Heinrich Böll: „Ansichten eines Clowns“

Ansichten eines Clowns
Spiegel Belletristik-Bestseller 1963/64 … Literaturnobelpreis 1972

Nicht jeder Künstler ist ein Aussteiger, und nicht jeder Aussteiger ein Künstler. In der Literatur wimmelt es von vielen exzentrischen Figuren. Angefangen mit Don Quijote, mit dessen Lebensbeschreibung im gleichnamigen Buch Miguel de Cervantes den modernen Roman aus der Taufe hob, bricht die Reihe der Exoten bis in die Gegenwartsliteratur nicht ab. Heinrich Bölls Hans Schnier aus Ansichten eines Clowns, erschienen 1963, steht in dieser Tradition. Er ist Clown von Beruf und ringt mit seinem sozialen, kulturellen, politischen Umfeld der frühen Nachkriegsjahre der Bundesrepublik Deutschlands:

Ich nahm plötzlich meine Mark aus der Tasche, warf sie auf die Straße und bereute es im gleichen Augenblick, ich blickte ihr nach, sah sie nicht, glaubte aber zu hören, wie sie auf das Dach der vorüberfahrenden Straßenbahn fiel. Ich nahm das Butterbrot vom Tisch, aß es, während ich auf die Straße blickte. Es war fast acht, ich war schon fast zwei Stunden in Bonn, hatte schon mit sechs sogenannten Freunden telefoniert, mit meiner Mutter und meinem Vater gesprochen und besaß nicht eine Mark mehr, sondern eine weniger, als ich bei der Ankunft gehabt hatte. Ich wäre gern runtergegangen, um die Mark wieder von der Straße aufzulesen, aber es ging schon auf halb neun, Leo konnte jeden Augenblick anrufen oder kommen.

Heinrich Böll aus: “Ansichten eines Clowns”

Inhalt/Plot:

Zentral in Bölls Roman Ansichten eines Clowns steht aber nicht der Konflikt zwischen Hans und seinem Umfeld. Das Hauptaugenmerk liegt auf Hans‘ finanzieller und sexueller Situation. Er stammt aus einer reichen Familie, den Braunkohleschniers, die sich aber weigern, seinen Lebensweg als Clown zu unterstützen und sich auch über die Entscheidung von Hans‘ Bruder Leo, zum katholischen Glauben zu konvertieren und ein katholisches Konvikt zu besuchen, nicht erfreut zeigen. Der frühe Tod der Schwester Henriette lastet schwer auf der Familie Schnier. Auf Geheiß der Mutter schloss sie sich noch in den letzten Tagen des Krieges der Flak an und kam bei einem Bombenangriff ums Leben:

Seit dem Tod meiner Schwester Henriette existieren meine Eltern für mich nicht mehr als solche. Henriette ist schon siebzehn Jahre tot. Sie war sechzehn, als der Krieg zu Ende ging, ein schönes Mädchen, blond, die beste Tennisspielerin zwischen Bonn und Remagen. Damals hieß es, die jungen Mädchen sollten sich freiwillig zur Flak melden, und Henriette meldete sich, im Februar 1945. Es ging alles so rasch und reibungslos, daß ichs gar nicht begriff. Ich kam aus der Schule, überquerte die Kölner Straße und sah Henriette in der Straßenbahn sitzen, die gerade in Richtung Bonn abfuhr. Sie winkte mir zu und lachte, und ich lachte auch.

Den Tod der Schwester hat niemand von ihnen überwunden. Hans spricht in den 25 unterschiedlich langen Kapiteln immer wieder von ihr, und der Vater, als dieser Hans in seiner Wohnung besucht, mag erst gar nicht darüber sprechen. Die Erzählzeit umfasst etwa einen halben Tag. Hans kommt in Bonn an, fährt in seine, von Marie geräumte, von all ihrem Eigentum bereinigte Wohnung, ruft seine Mutter an und geht danach eine Liste der Bekannten durch, die ihm finanziell und mit Marie helfen können, bis der Vater vor der Tür steht. Nach dessen Besuch ruft Hans die engsten Freunde an, gibt auf und beschließt, ein Leben als Straßenmusikant zu führen.

Ich stand auf, um mich für den Auftritt fertig zu machen. Sicher würde auch mein Agent Zohnerer mich »fallen lassen«, wenn ich anfing, auf der Straße zur Guitarre Lieder zu singen. Hätte ich wirklich Litaneien, Tantum ergo und all die Texte gesungen, die ich so gern sang und in der Badewanne jahrelang geübt hatte, so wäre er vielleicht noch »eingestiegen«, das wäre eine gute Masche gewesen, ungefähr so wie Madonnenmalerei. Ich glaubte ihm sogar, daß er mich wirklich gern hatte – die Kinder dieser Welt sind herzlicher als die Kinder des Lichts -, aber »geschäftlich« war ich für ihn erledigt, wenn ich mich auf die Bonner Bahnhofstreppe setzte.

Die wenige Stunden umfassende Erzählzeit umrahmt einen weiten Erinnerungsraum, der die gesamte Lebenszeit Hans Schniers bis in sein 28. Lebensjahr hinein umfasst. Hier geht es insbesondere um die Beziehung mit Marie Derkum, die sich ein halbes Jahr vor der Erzählgegenwart von ihm getrennt hat, um mit Heribert Züpfner, einem katholischen Funktionär eine Familie zu gründen. Hans kommt über den Verlust nicht weg. Er fühlt sich verraten und wirft Marie Hurerei vor.

Ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß [Marie] mit Züpfner »die Sache« tun würde, meine Phantasie hat einfach keine Kammern für solche Vorstellungen, so wie ich nie ernsthaft in Versuchung war, in Maries Wäsche zu kramen. Ich konnte mir nur vorstellen, daß sie mit Züpfner Menschärgere-dich-nicht spielen würde – und das machte mich rasend. Nichts, was ich mit ihr getan hatte, konnte sie doch mit ihm tun, ohne sich als Verräterin oder Hure vorzukommen.

Überhaupt spielt Prostitution und Hurerei eine große Rolle für Hans. Die ganze Gesellschaft begründet sich für ihn auf sie. Er selbst schwört sich auf die Monogamie ein. Von der Ehe als Sakrament hält er nichts. Seiner Meinung nach ist Marie nämlich auch ohne kirchliche oder standesamtliche Trauung seine Frau, allein eben durch den Vollzug des Geschlechtsaktes ist eine Verbindung auf Lebenszeit für ihn geschlossen worden und die Trennung von ihm ist ein Ehebruch. Dass seine Mitmenschen von dieser Meinung nichts wissen wollen, treibt ihn in den Wahnsinn:

 »Schnier«, sagte [Kinkel], »lassen Sie doch das Vergangene vergangen sein. Ihre Gegenwart ist die Kunst.«
»Vergangen?« fragte ich, »versuchen Sie sich doch vorzustellen, Ihre Frau ginge plötzlich zu einem anderen.«
Er schwieg auf eine Weise, die mir auszudrücken schien: täte sie es doch, sagte dann, an seiner Zigarre herumschmatzend: »Sie war nicht Ihre Frau, und Sie haben nicht sieben Kinder miteinander.«
»So«, sagte ich, »sie war nicht meine Frau?«
»Ach«, sagte er, »dieser romantische Anarchismus. Seien Sie ein Mann.«

Im Sinne Kinkels ein Mann zu werden, nichts liegt Hans ferner. Er will nicht für sich sorgen. Er will sich um die Erziehung zukünftiger Kinder nicht kümmern. Er will sich als Clown und Spaßmacher treiben lassen und von allen Machtzentren der Welt so entfernt wie nur möglich bleiben. Zu seinem Glück fehlt ihm nur das nötige Geld und Marie, wiewohl Marie im weiteren Sinne nur für die Befriedigung seiner sexuellen Wünsche steht:

Ich wollte Marie zurückhaben und hatte angefangen zu kämpfen, auf meine Weise, nur um der Sache willen, die in ihren Büchern als »fleischliches Verlangen« bezeichnet wird.

Detaillierte Inhaltsgabe

  1. Ankunft in Heimatstadt Bonn. 5 Jahre als Erinnerungsraum werden erwähnt. Partnerin Marie Derkum (MD) hat ihn, Hans Schnier (HS), für Heribert Züpfner (HZ) verlassen. Er bekommt ein ärmliches Honorar für den Auftritt in Bochum von Kostert, wo er sich absichtlich fallen hat, um den Rest der Tour absagen zu können. Telegramm an Monika Silvs (MS).
  2. HS wohnt in Bonn in einer Eigentumswohnung, Geschenk des Großvaters. Er ist dort noch nie aufgetreten. Anekdote von Kinkel: sehr arm geht, sehr reich auch, dazwischen wartet nur Unglück.
  3. HS trinkt Kognak, sucht das Telefonbuch und schlägt es auf.
  4. HS Lebenslauf. Henriette, Schwester von HS, wird von Mutter kurz vor Ende des bereits verlorenen Krieges zur Flak geschickt. Sie stirbt. Panzerfausttraining im Garten von seinen Eltern.
  5. HS erstellt Liste, von Leuten, die er anrufen will, entweder, um etwas zu klären, sich zu rächen, oder um sie um Geld zu bitten. Personal des Buches wird aufgezählt, danach Gespräch mit der Mutter über Henriette und ihre Tätigkeit als Präsidentin des Zentralkomitees der Gesellschaft zur Versöhnung rassischer Gegensätze (GZVRG):
    Karl Emonds, Schulkamerad, Studienrat
    Heinrich Behlen, Schulkamerad, Kaplan
    Bela Brosen, Geliebte des Vaters
    Alfons Schnier, Vater von HS, Braunkohlenmagnat
    Frau Schnier, Mutter von HS, Präsidentin des ZK der GZVRG
    Leo Schnier, Bruder von HS, katholischer Priesteranwärter
    Kinkel, wichtiges Kreismitglied, Jurist, Sozialpolitiker, links
    Fredebeul, wichtiges Kreismitglied, Parteifunktionär, Karrierist in der CDU
    Blothert, wichtiges Kreismitglied, rechter Gegenspieler von Kinkel
    Sommerwild, Prälat, geistlicher Würdenträger, katholisch
    Monika Silvs, Madonnenmalerin, gläubig
    Heribert Züpfner, Partner von Marie, katholischer Funktionär
    Marie Derkum, Ex-Partnerin von HS, katholische Hausfrau
  6. HS räsoniert über das berufliche Pech, das ihm seine Mutter vorgeworfen hat. HS rechnet früher oder später mit der Gosse. HS beschließt um Marie zu kämpfen, aber, wie er betont, nur um des fleischen Verlangens willen.
  7. HS erinnert sich, wie er MD entjungfert hat, nachdem er sie mit HZ Hand in Hand aus dem Jugendheim gehen sehen hat. HS beansprucht Marie für sich. Nach dem Sex wärmt er Maries Hände in seinen Achselhöhlen. Marie verlässt Bonn, HS reist ihr nach.
  8. HS denkt über Bonn nach, erfragt die Telefonnummer von Leo. Diskussion mit einem widerborstigen Theologiestudenten. Erinnerung an einen Abend in Hannover. Marie hat HZ, Sommerwild anlässlich des Katholikentag getroffen. Sie streiten sich über den Glauben. Am nächsten Morgen ist Marie alleine abgereist. HS schickt Briefe für Marie zu Fredebeul, erhält aber keine Antworten auf seine Briefe.
  9. 9. Anruf bei Frau Fredebeul. Erinnerung daran, wie sie wegen einer Äußerung über Gottfried Benn zurechtgewiesen wurde. Nachfrage wegen der Briefe, kamen postwendend, ungeöffnet zurück. Sie verweigert aber jede Auskunft und fertigt HS ab. Anruf bei Kinkel. Erinnerung an Gesprächen mit ihm über Kunst (Ionescu, Beckett). Kinkel wirft HS romantischen Anarchismus vor. HS versucht Kinkel, nachdem dieser sich weigert, ihm zu helfen, mit Marie in Kontakt zu kommen, wegen der gestohlenen Madonnen zu erpressen.
  10. 10. Erinnerung an seine Zeit als Clown, mit Marie zusammen, Reflexionen über Kunst und übers Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielen.
  11. 11. Zohnerer, sein Agent, ruft an, schlägt eine halbjährige Pause vor, um die Karriere neu beginnen zu lassen. Kritik von Kostert, Bochum, ist zu vernichtend. HS weint in der Badewanne.
  12. 12. Erinnerung an Osnabrück. Marie spricht von ihren Fehlgeburten, „Frauensache“. Marie reist frühzeitig nach Bonn. HS wird von der Polizei beschuldigt, Sittenverbrecher zu sein.
  13. 13. Sommerwild ruft an. Er versucht HS wegen Marie zu beruhigen. Diskussion über Konkubinat. Er sagt HS, dass Marie sich in den Flitterwochen befindet und mit Züpfner nach Rom gereist ist. HS legt wutentbrannt auf.
  14. 14. HS stellt sich das Eheleben der Züpfners vor.
  15. 15. Vaterbesuch. Gespräch über Kindheit. Sein Vater schlägt ihm vor, auf Pantomine umzusatteln, und bietet ihm an, für die Umschulung zu zahlen. HS will nicht. Er will Marie und Geld von ihm. Erinnerung an Edgar Wieneken, die Probleme mit Verrechnungschecks des Großvaters. HS erzählt, wie er als Kind gehungert hat, wegen des mütterlichen Ernährungsprogramms. Der Vater weint. HS fragt ihn nicht mehr um Geld.
  16. 16. HS ruft Geliebte des Vaters an, Bela Brosen. Sie weigert sich für ihn Geld zu veruntreuen. Er wirft das einzig verbliebene 1-DM-Stück aus dem Fenster und bereut es sofort.
  17. 17. HS beschließt Kalick nicht anzurufen, Kriegserinnerungen. Er beschließt zum jour fixe seiner Mutter zu gehen, um sich dort durchfüttern zu lassen.
  18. 18. HS ruft wieder in Leos Konvikt an. Wieder der seltsame Theologiestudent. Erinnerung an Maries erneute Fehlgeburt.
  19. 19. HS ruft Monika Silvs an. Möchte, dass sie Chopins Mazurka in B-Dur Opus 7 vorspielt. Monika will sich vorbereiten. In der Zwischenzeit stellt sich HS Maries Nachwuchs und Familienleben mit Züpfner vor. Monika ruft an, spielt das Stück vor, aber kündigt an, dass sie wegfährt, in Exerzitien.
  20. 20. Sabine Edmonds ruft aus Telefonzelle an. Erinnerung an die Freundschaft. Sie bietet Hilfe trotz ihrer wegen der vielen Kinder ärmlichen Lebensumstände.
  21. 21. Reflexionen über das Existenzminimum. Karl Edmonds der einzige, den er noch Fragen konnte.
  22. 22. HS steht auf dem Balkon. Erinnerung an eine Reise in den Osten. Zerwürfnis, das Engagement kommt nicht zustande, weil HS sich politisch nicht instrumentalisieren lassen möchte. HS stellt sich Marie mit Züpfner vor. Eigenartige Anorakszene.
  23. 23. HS kehrt zurück ins Zimmer und schminkt sich ganz weiß im Gesicht. Im Kleiderschrank keine Spur mehr von Marie. HS stellt sich vor, bei Ankunft Maries vor dem Bahnhof zu sitzen und Gitarre zu spielen.
  24. 24. Leo ruft an. Er kann ihn nicht besuchen, sonst droht eine Adhortation. Leo kann auch finanziell nicht helfen.
  25. 25. HS gibt auf und beginnt Gitarre auf der Straße zu spielen. Er hat sich mit seinem Schicksal abgefunden.

Stil/Sprache/Form:

Formalästhetisch hat Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns nicht viel zu bieten. Die Sprache bleibt unterkühlt, abgehackt. Poetische Elemente mischen sich nicht in die Beschreibungen und Gespräche. Die Figuren wirken abgeklärt, unbeeindruckt und geben sich keinen Ausschweifungen irgendwelcher Art hin. An nur ganz wenigen Stellen bekommen die Absätze ein Eigenleben und wirken weniger komponiert und konstruiert, bezeichnenderweise meist dort, wo es just um Pathos und Intensität selbst geht:

So teuflisch kann Sentimentalität ausgehen. Man soll Augenblicke lassen, nie wiederholen. Ich konnte vor Elend nicht einmal mehr weinen, als Monika mit der Mazurka zu Ende war. Sie muß es gespürt haben. Als sie ans Telefon kam, sagte sie nur leise: »Na, sehen Sie.« Ich sagte: »Es war mein Fehler – nicht Ihrer – verzeihen Sie mir.« Ich fühlte mich, als läge ich besoffen und stinkend in der Gosse, mit Erbrochenem bedeckt, den Mund voll widerlicher Flüche, und als hätte ich jemand bestellt, mich zu fotografieren, und Monika das Foto geschickt.

Aberwitziges erhält der Text auch dort, wo Hans sich das eheliche Zusammenleben von Heribert und Marie vorstellt. Fast surrealistisch muten die Spekulationen über die Kleidung der noch ungeborenen Kinder an, ob sie besser Regenmäntel oder Anoraks tragen sollten, die den Erzählverlauf absurd unterbrechen und sich bandwurmartig hinziehen; oder sobald Hans über Sonderkredite für Heribert phantasiert und die Hanglage des Grundstückes kritisiert und drohendes Unheil für die noch nicht vorhandene kleine Marie verkündet:

Wer auf Hängen baut, kann ansteigende oder abfallende Gärten wählen. Heribert hat abfallend gewählt – das erweist sich als Nachteil, wenn die kleine Marie anfangen wird, mit Bällen zu spielen, immer rollen die Bälle auf des Anliegers Hecke zu, manchmal durch diese durch in den Steingarten, knicken Zweige, Blumen, überrollen empfindliche, kostbare Moose und machen verkrampfte Entschuldigungsszenen notwendig. »Wie kann man nur einem so entzückenden kleinen Mädelchen böse sein?« Kann man nicht. Fröhlich wird von Silberstimmen Lässigkeit gemimt, von Schlankheitskuren verkrampfte Münder, angestrengte Hälse mit gespannten Muskeln geben Fröhlichkeit von sich, wo ein handfester Krach mit scharfem Wortwechsel das einzig Erlösende wäre.

Stellen wie diese bekommen kurzzeitig ein Eigenleben. Details häufen sich. Irritationen entstehen. Es wird klar und deutlich, dass Hans sich verrennt und Opfer seiner kreisenden Gedanken wird. Der Stil von Ansichten eines Clowns bleibt dennoch betont sachlich, realistisch, lakonisch-klassisch und überrascht weder mit Perspektivwechseln, noch mit Wortschöpfungen, noch mit Stilbrüchen. Einzig die Behauptung von Hans, Gerüche durch das Telefon zu vernehmen, besitzt phantastische, dem magischen Realismus anverwandte Züge. Inhaltlich verweist es jedoch eher auf die Neuheit und Verarbeitung der neuen Kommunikationsformen durch die Telefonie hin, zumal in der Erzählzeit der 1950er Jahre laut Wikipedia noch die Zahl der Briefsendungen die der Telefongespräche übertraf. Erst 1971 übertraf die Zahl der Telefongespräche die der Briefsendungen (11,7 zu 11,5 Milliarden).

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Das Telefon selbst als entfremdete Kommunikationsstruktur steht im Vordergrund von Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns. Am Telefon miteinander reden bedeutet räumlich-zeitlich-sprachlich etwas anderes, als unmittelbar miteinander zu sprechen. Es fällt den Gesprächspartnern am Telefon viel leichter, seine Bitten um Information und Geld abzuschlagen. Am Telefon sitzen und Leute anrufen, besitzt bei Böll bereits Züge der Vereinsamung. Im selben Jahr wie Ansichten eines Clowns erschien Wolfgang Hildesheimers Vergebliche Aufzeichnungen/Nachtstück. Im Nachtstück verarbeitet Hildesheimer einen rastlosen Mann, der von seinem Telefon um den Schlaf gebracht wird:

(Das Telefon klingelt) Verfluchtes Telefon! (Er geht zum Bett) Zertrümmert meine beste Stunde! (Er legt das Kopfkissen auf das Telefon) Immer. (Das Telefon klingelt gedämpft) Die einzig erträgliche Stunde meines Wachens. Gönnt ihr mir die Ruhe nicht, (das Telefon klingelt gedämpft) noch nicht einmal die Vorbereitung. Als wüßte man am anderen Ende, (das Telefon klingelt gedämpft, zu einem Bild) wo immer dieses andere Ende sei, – daß ich meinen Schlaf vorbereite.

Wolfgang Hildesheimer: “Nachtstück”

1973 erschien Eugène Ionescos Roman Der Einzelgänger. Auch in diesem spielt das Telefon eine wichtige Rolle. Es wird zu Anfang des Buches in der Wohnung des namenlosen Protagonisten, der aufgrund einer Erbschaft frühzeitig in Pension gegangen ist, installiert und verknüpft die vier Wände mit der äußeren Welt. Er beschließt sofort, um den Trübsal des eigenen Lebens zu entkommen, einen alten Freund anzurufen:

Ich nahm den Hörer ab. Warum diese fieberhafte Ungeduld? Ich wählte die Nummer des Philosophiestudenten. Er dürfte kein Student mehr sein, er hatte gewiß letzten November sein Abschlußexamen gemacht. Der Himmel bezog sich. Es würde bald regnen. Das ist sehr unangenehm, ein grauer Himmel bedrückt mich. Und wenn er lange grau bleibt, gibt es nur eine Möglichkeit: das graue Elend im Alkohol zu ertränken. Aber schließlich, es war noch erträglich, ungeduldig wie ich war, in der Hoffnung, mit dem Studenten zu sprechen. Es läutete, immer noch keine Antwort. Meine Enttäuschung wuchs.

Eugène Ionesco aus: “Der Einzelgänger”

Am Ende nimmt die Frau des Studenten ab und reicht den Hörer weiter. Nach einer kurzen Weile jedoch fertigt der Student den Protagonisten so harsch ab, wie die Freunde und Bekannten Hans Schnier bei Böll. Das Medium erlaubt andere Kommunikationsformen, abrupteres Verhalten, und die schleichende Dissoziierung zeichnen diese Romane minutiös nach, indem sich im Privaten ein Öffentliches als Medium zwischen die Kommunizierenden schiebt. In Bölls Ansichten eines Clowns steht das Telefon im weiteren Rahmen einer untergründig gewaltbereiten Gesellschaft, die sich durch Telefon und Fernsehen völlig auf Prostitution gründet:

Das Fernsehen bringt auch [Sommerwild] um den Rest von Scham, den ich ihm zubilligen muß. Wenn unser Zeitalter einen Namen verdient, müßte es Zeitalter der Prostitution heißen. Die Leute gewöhnen sich ans Hurenvokabularium. Ich traf Sommerwild einmal nach einer solchen Diskussion (»Kann moderne Kunst religiös sein?«), und er fragte mich: »War ich gut? Fanden Sie mich gut?« wortwörtlich Fragen, wie sie Huren ihren abziehenden Freiern stellen. Es fehlte nur noch, daß er gesagt hätte: »Empfehlen Sie mich weiter.«

Hans Schnier, der Marie mehr oder weniger nötigt, mit ihm zu schlafen, der sie entjungfert und dadurch zwingt, die Schule vorzeitig und Kirche ganz hinter sich zu lassen, ahnt, dass er Täter wie alle anderen ist. Er versucht seiner Täterschaft durch Passivität zu entkommen und in Alkohol zu ertränken, um als Bettler und Säufer in der Gosse nicht mehr Gefahr zu laufen, Gewalttäter wie alle anderen zu sein und zu bleiben. Sein schlechtes Gewissen zwingt ihn in die Isolation und sein Unwillen, an der Gesellschaft teilzunehmen, in die Armut. Am Ende schlägt er sich als Bettler durch und entledigt sich aller Möglichkeiten, anderen Menschen weiteren Schaden zuzufügen. Theodor W. Adorno beschreibt es in seinem Aphorismus Sur l’eau aus den Minima Moralia wie folgt:

Genuß selber würde davon berührt, so wie sein gegenwärtiges Schema von der Betriebsamkeit, dem Planen, seinen Willen Haben, Unterjochen nicht getrennt werden kann. Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, »sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung« könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden.

Theodor W. Adorno aus: “Minima Moralia” (100. Aphorismus)

Bei Ansichten eines Clowns bleibt von dem friedlichen Auf-dem-Wasser-Liegen nur das Spiel auf der Gitarre auf der Bahnhofstreppe im kühlmärzlichen Bonn zurück. Sein Büßertum verkleidet er hinter der Clownsmaske, ganz in Weiß, in die Farbe der Unschuld getaucht, und doch weiß er ob seiner Schuld, als er sich daran erinnert, wie er sich nach der ersten Nacht mit Marie gefühlt hat:

Vielleicht erlebte ich zum ersten Mal, was Alltag ist: Dinge tun müssen, bei denen nicht mehr die Lust dazu entscheidet. Ich hatte keine Lust, dieses enge Haus je wieder zu verlassen und draußen irgendwelche Pflichten auf mich zu nehmen; die Pflicht, für das, was ich mit Marie getan hatte, einzustehen, bei den Mädchen, bei Leo, sogar meine Eltern würden es irgendwo erfahren. Ich wäre am liebsten hier geblieben und hätte bis an mein Lebensende Bonbons und Sütterlinhefte verkauft, mich abends mit Marie oben ins Bett gelegt und bei ihr geschlafen […]

Dass er wie fast alle gehandelt hat, will er bis zum Schluss nicht einsehen und singt daher lieber „über den armen Papst Johannes und über Müllers Kuh“.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Nächste Woche am 06. Juni 2023 auf Kommunikatives Lesen:
Der Roman vom Satiriker Sebastian “El Hotzo” Hotz namens Mindset ….
Eine Kurzversion der Besprechung und noch andere aktuelle Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier

4 Antworten auf „Heinrich Böll: „Ansichten eines Clowns““

    1. Erstens hat mich dein Beitrag motiviert, also ja. Zweitens stand er gut mit Stuckrad-Barre in Korrespondenz, der direkt, stilistisch und inhaltlich auf Katharina Blum sich bezog. Insgesamt hat es genau gepasst! Danke für den Motivationsschub. Du hast recht. Es lohnt sich, den Böll zu lesen, statt ihn zu vergessen!

    1. Ich habe von Böll lange Zeit auch nichts lesen können, ohne dasselbe zu empfinden. Die Gegenwartslektüre, die ich unter dem Vorwand meines Blogs betreibe, härtet mich dermaßen gegen das Schnöde, Kalte, Schnoddrigere, Lamentierende, das Sinnlose, Unverhältnismäßige ab, dass Böll im Vergleich zum wahren Wunderliteraten wird. Im Grunde aber teile ich deine Empfindung. Auch bei Böll habe ich nicht das Gefühl, dass es ihn zum Schreiben treibt – die Sprache bekommt nur ganz selten eine Eigendynamik. Wenn ich noch ein Buch von ihm lese, dann “Gruppenbild mit Dame”, aber das war’s. Du liest gerade Reimann, denke ich, da hält sehr wenig dagegen stand. Meine “Franziska Linkerhand”-Besprechung kommt irgendwann in den nächsten Wochen, weiß noch nicht wann! Ich wünsche einen schönen Wochenausklang! Viele Grüße!

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