Annie Ernaux: „Der junge Mann“

Der junge Mann
auf den Spuren des eigenen Ichs … Spiegel Belletristik Bestseller (08/2023)

Die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux setzt die Tradition der französischsprachigen Biographen fort. Hier lässt sich sofort an das Tagebuch der Gebrüder de Goncourt denken, oder an Michel Leiris Die Spielregeln. Noch näher wären Jean-Jacques Rousseaus Bekenntnisse, selbstredend Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder aber auch die verstreuten Reminiszenzen eines Claude Simon wie in Die Akazie, Jardin des Plantes oder Das Haar der Berenike. In ihrem neuesten und sehr kurzen Text Der Junge Mann reflektiert Ernaux noch einmal eingehend, fast aphoristisch das Erinnern und das Schreiben des Erinnern selbst. Das Motto von Der junge Mann lautet so auch konsequenterweise:

Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe,
sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen,
sondern wurden nur erlebt.

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Uwe Tellkamp: „Der Schlaf in den Uhren“ (i: Inhalt)

Chronik einer Sprachmaschine … Spiegel Belletristik-Bestseller (22/2022)

Der satt 900 Seiten umfassende neue Roman von Uwe Tellkamp Der Schlaf in den Uhren hinterlässt ein eigenartiges Potpourri an Eindrücken. Er liest sich schwer und umständlich. Die Seiten liegen bleigedruckt vor den Augen. Absatz für Absatz fallen sie zu. In den Ohren das nachhallende Geraune. Dazwischen eine leise, sich wundernde Stimme: Was lese ich da? Die Orientierung zwischen den Zeitebenen, den Figuren, zwischen den Handlungssträngen geht schnell verloren. Zwischen Personalpronomina, Chiffren, Vor- und Zunamen, je nach Zeitpunkt verheiratet, geschieden, ledig gehen die Figuren allzu schnell ineinander über. Um meinen Leseeindruck also zu bündeln, nähere ich mich in aufeinanderfolgenden Schritten: vom Inhalt über die Form zum Text. Ich beginne mit dem Inhalt.

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Damon Galgut: „Das Versprechen“

Eigentümlich hoffnungsvoll … Booker-Preis 2021.

Mehrere Romane in den Bestsellerlisten dieses Jahres behandeln die emotionalen, politischen, psychologischen Hinterlassenschaften der kolonialen Gewaltherrschaft. In „Das verlorene Paradies“ von Adulrazak Gurnah geht es um Tansania, um den Lebensweg eines kleinen Jungen zwischen preußischem Militär und chaotischer Häuptlingsregentschaft; in „Die Rache ist mein“ von Marie NDiaye unter anderem um die Problematik einer Flüchtlingsfamilie aus Mauritius im Gegenwartsfrankreich. In Leïla Slimanis „Das Land der Anderen“ wird die Geschichte einer Französin in Marokko erzählt und deren gewaltsame Initiation in die dort herrschende Kultur, und in „Schicksal“ beschreibt Zeruya Shalev die Ereignisse in den ersten Jahren des neugegründeten Staates Israel, das Leben, Weiterleben, Fortleben von Terror und Freiheitskampf. Damon Galguts Roman „Das Versprechen“, diesjähriger Booker-Prize Gewinner, lässt das Augenmerk auf die Südhalbkugel wandern, weit über den Mittelmeerraum hinaus auf Südafrika, Pretoria, und erzählt die Geschichte der Familie Swarts.

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