
Die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux setzt die Tradition der französischsprachigen Biographen fort. Hier lässt sich sofort an das Tagebuch der Gebrüder de Goncourt denken, oder an Michel Leiris Die Spielregeln. Noch näher wären Jean-Jacques Rousseaus Bekenntnisse, selbstredend Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder aber auch die verstreuten Reminiszenzen eines Claude Simon wie in Die Akazie, Jardin des Plantes oder Das Haar der Berenike. In ihrem neuesten und sehr kurzen Text Der Junge Mann reflektiert Ernaux noch einmal eingehend, fast aphoristisch das Erinnern und das Schreiben des Erinnern selbst. Das Motto von Der junge Mann lautet so auch konsequenterweise:
Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe,
sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen,
sondern wurden nur erlebt.
Der Text beginnt also mit einer Faltung – das Ich, das als Geschriebenes erscheint, hat auch erlebt. Autorin und Erzählerin werden als Einheit vorgestellt, das Erleben als etwas Reales, das durchs Beschrieben-Werden zu seinem Ende zu kommen vermag. Worauf sich aber das Ende-Kommen bezieht, bleibt fraglich. Die Erinnerung als Gedächtnis findet keinen Abschluss. Alles lässt sich stets aufs Neue erinnern, auf stets neue und überraschende Art. Michel Foucault nennt dies die Archäologie des Wissens. Alles Wissen, auch das Private, reorganisiert sich unter dem Primat eines Dispositiv, oder: Mit sich verändernder Gegenwart ändert sich auch die erinnerte Vergangenheit. Die Erinnerung stellt nur das sich verändernde Kleid des Erlebten dar. Zum Abschluss kommen vermag nur eine Episode, eine zeitabhängige Größe, beispielsweise eine Affäre oder ein gelesener oder geschriebener Text. In Der junge Mann fällt beides in eins:
Je weiter ich mit dem Schreiben über dieses Ereignis, das vor seiner Geburt stattgefunden hatte, vorankam, desto unwiderstehlicher fühlte ich mich dazu getrieben, ihn zu verlassen. Als wollte ich ihn von mir lösen und abstoßen, so wie ich es gut dreißig Jahre zuvor mit dem Embryo getan hatte. Ich arbeitete ohne Unterbrechung an meiner Erzählung und parallel dazu, mittels einer entschlossenen Distanzierung, an der Trennung. Zwischen ihr und dem Ende des Buchs lagen nur wenige Wochen.
Hier wird es nun unmöglich, die Autorin von der Erzählerin zu trennen, denn das Buch Das Ereignis hat Annie Ernaux geschrieben, von dessen Abfassung die Ich-Erzählerin in Der junge Mann berichtet. Die Ellipse zum Motto schließt sich. Erst, wenn die Ich-Erzählerin ihr Leben in Schrift verwandelt hat, ist es beendet, wohlmöglich in seiner Erscheinungsform fixiert, und so spürt sie nach und nach allen entscheidenden Situationen nach und verleiht ihnen ein kontextuelles, die Breite der Generation einbeziehendes Gewicht. In diesem Sinne erscheint das Motto auf das Ereignis abzuzielen, die erst durch die Affäre mit dem jungen Mann literarisch verarbeitet werden konnte:
Ich hatte schon oft Sex, um mich zum Schreiben zu zwingen. In dem anschließenden Zustand der Erschöpfung, der Verlorenheit wollte ich Gründe dafür finden, nichts mehr vom Leben zu erwarten. Ich hoffte, nachdem die heftigste Erwartung vorbei wäre, die des Orgasmus, würde sich die Gewissheit einstellen, dass es nichts Lustvolleres gibt, als ein Buch zu schreiben.
Die Ich-Erzählerin invertiert den in Frankreich berühmt berüchtigten (quellenlos zugeschriebenen?) Satz von Honoré de Balzac: „Une nuit d’amour, c’est un livre en moins.“ (Eine Liebesnacht, wieder ein Buch weniger.) Sie behauptet nachgerade das Gegenteil. Die Liebesnacht gerät zum archimedischen Punkt, um den das Schreiben sich als Sinngebung zentriert. Sie führt einen Exorzismus durch, nach welchem im Erleben und Leben der Ich-Erzählerin an das Schreiben eines Buches nichts heranreicht, nicht einmal der Liebesakt als solcher. Der Inhalt von Der junge Mann lässt sich schnell zusammenfassen:
Die Erzählzeit liegt in den 1990er Jahren, kurz vor Anbruch des neuen Jahrtausend. Die Ich-Erzählerin sagt zu Anfang, dass sie vierundfünfzig Jahre alt sei. Fällt also der Geburtstag der Ich-Erzählerin mit dem verbürgten der Autorin zusammen, beginnt die Affäre mit einem dreißig Jahre jüngeren Mann im Jahr 1994. Sie dauert knapp fünf Jahre. In dieser Zeit pendelt die Ich-Erzählerin zwischen ihrem Wohnort, wahrscheinlich Paris, und Rouen, wo der junge Student lebt und studiert wie einst die Ich-Erzählerin, nur eben dreißig Jahre später. Sie erleben die Altersdifferenz, das Neue, das eine ältere Frau mit einem sehr viel jüngerem Mann ausgeht, die Zweifel, aber auch die Hoffnung, dass hieraus etwas Eigenes und Bestehendes hervorgehen kann. Sein Umzug nach Paris markiert aber das Ende der Beziehung, auf deren Geschichte auch nicht das Hauptaugenmerk des Textes gerichtet ist:
Dieses Gefühl war ein Zeichen dafür, dass seine Rolle in meinem Leben, die eines Zeitöffners, vorbei war. Meine initiatorische Rolle in seinem vermutlich auch. Er zog von Rouen nach Paris.
Ich begann die Erzählung meiner heimlichen Abtreibung, die ich lange umkreist hatte.
Die Ich-Erzählerin erlebt das Erlebte, die Erfahrungen mit dem jungen Studenten als eine Erinnerung. Sie durchlebt eine janusköpfige Zeitreise, durch die sich ihre Vergangenheit zu klären beginnt. Vielleicht auch, da die Vergangenheit vor der Geburt des jungen Studenten stattgefunden hat, wird ihr der zeitliche Abstand bewusst und damit die Freiheit, die sie sich gegenüber dem Erlebten leisten kann. Entscheidend jedoch, und dies ganz im Gegensatz zu anderen biographischen Erinnerungsstücken, steht für die Ich-Erzählerin das Erlebte fest. Es besitzt ein und genau ein Bild, das der verbürgten erinnerten Struktur. Das Erzählen verändert das Erleben nicht. Es beendet es nur.
Auf mehr als einem Gebiet – Literatur, Theater, bürgerliche Sitten – sorgte ich für seine Initiation, aber all die Dinge, die ich dank ihm erlebte, waren auch für mich eine Initiationserfahrung. Der Hauptgrund, warum ich unsere Geschichte fortführen wollte, war, dass sie in einem gewissen Sinne bereits stattgefunden hatte und ich darin eine fiktive Figur war.
Nun beginnt es schwierig zu werden. Annie Ernaux spielt mit allen Ebenen der Authentizität, ohne jedoch das Geheimnis ihrer Erinnerungsarbeit darzulegen. Wie kann sie eine fiktive Figur in etwas sein, welches bereits auf diese (und keine andere Weise) stattgefunden hat? Das Erzähl-Ich reflektiert sich als Erinnernde nicht. Sie spürt nicht den aus der Gegenwart in die Vergangenheit hineinreichenden Beobachtungsmaßstäben nach. Sie folgt ihnen, lässt sich leiten und gerät so unter die Ägide des Dispositivs, von der Foucault in seinen theoretischen Reflexionen als Archäologie des Wissens spricht.
Mir war bewusst, dass all das gegenüber dem jungen Mann, der die Dinge zum ersten Mal erlebte, eine Form der Grausamkeit war. Auf seine Zukunftspläne mit mir antwortete ich unweigerlich: »Die Gegenwart reicht doch«, sagte aber nie, dass die Gegenwart für mich nur eine Täuschung war, ein Duplikat der Vergangenheit.
Diese Haltung entspricht gar nicht derjenigen von Heraklit, der beobachtet, dass jeder Moment einmalig bleibt, panta rhei, und es unmöglich ist, zweimal in denselben Fluss zu steigen. Ernaux‘ ganze Schreibverve bezieht sich nachgerade auf das Gegenteil. Dinge, die zum ersten Mal erlebt werden, erhalten sich in der Zeit und können sich wiederholen. Das Ding (Essen eines Baguettes, Besuch eines Theaterstücks von Eugène Ionescu, eine Liebesnacht etc) verändert sich nicht. Es realisiert sich nur durch verschiedene Gestalten hindurch, also eine ganz und gar platonische Sicht der Dinge, die das Wahre hinter den Erscheinungen (dem Erlebten) vermutet, die Phänomene nur als imperfekte Verwirklichungen der ewigen Idee. Die Ich-Erzählerin von Annie Ernaux säkularisiert diesen Gedanken, indem die Idee zu ihrem Körper wird, durch den hindurch sie alles erfühlt und erlebt:
Immer öfter hatte ich den Eindruck, ich könnte Bilder, Erfahrungen, Jahre anhäufen, ohne etwas anderes dabei zu empfinden als ein Gefühl der Wiederholung. Mir war, als würde ich ewig leben und zugleich tot sein, so wie meine Mutter in dem Traum, den ich oft habe, und beim Aufwachen bin ich für einige Momente überzeugt, dass sie tatsächlich in dieser doppelten Form existiert.
Weil die Ich-Erzählerin gleich fühlt, erscheint die Situation als die selbe. Dieselben Gefühle bedeuten auf eine selbe Realität, und so überlagern sich in ihrem körperlichen Empfinden Vergangenes und Gegenwärtiges zu einem gemeinsamen Ganzen, das es zu beenden, dem es eine Form zu finden gilt, nämlich für das Gefühl. Diese Art der Erinnerung, sich ganz und gar von der Wiederholung, dem Auf und Ab des Empfindens treiben zu lassen, prägt den Text Der junge Mann. Wie die Ich-Erzählerin in Das andere Mädchen mit dem Geist der vor ihrer Geburt verstorbenen Schwester kommuniziert, so lässt sie im jungen Mann den Studenten wiederauferstehen, der sie damals geschwängert hat und dessentwegen sie eine Abtreibung unter grausamsten Umständen durchführen musste. Sie erlebt die Gegenwart gespalten, als lebendig und tot, also untot, und bringt sie dadurch in Bewegung:
Die lange Zeitspanne, die uns voneinander trennte, hatte etwas Zartes, sie machte die Gegenwart intensiver. Der Gedanke, dass meine Erinnerungen an die Zeit vor seiner Geburt im Prinzip das Gegenstück, die Kehrseite, der Zeit war, die nach meinem Tod seine Zeit sein würde, mit Ereignissen und politischem Personal, von denen ich nie erfahren würde, kam mir nicht. Ohnehin war er, allein durch seine Existenz, mein Tod.
Die Linse, durch die die Ich-Erzählerin die Welt, also den Erlebnisraum betrachtet, besitzt verschiedene diskrete Einstellungen, Schablonen, nach denen sich die jeweiligen Situationen ordnen und filtern lassen. Durch diese starr gesetzte, aber selektive Opposition zeichnet sich Annie Ernaux’ Erzählhaltung aus. Sie bringt die Vergangenheit nicht in Bewegung durch die Reflexion auf die Erzählzeit wie Proust, der im Hin und Her erzählte Zeit und Erzählzeit dynamisch sich durchdringen lässt. Sie erzählt die Vergangenheit auch nicht rein retrospektiv, als objektiv vorhandene und statifizierte Ganzheit wie bspw. Elias Canetti in seinem mehrteiligen Autobiographie-Zyklus (Die gerettete Zunge, Die Fackel im Ohr, Das Augenspiel, Das Geheimherz der Uhr); oder impressionistisch, wie Claude Simon, der sich ganz der Gegenwart überlässt und auf diese Weise immersiv in die Situationen eingeht.
Als ebenfalls kurzer und von Erinnerungen durchsetzter Text eignet sich als Vergleich zu Der junge Mann Claude Simons Das Haar der Berenike, 1983 zeitgleich mit Philippe Sollers Femmes erschien und deshalb seinen Namen ändern musste. Der Titel erscheint so kontingent und als Sternenkonstellation beliebig. Er lässt sich jedoch textlich durch den vor dem dunklen Hintergrund blitzhaft aufleuchtenden Erzähl-, d.h. Erinnerungscharakter begründen, der für Simon charakteristisch ist. Er erinnert sich nämlich nicht kohärent:
Düne die zwei weiche Höcker bildete der Grund der Mulde zwischen den beiden von der horizontalen Linie des grauen Meeres durchschnitten der Himmel darüber auch grau allerdings heller: eine unbewegliche Decke aus Wolken mit blaß aufgedunsenen Bäuchen Auf dem glatten Hang der Düne hatte der Wind im Sand parallele Rillen gezeichnet die gewunden waren wie die Maserung eines Bretts
Auf den ersten Seiten gibt es kein Erzähl-Ich. Die Bilder stehen für sich. Nach und nach wird klar, dass es sich um Strände in Katalonien handeln könnte, Bezugnahmen auf Joan Miró weisen darauf hin, aber das spielt gar keine Rolle. Sand, Impressionen, Strandgut bilden eine Gleichzeitigkeit von allem Vergangenen ab, in denen die Assoziationen herumspringen.
Jeden Abend keuchend in der braunen Nacht dem braunen Meer die Sterne ankeuchend die unter ihnen kommen und gehen abgestützt mit dem Rücken stoßend das Funkeln der Laterne auf ihren schweißglänzenden aus der tiefen Nacht hervortretenden Schultern bei jedem Stoß kann man die Spanten krachen hören während sich das mächtige Boot ungeheuer schwarz gegen den Hintergrund der Sternenbilder abhebt der Bärenhüter die Jagdhunde die Weibliche Wasserschlange
Der Vergleich lässt klar werden, dass hier ein Ich zwar spürt, aber in der Situation vermischt eingeht, sich transponiert, sich nicht gleichbleibt, sich bewegt, die Augen, die Ohren, die Erinnerungen und Gegenwarten dynamisch walten lässt. Ein erstes, augenblickhaftes Ich taucht erst gegen Mitte des Textes im Anschluss an die soeben zitierte Stelle auf
endlich bewegte [das Boot] sich glitt sie schrieen lauter einen Triumphgesang anstimmend aber gleich darauf hielt es in der Bewegung inne der Gesang brach ab
So heiß dass das Meer selbst zu schwitzen schien ich konnte fühlen wie es meine Gliedmaßen entlanglief schleimig eindringend
Ein Vergleich findet nicht statt. Die Erinnerung organisiert nicht das Gesehene. Es setzt keine wertenden Bezüge und keine von außen herangetragenen Maßstäbe. Es bleibt im Hier und Jetzt, taucht ab, taucht auf, als ein Ich, das sich mitreißen, begeistern, erschrecken, verstören lässt. Bei Annie Ernaux findet genau das Gegenteil statt. Sie hält die Erinnerungen so fest, dass sie gerinnen, sich reproduzieren. Erst dann scheinen sie eine Erlösung in einer schriftlich fixierten Form finden können.
Von seiner Wohnung aus blickte man auf das Hôtel-Dieu, das alte Krankenhaus, das seit einem Jahr leer stand und umgebaut wurde, weil dort die Präfektur einziehen sollte. […] An genau diesen Ort, in dieses Krankenhaus, war ich als Studentin in einer Januarnacht transportiert worden, wegen einer starken Blutung nach einer heimlichen Abtreibung. Ich wusste nicht mehr, in welchem Flügel sich das Zimmer befand, in dem ich sechs Tage verbracht hatte. Dieser erstaunliche, fast schon unerhörte Zufall war so etwas wie das Zeichen einer mysteriösen Begegnung, einer Geschichte, die gelebt werden musste.
Annie Ernaux thematisiert in ihren Texten den Mythos der wiederkehrenden Gespenster und untoten Empfindungen, die mit ihren eisigen Klauen die Gegenwart in Beschlag nehmen, die nichts durchlassen, wie Gefängnisse wirken und durch ein heilendes, erlösendes Wort zum Verschwinden gebracht werden sollen. Theodor W. Adorno sah darin das Sesam-Öffne-Dich und Walter Benjamin das bucklicht Männlein, der Engel der Geschichte, der zurückblicken muss, um vom Fortschritt nicht hinfort getrieben zu werden. Inwiefern aber die Befreiung durch solch ein Schreiben bewerkstelligt werden kann, das Benjamin in Über den Begriff der Geschichte antizipiert, bleibt unausgemacht. Die bestimmte Negation der Utopie bleibt ja immer noch und nur, ob bestimmt oder nicht, eine Negation.
tl;dr … eine Kurzbesprechung findet sich hier.
Und eine weitere auf Literaturreich [runterscrollen].
Was für eine grossartige Rezension mit so vielen Kontextinformationen und Hintergründen sowie Analysen. Ich habe das Buch auch rezensiert, die Rezension erscheint am Montag.
Ich wurde mit dem Buch und mit der Autorin nicht warm. Irgendwie hat mich alles schlicht nicht berührt, es blieb mir fremd, fern, konnte keine Resonanz entfachen.
Vielen Dank, das freut mich. Es ist ein sehr kurzer Text, aber sehr dicht und ich ließ ihn auf mich wirken. Am Ende entsponnen sich viele Fäden und es beruhigt mich, wenn es trotzdem lesbar geblieben ist. Ich bin auf deine Besprechung gespannt. Annie Ernaux bleibt sehr kühl – ich glaube, sie legt es nicht darauf an, mit ihr warm werden zu können. Mir geht es ähnlich.
Danke für die weitvernetzte Rezension! Leider beantwortet sie nicht die Frage welches Buch von Annie Ernaux ich zuerst lesen soll 🙂
Gerne! Von denen, die ich gelesen habe, “Das andere Mädchen” … aber wahrscheinlich, wiewohl ich es auch noch lesen müsste, wäre es “Die Jahre”. Wenn du wartest, schreibe ich irgendwann darüber. Momentan hänge ich etwas nach :O
Ich warte gerne. Der Lesestoff kann einem ja gar nicht ausgehen 😉
Dich hat sie auch gepackt, gell? Deine ersten Besprechungen haben mich – mit etwas Verzögerung – angeregt, Annie Ernaux zu lesen. Eingestiegen bin ich (mehr Zufall als Plan) mit „Eine Frau“ – die Präzision und Schonungslosigkeit der Beobachtungen hat mich umgehauen. Es folgten (da hatte ich mich dann von Dir direkt anregen lassen) „Das Ereignis“ und „Das andere Mädchen“. Mir sagt die lakonische Mitleidslosigkeit sehr zu, mit der sie aus zeitdokumentarisch-biografischem Erzählen etwas ganz Eigenes schafft. Gefühlsduselei wäre bei diesen Themen in der Tat nicht angebracht. Und auch wenn ich ihre Erfahrungen nicht teile und auch eine (halbe) Generation jünger sein dürfte, kann ich mich, meine eigene Geschichte und mein eigenes In-der-Geschichte-Stehen in ganz vielen Details wiederfinden – das ist kein Qualitätsmerkmal für Literatur, ich weiß, aber ein Motor, um weiter zu lesen. Die Qualität finde ich dann vor allem in der Form, die Ernaux für ihre Texte findet – besonders faszinierend ist dabei für mich das Immer-wieder-Annähern über verschiedene Texte hinweg. Ich stecke gerade in „Die Jahre“ (für mich schließen sich da einige Kreise, aber chronologisch betrachtet wäre es wohl eher umgekehrt, denn die späteren Texte, die ich jetzt zuerst gelesen habe, gehen tiefer rein). Dieses Schreiben in konzentrischen Kreisen hat mich jetzt echt gepackt. Danke, dass Du mich auf diese Autorin so neugierig gemacht hast (der Nobelpreis alleine hätte das nicht geschafft).
Was du sagst, empfinde ich ebenfalls. Du drückst es sehr gut aus:
“Mir sagt die lakonische Mitleidslosigkeit sehr zu, mit der sie aus zeitdokumentarisch-biografischem Erzählen etwas ganz Eigenes schafft.”
Die Mitleidlosigkeit, mit der sie parataktisch die Ereignisse wiedergibt, erzeugt eine sehr gespenstische Geschichtlichkeit, ein Vergehen, das im Erzählen bereits verschwindet, sobald es sich setzt. Ernaux zerbröselt das Erzähl-Ich, darin ist sie sehr radikal. Ich empfinde ihre Text fast als Gedichte, kleine Miniaturen, die sich, in der Tat, wie konzentrische Kreise mit Überlagerungen durch die Zeit ziehen, Bilder erzeugen, Bilder auflösen. Ich bin noch nicht hinter ihr Erzählen gekommen, aber es freut, dass ich Anregungen geben konnte. Ich werde “Die Jahre” demnächst auch noch weiterlesen, finde aber “Der junge Mann” sehr gut als Einführung, muss ich sagen. Viele Grüße und Danke für den Besuch!!