Albert Camus: „Der Mythos des Sisyphos“

Der Mythos des Sisyphos
Der Mythos des Sisyphos … Nobelpreis für Literatur 1957

Die französische Variante der Existenzialphilosophie, der Existenzialismus, wurde mehr oder weniger mit dem Roman Der Ekel von Jean-Paul Sartre, der 1938 erschien, aus der Taufe gehoben. Knapp vier Jahre später erschienen von Albert Camus der Kurzroman Der Fremde und im selben Jahr die mehr oder weniger selbst gelieferte Deutung zu diesem Der Mythos des Sisyphos, zugleich einer der Gründungstexte des Existenzialismus. Die endgültige philosophische Begründung erhielt diese philosophische Richtung ein Jahr später, 1943, mit Das Sein und das Nichts von Jean-Paul Sartre, bevor dieser 1946 mit seinem Satz aus Der Existentialismus ist ein Humanismus folgendes Schlagwort bekam:

Gemeinsam ist [allen Existenzphilosophien] die Tatsache, daß ihrer Ansicht nach die Existenz dem Wesen vorausgeht, oder, wenn Sie so wollen, dass man von der Subjektivität ausgehen muss.

Jean-Paul Sartre aus: “Der Existentialismus ist ein Humanismus”

Albert Camus hat sich zeitlebens vom Existentialismus Sartrescher Provenienz distanziert. Im Folgenden nun ein Versuch durch die genaue Lektüre von Der Mythos des Sisyphos, das Missverständnis aufzuklären, das zwischen Camus‘ Selbstauffassung und Fremdzuschreibung besteht, wenn letztere ihn weiterhin beharrlich zum Existentialismus zählt, obwohl dieser 1953 in seinem Tagebuch schreibt:

Zwei gewöhnliche Irrtümer: Die Existenz geht der Essenz voraus oder die Essenz der Existenz. Sie gehen und erheben sich beide im gleichen Schritt.

Albert Camus aus: “Tagebuch 1951-1959” (Frühjahr 1953)
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Franz Kafka: „Der Prozess“

Franz Kafka: „Der Prozess“
Dr. Jekyll und Mr. Hyde im Zeitalter der Bohème …

Interpretationsmodelle (3): Im Rahmen der Reihe Interpretationsmodelle, von denen es bereits einen ersten Teil mit Theodor W. Adornos Skoteinos und einen zweiten mit Jacques Derrida Gesetzeskraft gibt, veranschauliche ich dieses Mal anhand Franz Kafkas Der Prozess, inwieweit sich Interpretationen wertfrei darin unterscheiden lassen, wie sehr sie dem Textganzen und nicht nur gewissen Teilaspekten entsprechen.  Deutungen und Inhalt eines Romanes lassen sich ja selbstredend nach Belieben konstruieren, genauso wie Wertungen, Urteile, Eindrücke und Impressionen. Dies gilt selbst dann, wenn Interpretationen die Textgesamtheit berücksichtigen, aber erst recht im Falle einer dezisionistischen Textstellenauswahl. Als Beispiel dient hier Jacques Derridas dekonstruktivistisches Verfahren beim Besprechen von Walter Benjamins Text Zur Kritik der Gewalt. Noch deutlicher aber lässt sich dies an den Interpretation bezüglich Kafkas Der Prozess veranschaulichen:

»Sie dürfen nicht weggehen, Sie sind ja verhaftet.«
»Es sieht so aus«, sagte K.
»Und warum denn?« fragte er dann. »Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das zu sagen. Gehen Sie in Ihr Zimmer und warten Sie. Das Verfahren ist nun einmal eingeleitet, und Sie werden alles zur richtigen Zeit erfahren. Ich gehe über meinen Auftrag hinaus, wenn ich Ihnen so freundschaftlich zurede. Aber ich hoffe, es hört es niemand sonst als Franz, und der ist selbst gegen alle Vorschrift freundlich zu Ihnen. Wenn Sie auch weiterhin so viel Glück haben wie bei der Bestimmung Ihrer Wächter, dann können Sie zuversichtlich sein.«

Franz Kafka aus: “Der Prozess”
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Annie Ernaux: „Das andere Mädchen“

Annie Ernaux: „Das andere Mädchen“
Von einem Leben, das aufhörte zu leben … Spiegel Belletristik-Bestseller 43/2022.

Gespenster existieren auf unterschiedliche Arten und Weisen. Unabgeschlossene Prozesse, nicht verheilte Wunden und Schmerzen sind solche Möglichkeiten. Sie hallen nach. Das Echo einer unbewältigten Vergangenheit durchzieht die Gedanken, unterminiert das Gemüt, schillert und wabert durch die Sinnbildungen hindurch. Annie Ernaux schreibt in Das andere Mädchen von einem solchen Gespenst, das einer verstorbenen, von den Eltern verschwiegenen Schwester, und verdichtet und drängt eine Erinnerungsspur bis aufs äußerste und kürzeste wortkarg gedrängt:

Ich kann ihre Erzählung nicht Wort für Wort wiedergeben, nur den Inhalt und einige Sätze, die die Jahre bis heute überdauert haben, Sätze, die wie eine kalte, lautlose Flamme über mein Kinderleben hinwegfuhr, während ich weiter neben meiner Mutter herumsprang und mich drehte, mit gesenktem Kopf, um bloß keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Annie Ernaux aus: “Das andere Mädchen”
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