Jürgen Habermas: „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit“

Kaum ein Denker setzt so viel Hoffnung und Erwartung in die literarische, bürgerliche Öffentlichkeit wie Jürgen Habermas. Mit seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit räumte er 1962 dem räsonierenden Publikum die bedeutsame Stellung ein, zwischen Gesellschaft und Staat, also zwischen Bevölkerung und Regierung zu vermitteln. 60 Jahre später erscheint nun Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit, in welchem er diese Rolle, die der literarisch und philosophisch sich bildenden und  Sachverstand sich aneignenden Räsonierenden erneut bestimmt. Noch immer gilt für sie:

Sie [eine Demokratietheorie] muss den prinzipiellen Bedeutungsgehalt der historisch vorgefundenen und bewährten, also hinreichend stabilen Verfassungsordnungen explizit machen und die rechtfertigenden Gründe erklären, die der faktisch ausgeübten Herrschaft im Bewusstsein ihrer Bürger tatsächlich legitimierende Kraft verschaffen und daher auch deren Beteiligung sichern können.

Jürgen Habermas aus: „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit“

Diese Funktion kommt jenen zu, die die Dynamik der Gesellschaft wissenschaftlich und moraltheoretisch beobachten. In diesem Falle wären das die moraltheoretisch, also normativ verbindlichen Sozialwissenschaften, die Interessensverbände, PR-Agenturen der gesellschaftlichen Funktionssysteme, also das journalistische wie intellektuelle Total der Zivilgesellschaft. Sie stellen sicher, in Theorie, dass den relevanten Stimmen stets Gehör verschafft wird. Diese Form des öffentlichen Diskurses, so Habermas, rechtfertigt allein die Gesetzgebung, also die Herrschaft des politischen Systems. Weder Sicherheit, Glück, Freiheit noch Luxus, Unterhaltung oder Wohlstand vermögen diese Lücke nach dem Bedeutungsverlust der Religion im System zu schließen:

Mit der Säkularisierung der Staatsgewalt war eine Legitimationslücke entstanden. Weil in modernen Gesellschaften die legitimierende Kraft des Glaubens an die göttliche Berufung der herrschenden Dynastien nicht mehr ausreichte, musste sich das demokratische System gewissermaßen aus sich selber legitimieren, und zwar durch die Legitimität erzeugende Kraft des rechtlich institutionalisierten Verfahrens der demokratischen Willensbildung.

Um diese Legitimationsproblematik der Herrschaft dreht sich das gesamte Werk von Habermas. Die Lösung findet er im kontrafaktisch antizipierten herrschaftsfreien Diskurs sich bildender und gegenseitig korrigierender und belehrender Individuen. Diesen Diskurs stiftet die bürgerliche oder, bei Habermas auch, literarische Öffentlichkeit, um die sich Habermas vor dem Hintergrund der Sozialen Medien in Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit sorgt. Gestritten, diskutiert, Meinungen ausgetauscht wird zwar wie eh und je, aber die Bedingung der Möglichkeit eines Konsens rückt in weite Ferne, wenn die kommunikativen Medien keine einheitliche Welt zu kreieren vermögen:

Aber mit ihrem Fluss von täglich erneuerten Informationen und Deutungen bestätigen, korrigieren und ergänzen die Medien laufend das unscharfe alltägliche Bild einer als objektiv unterstellten Welt, von dem mehr oder weniger alle Zeitgenossen annehmen, dass es auch von allen anderen als »normal« oder gültig akzeptiert wird.

Sobald die als objektiv unterstellte Welt zu fragmentieren beginnt, entstehen Halböffentlichkeiten konkurrierender Meinungen, die Gefahr laufen, laut Habermas, den Unterschied zwischen Fake-News und Fakten zu verwischen und so den kontrafaktisch antizipierten Verständigungsprozess aufgrund von Sachargumenten zu unterlaufen. Mit anderen Worten, die literarische, bürgerliche Öffentlichkeit zersplittert zu einer Warenform, einer Unterhaltungsbranche gigantischer digitaler Großunternehmen, die sich nicht im geringsten dem journalistischen und intellektuellen Ethos verpflichtet fühlen, sich selbst und gegenseitig verbindlich zu korrigieren:

Auch sie [die Plattformen der neuen Medien] sind verantwortlich und müssten für News haften, die sie weder produzieren noch redigieren; denn auch diese Informationen haben eine meinungs- und mentalitätsbildende Kraft. In erster Linie unterliegen sie nicht den Qualitätsstandards von Waren, sondern den kognitiven Standards von Urteilen, ohne die es für uns weder die Objektivität der Welt von Tatsachen noch die Identität und Gemeinsamkeit unserer intersubjektiv geteilten Welt geben kann.

Habermas konstatiert die Problematik einer unübersichtlich gewordenen Nachrichtenwelt, die weder in Bezug auf Meinungen noch in Bezug auf Sachverhalte Konsens zu erzeugen vermag. Hiermit droht der Demokratie eine Öffentlichkeit verlustig zu gehen, die allein die Legitimität gesetzlicher Entscheidungsprozesse rational zu rekonstruieren versteht. Habermas‘ Lösung der neuzeitlichen Herrschaftsproblematik, die Diskursethik, wird schlicht der Boden entzogen, wenn weder Filter noch Selektionsprozesse zur Verfügung stehen, die entscheiden, worüber und aufgrund welcher Ereignisse eigentlich diskutiert werden soll:

Der egalitäre und unregulierte Charakter der Beziehungen zwischen den Beteiligten und die gleichmäßige Autorisierung der Nutzer zu eigenen spontanen Beiträgen bilden das Kommunikationsmuster, das die neuen Medien ursprünglich auszeichnen sollte. Dieses große emanzipatorische Versprechen wird heute zumindest partiell von den wüsten Geräuschen in fragmentierten, in sich selbst kreisenden Echoräumen übertönt.

Inwiefern handelt es sich aber um einen neuen Strukturwandel? Hat nicht jede Zeit auf ihre Weise den eigenen Untergang angemahnt wie Oswald Spengler in Der Untergang des Abendlandes 1918, oder Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in Die Dialektik der Aufklärung 1944, oder Günther Anders in Die Antiquiertheit des Menschen 1956, um nur einige zu nennen? Und hat nicht bereits Hannah Arendt in Vita Activa oder vom tätigen Leben bereits 1958 von dem Verlust einer solchen Öffentlichkeit geschrieben, also von den Verständigungsprozessen im politischen Raum einer Massengesellschaft? Damals waren es Taschenbücher, Fernsehen, Radio oder die Regenbogenpresse, die der Aura der Wirklichkeit eine Illusion der Traumwelt zur Seite stellten. Eine Re-Lektüre von Strukturwandel der Öffentlichkeit von Habermas hilft vielleicht, der Neuheit des Strukturwandels auf die Schliche zu kommen.

Ein alter Strukturwandel der Öffentlichkeit?

In seinem Erstling nachvollzieht er ausführlich die historische Entwicklung von einer repräsentativen Öffentlichkeit zu einer literarisch-bürgerlichen. Die repräsentative Öffentlichkeit stellt sich vor das Volk und nicht für das Volk. Die Herrschenden feiern sich mit Insignien. Der Auflösungsprozess der Legitimität ihrer Macht entsteht durch das aufstrebende Bürgertum, die Säkularisierung und die Entfaltung der wirtschaftlichen Kräfte. Habermas rekonstruiert dies anhand der Klassiker der politischen Theorie: Thomas Hobbes, John Locke, Christoph Martin Wieland in der Frühphase, Immanuel Kant und Jean-Jacques Rousseau in der Hochphase, und im Zerfallsprozess bereits begriffen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx und Alexis de Tocqueville. Zentral bleibt der Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit, der als Ideal das Konzept der öffentlichen Meinung inkorporiert:

Öffentliche Meinung will, ihrer eigenen Intention nach, weder Gewaltenschranke noch selber Gewalt, noch gar Quelle aller Gewalten sein. In ihrem Medium soll sich vielmehr der Charakter der vollziehenden Gewalt, Herrschaft selbst verändern. Die »Herrschaft« der Öffentlichkeit ist ihrer eigenen Idee zufolge eine Ordnung, In der sich Herrschaft überhaupt auflöst; Veritas non auctoritas facit legem.

Jürgen Habermas aus: „Strukturwandel der Öffentlichkeit“

Die Wendung, dass Wahrheit, nicht Autorität Gesetze schafft, taucht sechs Mal an verschiedenen Stellen im Text auf. Wahrheit aber bedarf eines Mediums. Das Medium der Wahrheit ist die allen freizugängliche Öffentlichkeit, in der alle mit allen reden und sich verständigen und die Rationalität und Verbindlichkeit der Gesetzgebung rekonstruiert. Habermas sieht in dieser Phase einen Höhepunkt der Vernünftigkeit realisiert und lokalisiert ihn etwa Mitte/Ende des 18. Jahrhunderts. In dieser Zeit gab es noch kein Finanzkapitalismus und das Bürgertum setzte sich aus vielen Kleinunternehmern zusammen, die frei miteinander verkehrten und räsonierten:

Gleichzeitig beansprucht, was unter solchen Bedingungen aus dem öffentlichen Räsonnement resultiert, Vernünftigkeit; ihrer Idee nach verlangt eine aus der Kraft des besseren Arguments geborene öffentliche Meinung jene moralisch prätentiöse Rationalität, die das Rechte und das Richtige in einem zu treffen sucht. Die öffentliche Meinung soll der »Natur der Sache« entsprechen.

Diesem Höhepunkt schließt sich aber eine Pauperisierung der Öffentlichkeit an. Habermas schreibt daraufhin über den Zerfallsprozess dieser vernünftigen Öffentlichkeit, die mehr und mehr zum Spiel ökonomischer Interessen und Cliquen wird. Der private Schutzraum der Familie, das gesicherte, von der öffentlichen Diskussion unbeeindruckte Leben schwindet, und eine Kulturkonsumtion findet statt, die Habermas kongruent an der Zeitdiagnose von Horkheimer und Adorno und ihrer Kulturindustrie entlangführt. Er nennt dies den sozialen Strukturwandel der Öffentlichkeit von einem kulturräsonierenden zu einem kulturkonsumierenden Publikum. Diesen Prozess verortet er in das ausgehende 19. Jahrhunderts, der in die Gegenwart hineinreicht:

Der Zerfall der literarischen Öffentlichkeit faßt sich in dieser Erscheinung noch einmal zusammen: der Resonanzboden einer zum öffentlichen Gebrauch des Verstandes erzogenen Bildungsschicht ist zersprungen; das Publikum in Minderheiten von nicht-öffentlich räsonierenden Spezialisten und in die große Masse von öffentlich rezipierenden Konsumenten gespalten. Damit hat es überhaupt die spezifische Kommunikationsform eines Publikums eingebüßt.

Statt einzelner, vernunftbegabter Individuen kämpfen nun Gruppen und Organisationen in der verwalteten Welt um Aufmerksamkeit. Einzelne vermögen nicht mehr durchzudringen. Parteien haben das Parlament fest im Griff, und aus dem freien Mandat ist ein imperatives geworden. Es herrscht Fraktionszwang. Finanz- und Kulturmonopole haben die Welt der Waren und Nachrichten fest im Griff und bedrohen die Legitimität durch informelle Gremien und undurchschaubare Ereignisse. Vor diesem Hintergrund konkurrieren nun zwei Formen der Publizität, die kritisch-aufklärerische und die akklamatorisch-manipulative, um Vorherrschaft:

Der Widerstreit der beiden Gestalten von Publizität, von dem die politische Öffentlichkeit heute geprägt ist, muß als Gradmesser eines Prozesses der Demokratisierung in der sozialstaatlich verfaßten Industriegesellschaft ernst genommen werden. Nicht-öffentliche Meinungen fungieren in großer Zahl, und »die« öffentliche Meinung ist in der Tat eine Fiktion; gleichwohl ist an dem Begriff der öffentlichen Meinung in einem komparativen Sinne festzuhalten, weil die Verfassungsrealität des Sozialstaates als der Prozeß begriffen werden muß, in dessen Verlaufe eine politisch fungierende Öffentlichkeit verwirklicht, nämlich der Vollzug sozialer Gewalt und politischer Herrschaft dem demokratischen Öffentlichkeitsgebot effektiv unterstellt wird.

Habermas‘ Lösung lautet hier, dass sich die räsonierenden, sich literarisch bildenden, vereinzelten Personen der kritischen Publizistik organisieren müssen, um gegen die Übermacht der manipulativ-akklamatorischen Öffentlichkeit eine Chance zu haben. Dieses Schlussresümee zeigt, wie sehr der neue mit dem alten Strukturwandel verwandt bleibt. Schon in den 1960ern zeigte sich ein Aufmerksamkeitswettbewerb, der die langsamere, räsonierende Meinungsbildung benachteiligte und die plakative, schnelle und polemische Debattenkultur bevorzugte. Das Parlament verliert den legitimatorischen Impetus und statt Konsens wird nur noch ein Kompromiss angestrebt und Verteilungskämpfe um öffentliche Mittel durchgeführt:

Der im öffentlichen Räsonnement ermittelte Konsensus weicht dem nichtöffentlich erstrittenen oder einfach durchgesetzten Kompromiß. Den auf diesem Wege zustande gekommenen Gesetzen läßt sich, selbst wenn ihnen das Moment der Allgemeinheit in vielen Fällen erhalten bleibt, das Moment der »Wahrheit« nicht länger vindizieren; denn auch die parlamentarische Öffentlichkeit, die Stätte, an der sie sich auszuweisen hatte, ist zerbrochen […]

Schlimmer, als es Jürgen Habermas in seinem Erstling 1962 geschrieben hat, kann es unmöglich, vom Standpunkt einer sich selbst legitimierenden Demokratie, kommen. Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit fand also nicht statt. Großkonzerne und Interessensverbände fragmentieren weiterhin den öffentlichen Raum und verurteilen einzelne Beiträge zu Halböffentlichkeiten und Halbwahrheiten. Was Qualität hat, was nicht, darüber lässt sich weiterhin trefflich streiten, und was relevant, was irrelevant ist, lässt sich schon länger kein Publikum mehr vorschreiben. Vielmehr ist es den einzelnen nun vollends selbst überlassen, sich eine Meinung zu bilden, und einige sehen darin sogar ein erhöhtes Maß an demokratischer Partizipation und Freiheit wie Michel Serres mit Erfindet euch neu! – Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation (2012) oder Francois Lyotard mit Das postmoderne Wissen (1979).

Habermas und Hannah Arendt

Hannah Arendt geht in Wahrheit und Lüge (1967) darüber hinaus, indem sie, unabhängig von Moderne und Postmoderne, auf den Eigensinn der Menschen schlechthin besteht:

Die Lehren von den unbegrenzten Möglichkeiten menschlicher Manipulierbarkeit, die seit geraumer Zeit auf dem Markt der gewöhnlichen und gelehrten Meinungen feilgehalten werden, entsprechen der Mentalität und den Wunschträumen der Werbe-Fachleute. Aber solche Doktrinen ändern nichts daran, wie Menschen sich ihre Meinung bilden, und sie können sie nicht davon abhalten, nach eigenem Wissen und Gewissen zu handeln; außer dem Terror ist die einzige Methode, ihr Verhalten wirksam zu beeinflussen, immer noch das alte Verfahren von Zuckerbrot und Peitsche.

Hannah Arendt aus: „Wahrheit und Lüge in der Politik“

Für Arendt, die sich noch vor Habermas mit dem Thema ausgiebig in Vita Activa auseinander gesetzt hat, von Habermas in dem später erschienen Strukturwandel der Öffentlichkeit aber nur in Bezug auf die antike Konzeption von Öffentlichkeit erwähnt wird, stellt sich das Problem von Wahrheit und Politik in ihrem Aufsatz gar nicht, denn Wahrheit steht außerhalb von Politik, Meinungen, Handeln und Strategien. Wahrheit transzendiert diese Sphäre. Sie beschränkt in der Summe der Tatsachen den Horizont des Denken und Handelns als das Unwandelbare, das bereits Geschehene, das Faktum, von dem aus weitere Handlungen nun einmal ausgehen und folgen müssen:

Tatsachen sind hartnäckig, und trotz ihrer Verletzlichkeit, über die wir zu Beginn dieser Überlegungen sprachen, verfügen sie über eine seltsame Zähigkeit, die damit zusammenhängt, daß sie, wie alle Ergebnisse menschlichen Handelns – im Unterschied zu den Produkten menschlichen Herstellens –, nicht rückgängig gemacht werden können. An Hartnäckigkeit sind Tatsachen allen Machtkombinationen überlegen. Auf Macht ist kein Verlaß; sie entsteht, wenn Menschen sich für ein bestimmtes Ziel zusammentun und organisieren, und verschwindet, wenn dies Ziel erreicht oder verloren ist.

Hannah Arendt aus: „Wahrheit und Lüge in der Politik“

Wahrheit, also die Summe der Tatsachen, wird insofern nicht ermittelt und schon gar nicht diskursiv oder von einer Presselandschaft erzeugt. Handeln geht von ihr aus. Meinungen vergehen und entstehen und bleiben unzuverlässig und unverbindlich. Die Wahrheiten stellen aber die Rohstoffe der Geschichten und Gedanken, Ideen und Meinungen bereit. Sie werden vorgefunden und zu Neuem verarbeitet, zu neuen Fakten, Ausgangspunkten und Möglichkeitshorizonten. Für Arendt machen Menschen Gesetze, nicht die Wahrheit, und verortet die Philosophie jenseits dieser Sphäre der Meinungs- und Willensbildung:

Da philosophische Wahrheit den Menschen im Singular betrifft, ist sie ihrem Wesen nach unpolitisch. Will der Philosoph dennoch seine Wahrheit im Widerstreit der Meinungen zur Geltung bringen, so wird er immer den Kürzeren ziehen und aus dieser Niederlage schließen, daß Wahrheit (oder der »Geist«) ohnmächtig ist – was eine Binsenwahrheit ist, der so viel Bedeutung zukommt wie, wenn es dem Mathematiker, der die Quadratur des Kreises nicht zustande bringt, einfallen sollte, sich darüber zu beklagen, daß ein Kreis kein Quadrat ist.

Hannah Arendt aus: „Wahrheit und Lüge in der Politik“

Für Arendt stellt sich das Problem von Habermas nicht, wie eine allgemein verbindliche Wahrheit sich im Zeitalter der Massenkommunikation noch herstellen lässt, denn für sie ist nicht das, was konsensuell gesagt und gemeint wird, bereits Wahrheit. Wahrheit ist immer über das hinaus, was momentan gesagt wird. Habermas‘ Problem ist für Arendt also keines und daher sieht sie, im Gegensatz zu Habermas, der scheinbar nur die Welt der Nachrichten und keine andere kennt, die geistige Gesundheit der Menschen auch nicht durch die Pluralität der Meinungen bedroht, wenn dieser in Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit schreibt:  

In einer schwer vorstellbaren »Welt« von Fake News, die nicht mehr als solche identifiziert, also von wahren Informationen unterschieden werden könnten, würde kein Kind aufwachsen können, ohne klinische Symptome zu entwickeln. Es ist deshalb keine politische Richtungsentscheidung, sondern ein verfassungsrechtliches Gebot, eine Medienstruktur aufrechtzuerhalten, die den inklusiven Charakter der Öffentlichkeit und einen deliberativen Charakter der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung ermöglicht.

Wer aber entscheidet über diese Medienstruktur und wie lässt sich ein inklusiveres Medium als das Internet denken und wer kontrolliert ein derart weitreichendes verfassungsrechtliches Gebot, darüber schweigt sich Habermas beharrlich seit Jahrzehnten aus. Wenn nur der kontrafaktisch antizipierte herrschaftsfreie Diskurs darüber entscheidet, was wahr und was fingiert ist, was kritisch und was manipulativ ist, so lässt sich kein besseres, informativeres Medium als das Internet zur Informationsgewinnung und -verarbeitung denken, und es nimmt von dieser Warte aus gesehen Wunder, dass Jürgen Habermas die sich ihm bietende Vielfalt nicht rückhaltlos feiert.

12 Antworten auf „Jürgen Habermas: „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit““

  1. Danke, Alexander, dass du mir durch deine reich mit Zitaten gewürzte Rezension wieder mal das Quellenstudium ersparst. Die Wahrheitsfindung durch Diskurs, von der Habermas schwärmt, hat immer nur in Blasen stattgefunden. Und so könnte sich auch nur ein gelehrter Zirkel jetzt darüber streiten, ob Habermas mit seiner Sicht, dass der „im öffentlichen Räsonnement ermittelte Konsensus…..das Moment der »Wahrheit« (zu Recht) vindiziere(n)…, Recht hat und wo es vielleicht doch mangelt, … Dennoch finde ich Habernmas‘ mäanderndem Gedankengang zu folgen, immer auch anregend. Denn tatsächlich: Woher beziehen unsere demokratischen Institutionen ihre Legitimität, wenn nicht durch den rationalen Diskurs einer aufgeklärten Öffentlichkeit? In der Parlamentsdebatte wird die „antifaktische“ Annahme, dass ein solcher der Wahrheitsfindung dienender Diskurs stattfinde, immer wieder mit großem Redeaufwand zelebriert, als ob wir nicht wüssten, dass wir im fraktionsgebundenen Abstimmungsprozess erneut auf dem „faktischen“ Bauch bzw Hintern der Machtausübung und -erhaltung zu landen. Ähnliches ließe sich – leider – auch über die Rechtsinstitionen sagen, etwa die großen Prozessthemen unserer Zeit, die beim Verfassungsgericht landen. Noch mehr gilt dies natürlich bei Themen, die gar nicht erst zum Diskurs zugelassen werden, bzw weil eine politische Vorwegentscheidung jegliche öffentliche Erörterung für den, der solche Themen dennoch anschneidet, zum persönlichen Risiko macht

    1. Liebe Gerda, danke für diesen tollen Kommentar. Ich mühe mich selbst immer wieder mit Habermas ab. Dieser Lesebericht fand aus Anlass seines neuesten Aufsatzes statt, und ich las deshalb auch den ursprünglichen „Strukturwandel“ erneut. Im Grunde aber liegt die „Theorie des Kommunikativen Handelns“ auf meinem Tisch und dazu „Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm“ – was mir bei Habermas fehlt, ist die Beschreibung der faktischen Entscheidungsprozesse (die ihn als Soziologe ja interessieren könnten) statt die kontrafaktische Idealisierung. Es bleibt nämlich zu untersuchen, ob der Diskurs als solcher inklusiv genug ist, wie du ganz richtig sagst, oder ob nicht Habermas einer Zeit nachtrauert, in der ein paar Zeitungen und Denkenden das Meinungsbild noch für sich reklamieren konnten. Das ist nicht mehr möglich. Absurd wird es, wenn Habermas meint, dass autoritäre Strömungen die öffentlich-rechtlichen Medien einzuschränken versuchen, aber im selben Wortlaut jenen uneingeschränkte Wahrhaftigkeit zugesteht (was mitunter als obrigkeitshörig eingestuft werden könnte). Was mich provoziert und überrascht, ist seine unterlassenen Begriffsklärungen – nirgendwo spezifiziert er, was er unter kritisch, richtig, oder gerecht versteht, anders als dass es durch einen Diskurs ermittelt werden soll, der nun wiederum nicht anders spezifiziert wird, als dass er unter vernünftigen, richtigen, gerechten Bedingungen stattfinden soll … das haben viele bemerkt, aber platte Kritik hilft mir nicht, diesen, wie du richtig sagst, mäandernden Gedankengang zu begreifen, und zwar vor allem ob seiner erstaunlichen Popularität hin zu befragen, denn er gilt ja als einer der maßgeblichen (?!) Denker unserer Zeit. Mit anderen Worten, ich bin verblüfft, und das schon seit Jahrzehnten 🙂 was mich ärgert, ist, dass er Arendt völlig ausklammert. Nochmals Danke, dass der meine Irrungen und Wirrungen zugesagt haben!

  2. Och, nun ist meine ausführliche Antwort im Orkus des Internets verschwunden. Schade. Es ging mir, in Anknüpfung an deine Bemerkung über sein Desinteresse am tatsächlichen gesellschaftlichen Prozess, um Habermas‘ fragwürdige Verortung des „Diskurses“ im 19. Jahrhundert, gepflegt durch ein gebildetes Bürgertum, das es so nie gab, und vor allem, der auch nicht eine Erfindung der Aufklärung ist. Wenn überhaupt, ist er eine Erfindung des klassischen Athen, in dem niemand die göttliche Legitimation von Herrschern unterstellt hätte. Diese Idee wurde erst im kaiserlichen Rom wiederbelebt – ein östliches Erbe der Diadochenreiche Alexanders und dann durch die christlichen Herrscher ins Extrem getrieben. Gleichzeitig zerstörten sie mit größter Konsequenz und Grausamkeit jeden, der an der klassischen Diskurskultur festhielt. (Pardon, diese Abschweibung ist meiner aktuellen Lektüre verdankt: Caterine Nixey, The Darkening Age. The Christian Destruction of the Classical World, McMillan 2017, gr Übersetzung 2022. Eine Hammer-Lektüre)
    Bleibt noch nachzutragen: Hannah Ahrend ist ein anderes Kaliber als Habermas. Sie kämpft mit offenem Visier, wo er sich verbirgt, wenn man das, was sie als „Frage“ formuliert, weiterdenkt. Denn im politische Kampf geht es um Macht und Machterhaltung. Die Wahrheit wird in diesem Spiel zur Hure (nichts gegen den Berufsstand der Huren!) in dem Sinne, dass jeder sie gegen Bezahlung benutzt. Aber warum braucht er sie? Warum benutzt er sie? Warum kann er nicht ohne sie – den Schein der Wahrheit – auskommen?

    „Wer nichts will als die Wahrheit sagen, steht außerhalb des politischen Kampfes, und er verwirkt diese Position und die eigene Glaubwürdigkeit, sobald er versucht, diesen Standpunkt zu benutzen, um in die Politik selbst einzugreifen. [Allerdings bleibt die Frage,] ob diesem Standpunkt selbst eine politische Bedeutung zukommt.“

  3. Oh Danke für diesen Literaturtipp! Das werde ich mir schauen.

    Das Zitat von Arendt hatte ich mir angestrichen, aber dann doch nicht verwendet. Toll, nun hast du es in den Kommentaren getan. Das nenne ich Zusammenarbeit 🙂

    … du schneidest eine der Fragen an, die mich seit eh und je umtreibt, wieso der Schein, wieso ist er nötig? wieso muss die Hure verdammt werden, warum wird sie nicht geehrt? nur im Privaten vergöttert. In der Politik ist es geradezu andersherum (die andere Seite der sprichwörtlichen Medaille, was die Verwendung deines Vergleichs stärkt, sie wird öffentlich vergöttert und privat verdammt). Mit der Wissenschaft ist es dasselbe. Es reicht nicht Muster zu sehen und zu formalisieren – es direkt der Bauplan der Wirklichkeit her (der nicht erreichbar ist mit empirischen, in die Vergangenheit schauenden Methoden).

    Ich schweife ab. Ja, Arendt ist ein anderes Kaliber – Habermas sieht sich klar in der Nachfolge des Klerus, vor dem die Politik sich Abbitte zu schaffen versucht (der Gang nach Canossa führt über Frankfurt am Main). Ich denke, diese Gedankenlinie weitergeführt, ist sehr klärend. Die Diskursethik als Beichte, im Nachhinein, „wir haben es besser gewollt, aber das Fleisch war schwach“ (oder so ähnlich). Mich freut es sehr, dass meine kleine Analyse auf dein Widerhall stößt. Es motiviert mich, die Diskurstheorie weiter auseinander zu nehmen (als Hobby). Das genannte von dir lege ich mir zu!!

    Schade, dass der (wahrscheinlich) noch ausführlichere Kommentar im Orkus verschwunden ist … wäre es der Hades, dann könnte sich Cerberus daran laben 🙂 Hatten die Römer eigentlich einen Höllenhund? Viele Grüße!

    1. Ich glaube, Kerveros hat als Zerberus dann die römische Unterwelt bewacht. Vergil und Dante haben ihn im Programm. Inhaltlich: in der Nachfolge des Klerus, sich Abbitte verschaffen … sehr einleuchtend.

  4. Danke für Deine detaillierte Besprechung. Ich mag eigentlich nicht mitreden, wenn ich das Buch nicht gelesen habe – und meine Lektüre des ‚alten‘ „Strukturwandels“ liegt zu weit zurück (und leider ist mein Gedächtnis im Unterschied zu Deinem und dem von Gerda grottig). Was mir aber Dein Portrait bestätigt, ist mein altes Gefühl des Unbehagens ob dieses optimischen Vertrauens in die sog. intelligente Klasse (die überdies rein bürgerlich gedacht ist). Aber vielleicht bin ich auch einfach nur zu misanthropisch …

    1. Ja, das mit dem Gedächtnis – ich musste das alte Habermas-Buch neu lesen, so wenig wusste ich davon. Im Grunde habe ich gar nichts behalten, und ich fürchte, in weiteren zwanzig Jahren wird es wieder so sein. Etwas, das so in der Luft hängt, wie soll es einen anderen Eindruck als ein schwebendes Unbehagen hinterlassen 🙂 Habermas‘ Trick besteht darin, konsequent nirgendwo wirklich Stellung zu beziehen – nur an einer Stelle nimmt er die direkte Nachfolge von Horkheimer an, nämlich den Schutzraum des bürgerlichen Unternehmers, seine Familie, zu betonen, die allein demokratisch freien Austausch (unter Männern) für ihn zu ermöglichen scheint. Aber schon der Gedanke, der nur tangential diese Untiefen streift, jagt mir einen Schauder über den Rücken, also beschäftige ich mich lieber mit seiner Metaphysik. Das hat, glaube ich, weniger mit Misanthropie als mit Misstrauen zu tun. Habermas ist definitiv ein Phänomen … an seinem Erfolg lässt sich hervorragend eine Intellektuellensoziologie anschließen, aber für welches Publikum 🙂 Ich werde mal beginnen, mich durch die Theorie des kommunikativen Handelns zu arbeiten, vielleicht finde ich ein paar Juwelen! Viele Grüße und Danke fürs Vorbeischauen!!

  5. Danke für deine gehaltvolle Rezension, die mich veranlasste, den „alten“ „Strukturwandel hervorzukramen, der tatsächlich noch an der Stelle im Regal stand und gründlich abgestaubt werden musste. Obwohl ich als Naturwissenschaftler zunächst sehr von Luhmann angetan war, hat mir die Kontroverse dann doch gezeigt, wie notwendig wir Habermas brauchen. Wenn er doch nur etwas didaktischer und sprachlich zugänglicher zu Werke ginge, damit nicht nur einige Leute mit Abitur angesprochen werden können.
    Der „neue Strukturwandel“ steht zumindest schon mal auf meiner Todo-Liste. 😉

    1. Es freut mich sehr, dass das Thema auf Interesse stößt. Ich empfehle auch sehr „Erkenntnis und Interesse“ und „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“, die etwas näher auf die Differenz zwischen hermeneutischen und mathematischen Wissenschaften eingehen. Da Habermas sehr auf die Diskussionskultur im innerakademischen Bereich eingeht, kann ich, da du das selbst angesprochen hast, sehr „Die Wissenschaft der Gesellschaft“ von Luhmann als anregende Gegenposition empfehlen, die gar nicht so gegen als vielmehr einbettend und zusammenhangsstiftend für mich gewirkt hat. Ich plane die Besprechung mit Habermas Grundsatzprogramm irgendwann fortzusetzen. Ich bin gespannt, was du über Habermas schreiben wirst. Dass Habermas sehr verquer schreibt, ist in der Tat wahr. Ihn scheint vor allem ein Fachpublikum zu interessieren, was im Grunde etwas verquer zu seinem inklusiven Diskursansatz steht 🙂 Die Beobachtung gefällt mir. Viele Grüße und Danke für den Hinweis 🙂

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