Zum ersten Mal habe ich in diesem Jahr bei der Blogger Jury zum Buchpreis Das Debüt teilgenommen.
Die Shortlist umfasste dieses Mal fünf Bücher, die aus über 70 Einsendungen von dem Organisationsteam bestehend aus Dr. Bozena Anna Badura, Janine Hasse und Sarah Jäger ausgesucht worden sind. In die nähere Auswahl gekommen sind:
- Annika Büsing mit Nordstadt,
- Slata Roschal mit 153 Formen des Nichtseins,
- Claudia Schumacher mit Liebe ist gewaltig,
- Noemi Somalvico mit Ist hier das Jenseits, fragt Schwein,
- Ursula Knoll mit Lektionen in dunkler Materie.
Bücher lassen sich schnell, flüchtig, intensiv, akribisch, besonnen oder hektisch und so weiter lesen. Sie lassen sich reihen, stapeln, vergleichen, singularisieren, bedauern, bejubeln und begrüßen. All dies gehört zum Sprachspiel der Literatur, dem Suchen, Schwadronieren, dem Hoffen, zwischen Genre pendelnd das neue Erwarten.
Wie dem einzeln Buch überhaupt gerecht werden, lautet die Frage, die mich stets, auf jeder neuen Seite eines Buches beschleicht. Wie lesen? Auf welche Weise den Rhythmus der Wörter betonen? Wie der Erzählposition nachspürend? Was erinnern? Was vergessen? Was hinzutun? Alles, was für mich Literatur auszeichnet, bleibt in dieser Schwebesituation, Gedanken zu ermöglichen, Einblicke zu gewähren, Begriffshorizonte zu erweitern, ohne etwas zu erzwingen – vielleicht, um Jürgen Habermas etwas abzuwandeln, das ungezwungen Zwingende des schönen Schreibens.
Zum Punkt, um überhaupt eine Liste tolldreist erstellen zu können, hangele ich mich über Kategorien zur Punktegabe. Ansonsten habe ich keine Chance, mich selbst zu überraschen. Ich wähle 5 Kategorien und vergebe jeweils die Punkte von 1 bis 5 mit Kurzerklärungen.
Die offensichtliche und erste Kategorie lautet:
Narration:
Hier geht ein, ob ein Text überraschende Wendungen besitzt, vergleichsweise, mir unbekannte Topiken einführt, eine Erzähldichte und Spannung aufbaut, das Lesetempo dirigiert, eine Art Fluss und Eigendynamik erzeugt, Witz und Esprit versprüht, also ob der Text ein guter Gesprächspartner ist oder wird oder sein möchte.
- 5 Punkte für: Ist hier das Jenseits, fragt Schwein – da die Reise zwischen den Welten, leicht und locker, jedwede Abstrusität auffängt und dennoch mitreißt und die Frage nach Sinn und Bedeutung der Geschichte vor Lesefreude nicht einmal aufzutauchen vermag.
- 4 Punkte für: 153 Formen des Nichtseins – da die Ich-Erzählerin unnachgiebig mit sich und der Welt ins Gericht zieht und selbst völlig in sich Widersprüchliches ausagiert, das überrascht, bspw. der vorgestellte Wutausbruch gegen die faulen Zeugen Jehovas unter der Brücke.
- 3 Punkte für: Liebe ist gewaltig – da Thilo, der Verlobte, eben doch nicht Überhand gewinnt, Juli Ehre Mut und Kraft findet, für sich einzustehen, und der Roman so überraschende Züge eines Entwicklungsromans erhält.
- 2 Punkte für: Lektionen in dunkler Materie – da das zwischen den Welten hängen mit der Internationalen Raumstation eine gewisse Dramatik erhalten hat.
- 1 Punkt für: Nordstadt – da vollständig auf jede Erklärung und Logik verzichtet, und das Leben zweier junger Menschen impressionistisch und alle Verkrampftheit wiedergegeben wird.
Das führt zur nächsten Kategorie, nämlich, abgesehen von der Erzählung, dem Inhalt, die Erzählweise:
Komposition:
D.h., inwiefern die Erzählung strukturell überrascht, Zeit veranschaulicht, über Wiederholungen, Konsistenz, über Zurückbindung, Einbindung von Motiven eine Geschlossenheit erzeugt, die sowohl Anfang wie Ende plausibel werden lässt, also das Gewebe und Gewebte, das Rahmende des Textes, samt Waben und Maserungen.
- 5 Punkte für: Nordstadt – da der Roman einem Popsong gleicht, irgendwann zu schwingen und lachen und zu weinen beginnt, in Wiederholungen und Schlaufen ein Sesam-Öffne-Dich besingt, das in Rhythmik und Insistenz zu überzeugen versteht.
- 4 Punkte für: 153 Formen des Nichtseins – da das Unwahrscheinliche tatsächlich entsteht und aus dem losen Verbund anfänglich beliebiger Assoziationen ein Ich-Erzähl emergiert, das einen völlig neu auf die Erzählgeschichte schauen lässt.
- 3 Punkte für: Liebe ist gewaltig – da die Erzählposition plötzlich, völlig unerwartet wechselt (aus der ersten wird eine dritte Person), und dem Lesefluss einen Stoß frische Luft und Leichtigkeit gibt.
- 2 Punkte für: Ist hier das Jenseits, fragt Schwein – da eine eigenartige Spannung zwischen Raum und Zeit und Anwesenheit gewoben wird, was insbesondere die seltsam changierende Figur von Gottes Schwester betrifft.
- 1 Punkt für: Lektionen in dunkler Materie – da konsequent die Möglichkeiten und Überraschungen einer Episoden-Roman-Form genutzt werden, um Situationen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten zu können.
Die dritte Kategorie lautet:
Sprachgeschmeidigkeit:
Also vor allem, inwiefern der Sprache ihre Eigendynamik abgelauscht wird, Sätze nicht nur ein Ende finden, sondern auch ineinander übergehen, Bilder, Melodien, Poesie aus Wörtern entstehen, in der Imagination ein Potpourri an Sprachmöglichkeit oder gar Spracherweiterung dargestellt, also die Lust am Text vermehrt, erhöht, in vernetzten Wortwolken weitergegeben wird.
- 5 Punkte für: Liebe ist gewaltig – da der dritte Teil tatsächlich eine Sogwirkung und Eigendynamik aufweist, die einen den Atem anhalten lässt.
- 4 Punkte für: Ist hier das Jenseits, fragt Schwein – da die fehlenden Artikel für die Tiere, diese allesamt nahbar und sanft erscheinen lassen, die Sprache nirgendwo an irgendeiner Stelle erzwungen und gewaltsam erscheint, alles rundend und in sich greift.
- 3 Punkte für: Nordstadt – da Schneeflocken, kleine Details, widerhakende Erlebnisse repetiert und so entschärft werden, dass eine gewisse, stilistische Nonchalance sich einstellt, die zu einem fröhlichen Schweifen einlädt.
- 2 Punkte für: Lektionen in dunkler Materie – da nirgendwo die Bilder und dichten Szenerien und Ereignisse gestört oder verfremdet werden und der Eindruck von Gekünsteltheit entsteht.
- 1 Punkt für: 153 Formen des Nichtseins – da die Selbstreflexion als kontinuierliches Mittel, nackte Ehrlichkeit erlaubt und ein Sich-Selbst-zur-Rede-Stellen niemals rhetorisch geglättet wird.
Und so zur vorletzten Kategorie, die beinahe als stillschweigende Summe und Synergieeffekt der vorherigen gelten könnte:
Literarizität:
Hiermit ist gemeint, dass sich ein gewisses, überraschendes, sich verbreiterndes Lesevergnügen einstellt, ein Abenteuer, eine Erweiterung, Entfaltung eines Eigenständigen im Fluss des Buchstaben- und Wortaneinanderreihens, ein Gefüge, das Torbogen gleich, sich gegenseitig stützt, da eine zentrale Idee, die Worte durchfließt und zusammenhält; etwa durch eine Nach-, Nah- und Fernwirkung des Geschriebenen im Erinnern, im Lesen, das sich rekursiv zurückbindet und nachhallende Bedeutungsebenen freigibt.
- 5 Punkte für: 153 Formen des Nichtseins – da sich erst ganz am Ende die Stimmungslagen zu einem Ganzen zusammenfügen, die Schnipsel und Fragmente aus dem Internet, Zeitungen und Ebay aufeinander verweisen und als Labyrinth erweisen, aus dem das Erzähl-Ich zu entfliehen sucht.
- 4 Punkte für: Nordstadt – da sich der Songcharakter erst im letzten Drittel des Buches findet, in Schlaufen und Reihungen parataktisch verfährt und ein Lebensgefühl optimistischer Weite trotz klaffender Schweigespiralen vermittelt und dem Kann nicht-, Darf-nicht, Soll-nicht Paroli bietet.
- 3 Punkte für: Ist hier das Jenseits, fragt Schwein – da aus der Tristesse in den Himmel, in das Jenseits und zurück ein literarischer Raum sich setzt, der nach dem Lesen weiterschwingt.
- 2 Punkte für: Lektionen in dunkler Materie – da das Geschwistergespräch zum Ende das Weltall verbindet, den Schmerz, die Angst, die Kürze des Daseins veranschaulicht und auf ein Mehr hoffen lässt.
- 1 Punkt für: Liebe ist gewaltig – da Juli ein unwahrscheinliches Gleichgewicht findet, das sie zurück in die Freundschaft zu Anikó führt, wo sie sich zum ersten Mal traut, von sich zu erzählen.
Insgesamt also ergibt sich, wie das im Leben nun einmal ist, ein gemischtes Bild voller Gleichartigkeiten, Besonderheiten, die das eine neben das andere stellt, ohne die Einzelheit antasten zu können. Jedes Buch hat sein eigenes Gefüge, seine eigene Stärke. Vor der unvermeidlichen Punktvergabe stellt sich die Punkteliste wie folgt dar:
- 14 Punkte für: 153 Formen des Nichtseins
- 14 Punkte für: Ist hier das Jenseits, fragt Schwein
- 13 Punkte für: Nordstadt
- 12 Punkte für: Liebe ist gewaltig
- 7 Punkte für: Lektionen in dunkler Materie
Die ausgewählten Kategorien scheinen nur Lektionen in dunkler Materie unangemessen gewesen zu sein. Alle weiteren Titel können auf Punkte und Höchstzahl durch die unvermeidlich letzte Kategorie hoffen:
Persönliche Präferenz:
Diese Kategorie ist eindeutig, unverhohlen, moment- und augenblicksabhängig von der Lesart, die ich, wohl oder übel, mich veranlasst gesehen habe, beim jeweiligen Titel zu veranschlagen. Meine persönliche Präferenz, mit 5 zusätzlichen Punkten versehen, gilt:
153 Formen des Nichtseins von Slata Roschal, weil es mich überrascht und trotz massiver Zweifel im Laufe des Lesens mehr und mehr überzeugt hat, bis ich nicht umhin konnte, es als außergewöhnlich in jedem Sinne zu betrachten. So etwas habe ich schlicht noch nicht gelesen, so viel Ehrlichkeit, Wucht und Verletzlichkeit in einem.
Dem Organisationsteam von Das Debüt 2022 wurde also die folgende Punktevergabe mitgeteilt:
- 3 Punkte für 153 Formen des Nichtseins,
- 2 Punkte für Ist hier das Jenseits, fragt Schwein,
- 1 Punkt für Nordstadt.
Gerecht geworden bin ich sicherlich keinem der Bücher, aber alle Bücher haben etwas für mich bereitgehalten, mit welchem ich nicht gerechnet habe und meine Freude und Lust auf Literatur nur bestärkt. Hierfür bedanke ich mich bei allem, den Autorinnen, dem Organisationsteam und den Mitlesenden!
toll, wie Du Kategorien entwickelst fürs Lesen. Ich bin ja nicht vom Fach und strauchele immer mal wieder, weil sich mein erster Eindruck oft so zerfasert in “ja, aber”. Eine gute Möglichkeit, das genauer unter die Lupe zu nehmen!
Das freut mich. Es gibt viele Kategorien, aber alleine die Anstrengung, welche zu finden, klärt vieles auf und erzeugt auch sehr interessante Lektüren und Selbstbefragungen. Schön, dass es Spaß bereitet hat! Danke!
Nachdem ich keines der Bücher gelesen habe, kann ich zu deren Beurteilung gar nichts sagen. Aber deine Kategorien sind eine grandiose Zusammenfassung von Kriterien zur Durchleuchtung von Texten. Vielen Dank dafür!
Liebe Myriade, Danke! Ich bin sehr interessiert, Texte zu verstehen, Bücher gesprächig werden zu lassen, sie zu verknüpfen, auszuschöpfen und zu erschließen. Kategorien spielen dabei eine große Rolle, um nicht allzu sehr in die eigenen Fallen zu tappen. Durchleuchtung ist eine schöne Metapher dafür. Schön, dass es gefallen hat. Viele Grüße!
Der erste Abschnitt Deines Beitrags bis hin zu Jürgen Habermas ist für mich eine kleine Offenbarung. Solche Gedanken habe ich mir nie gemacht. Insgesamt finde ich Deine Einteilung sehr interessant! Danke 😉
Ich empfinde das Nachdenken über Bücher stets als eine Bereicherung. Es gibt diesem Akt das kommunikative, reflexive Element, das mich sehr inspiriert und mir tagtäglich auch in realen Gesprächen Freude bereitet. Die Spannweite der literarischen Mittel habe ich nur ankratzen können – wir beide teilen ja die Freude an Hölderlin und Hölderlin ist ein wahrer Quell an Sprachmöglichkeiten. Demnächst gibt es meinen Versuch über den Empedokles 🙂 eines der Texte, die mich mein ganzes Leben begleiten. Vielen Dank für dein Lesen und deinen Kommentar!!
Bin gespannt 😉
Die Kriterien sind interessant – ohne kann man nicht urteilen.
Vorsichtige Frage: Sollte es nicht eher Sprachgeschmeidigkeit heißen?
Absolut. Ein Typo, der mir durch die Lappen gegangen ist. Danke!
Gerade wollte ich deine Kategorien nochmal nachlesen … da sind sie weg. War dieser Beitrag nicht mal länger?
Ach herrje … was ist hier passiert? Ich schau mal nach …
Da liegt ein Fehler bei WordPress vor. Ich versuche ihn zu korrigieren. Der Reader interpretiert mein “Weiterlesen” als Ende des Artikels. Ich habe das “Weiterlesen” rausgenommen, es müsste demnächst aktualisiert sein. Danke für den Hinweis … etwas verstörend ist es schon.
Ist jetzt komplett. Ich lasse es ohne “Weiterlesen” drin.
Danke, jetzt ist alles wieder da. WP stiftet mit seinen Updates nicht nur Freude, leider.
Hab einen schönen Sonntag!