraus er nicht; wir sind sicher, er nicht.“

Worum es in „Über Gewissheit“ geht, das als Antwort auf Georg Edward Moores „Eine Verteidigung des Common Sense“ gedacht ist, bezieht sich auf die Suche nach Sätzen, die als Ausgangspunkt eines logischen Schlusses gewählt werden können. Diese Frage stellte sich in der Mathematik auf vielfältige Weise durch die logischen Paradoxien, die um die Jahrhundertwende gefunden wurden, bspw. ‚Ein Kreter sagt, alle Kreter lügen.‘ Im Gegensatz zu fast allen, Alfred Korzybski und der späte Bertrand Russell wären eine Ausnahme, begreift Wittgenstein Mathematik als ein besonders einfaches Sprachspiel:

„Ich könnte auch so sagen: Das »Gesetz der Induktion läßt sich ebensowenig begründen als gewisse partikulare Sätze, das Erfahrungsmaterial betreffend.“

Um dies zu illustrieren, reflektiert, kreist Wittgensteins Denken um die Frage, wie er sich bei einer Rechnung sicher sein könne, wie sicherstellen könnte, dass er sich nicht verrechnet habe. Nur durch Praxis lautet seine Antwort, die ihn aber unbefriedigt zurücklässt:

„Ich will also etwas sagen, was wie Pragmatismus klingt. Mir kommt hier eine Art Weltanschauung in die Quere.“

Warum beruhigt sich Wittgenstein nicht bei der Antwort? Weil das Sprachspiel der Philosophie und Mathematik, bei denen Wittgenstein mitzuwirken gedenkt, die Antwort, die Frage stellt sich nicht, nicht erlaubt. Wittgenstein begreift aber, dass viele mathematische wie auch philosophische Sätze vom Standpunkt eines aufgeklärten Denkens beliebig sind. Mathematisch formuliert: Aus Falschem folgt Beliebiges, und noch mehr: Aus Beliebigem folgt Alles. Die Frage nach Dingen also, denen pragmatisch keine Gründe zur Annahme beigebracht werden können, lässt sich per Definition nicht befriedigend beantworten.

Wittgenstein erweitert in „Über Gewissheit“ die Ergebnisse Kurt Gödels aus dem ersten Gödelschen Unvollständigkeitssatz auf das Gebiet der Erkenntnistheorie. Im Gegensatz zu diesem nimmt er die Nicht-Wiederlegbarkeit einer Aussage jedoch nicht als Grund zur Annahme ihrer Wahrheit. In dem Sinne zeigt Wittgenstein seinen Anti-Platonismus. Bei ihm bleibt es oft, und vielfach von ihm niedergeschrieben, bei:

„… und schreib getrost »lm Anfang war die Tat.«“

Eine ganz und klar disqualifizierende Aussage im Bereich der mathematischen Erkenntnistheorie. In jeder Hinsicht bedenkenswert.


George R. R. Martin: „Das Erbe von Winterfell“

Überrollkommando an Handlung – ohne metaphorischen Tiefgang. Ein Autor informiert, zählt auf, atmet selten durch und peitscht die Figuren in den Krieg.

Der zweite Teilband des ersten Bandes dient als Auftakt zum großen Schlachten. Um nicht zu spoilern, nur in groben Umrissen die anbrandenden, um sich greifenden Konflikte. Es gibt einen König-jenseits-der-Mauer, Manke Rayder, einen König des Nordens und einen König des Süden. Wer König des Nordens und Südens wird, muss erst festgestellt werden. Die verschiedenen Häuser kämpfen um die Rangordnung:

Im Namen Roberts aus dem Hause Baratheon, dem Ersten seines Namens, König der Andalen und der Rhoynar und der Ersten Menschen, Lord der Sieben Königslande und Protektor des Reiches, durch das Wort Eddards aus dem Hause Stark, seiner Hand, befehle ich Euch, in aller Eile in die Westlande zu reiten, unter der Flagge des Königs den Roten Arm des Trident zu überqueren und dort den falschen Ritter Gregor Clegane und alle, die an seinen Untaten teilhatten, dem Recht des Königs zu unterwerfen.

Wie das Zitat zeigt, besteht ein hoher Anteil des Textes nur aus Namen und Beschreibungen der Namen, d.h. dynastische Verkettungen von Namen der Urahnen, hierzu noch Banner, Lanzen, Embleme, verschiedene Symboliken, die allesamt zwischen den Häuser differieren, die Häuser aber nicht charakterisieren. Was unterscheidet das Haus der Lennister von dem der Starks, Tullys, dem der Martells, Baratheon? Selbst nach über Tausend Seiten Handlung erscheinen die Häuser genauso im Dunklen wie die Charaktere festgezurrte Marionetten von Machtgelüsten scheinen:

Lord Baelish strich über seinen kleinen, spitzen Bart und sagte: »Nicht? Sag mir, Kindchen, warum hättest du Ser Loras geschickt?« Sansa blieb nur, ihm von Helden und Ungeheuern zu erzählen. Der Ratsmann des Königs lächelte. »Nun, das sind nicht die Gründe, die ich angeführt hätte, aber …« Er hatte ihre Wange berührt, wobei sein Daumen sanft an ihrem Unterkiefer entlangstrich. »Das Leben ist kein Lied, mein süßes Kind. Das wirst du zu deinem Bedauern eines Tages noch feststellen müssen.«

Indem einfach nichts gesagt wird, wird wenigstens, so pokert Martin, ein Geheimnis erzeugt. Es stimmt. Wer Tausend Seiten liest, will wissen, wie es weitergeht. Wenigstens bietet der zweite Teil ein gewisses Maß an Hintergrund. Es gibt mindestens ein Urvolk, die Kinder des Waldes. Nach einigen Konflikten einigten sie sich mit den Ersten Menschen auf eine friedliche Koexistenz, solange die Menschen die Wehrholzbäume in Ruhe lassen. Die Mauer wurde wegen der Weißen Wanderer gebaut, die dennoch den Frieden zwischen den Ersten Menschen und den Kinder des Waldes nichts anhaben konnten:

»Nun, also gut«, murmelte Luwin. »Solange die Königreiche der Ersten Menschen bestanden, hielt der Pakt während des gesamten Heldenzeitalters und durch die Lange Nacht und über die Geburt der Sieben Königslande hinaus, schließlich kam aber eine Zeit, viele Jahrhunderte später, als andere Völker die Meerenge überquerten. Die Andalen waren die Ersten, eine Rasse von hochgewachsenen, blonden Kriegern, die mit Stahl und Feuer und dem siebenzackigen Stern der neuen Götter – auf ihre Brust gemalt – herüberkamen.«

Es gibt sowohl unter den Kindern des Waldes wie unter den Menschen jähzornige, machtbesessene Anteile: Die Weißen Wanderer jenseits der Mauer, die Andalen jenseits der Meerenge. Die Lennister bspw. haben kaum Anteile von den Ersten Menschen, wohingegen die Starks fast ausschließlich von ihnen abstammen. Das komplexe Setting findet aber literarisch gesehen nur eine ungenügende sprachliche Unterfütterung:

Dann schrie er. Tyrion grub ihm die Axt in seinen Kopf. »Du stirbst«, erklärte er ihm, und das tat er dann auch.

Sprachlich unterster Standard, nicht nur der Übersetzung geschuldet. Metaphorisch nahe am Grotesken. Inhaltlich, kompositorisch, szenisch mitreißend genug, solange die Lesegeschwindigkeit erlaubt über die Blut-und-Boden-Metaphern hinwegzuschauen und mit den bedrohten Figuren mitzufiebern. Gäbe es aber Tyrion und Arya nicht, ich wüsste nicht woran ich mich halten sollte, an Daenerys?