Caroline Wahl: „Windstärke 17“

Windstärke 17 von Caroline Wahl. Spiegel Belletristik-Bestseller (2024)

Aus der Kategorie Prekäre Kindheitserfahrungen meldet sich nach 22 Bahnen der neue und zweite Roman von Caroline Wahl Windstärke 17. In Intensität, Tempo und Wucht stimmt es mit Romanen wie Ministerium der Träume von Hengameh Yaghoobifarah und Öziri Necatis Vatermal ein, d.h. harte, umgangssprachliche Kraftausdrücke werden nicht gescheut, trotz aller Verletzlichkeit, die die Figuren dieser Romanwelten aufweisen und in ihrer Sehnsucht nach Frieden und Beschaulichkeit den Schwebezustand eines Prana Extrem von Joshua Groß anstreben. Die Welt liegt aber in Trümmern, und mit Welt sind hier meist die familiären Verhältnisse und die als desaströs empfundenen Eltern-Kind-Beziehungen gemeint:

[Mama] bleibt im Türrahmen stehen, während ich »egalegalegalegal« schreibe. Im Augenwinkel sehe ich, wie sie sich umdreht und die Tür schließt. Wie sie sich umdrehte und die Tür schloss. Ich hasse mich für dieses »Egal«. Ich hasse mich, ich hasse sie, und ich hasse alles. Sie wusste, als sie an diesem frühlingshaften Dienstag an meine Tür klopfte, dass sie gehen wird, und ich wusste es irgendwie auch. Ich habe »fjsodksnd« und »egalegalegalegal« aus dem Dokument gelöscht, »Scheißkuh« dringelassen. Und habe sie gehen lassen.
Caroline Wahl aus: „Windstärke 17“

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Ulrich Plenzdorf: „Die neuen Leiden des jungen W.“

Die neuen Leiden des jungen W. … Intensität statt Larmoyanz.

Das Thema DDR treibt wie kaum ein anderes die Gegenwartsliteratur um. Kaum eine Shortlist kommt ohne einen solchen Titel aus, der sich an der Vergangenheitsaufarbeitung des untergegangenen Staates versucht und ein weiteren Aspekt von dessen Staatsapparat beleuchtet. Sei es Helga Schubert Vom Aufstehen, Heike Geißler Die Woche, Anne Rabe Die Möglichkeit von Glück oder Trottel von Jan Faktor, um nur einige wenige aktuelle Romane dieser Art zu nennen. Um diesen Romanen einen innerliterarischen Hintergrund zu verleihen, mit welchem sie, ob sie es wollen oder nicht, ohnehin kommunizieren, bietet es sich an, exemplarische Romane der DDR-Literatur selbst zu Wort kommen zu lassen. Werner Bräunigs Rummelplatz, Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand und Christoph Heins Der Tangospieler gab es bereits. Heute soll nun Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. einstimmen dürfen:

Ein neuer Code. Ich hätte mir in den Hintern beißen können. Wenn wir in Stimmung waren, konnten wir uns zum Beispiel massenweise blöde Sprichwörter an den Kopf werfen: Ja, ja, das Brot hat immer zwei Kanten. — Schon recht. Aber wenn man das Geschirr morgens nicht abtrocknet, ist es noch naß. — Wer dumm ist, braucht noch lange nicht blöd zu sein. — Arbeit macht die Füße trocken. In dem Stil. Aber das war zuviel für Old Willi. Leute, seine Stimme hättet ihr hören sollen. Er verstand die Welt nicht mehr.

Ulrich Plenzdorf aus: „Die neuen Leiden des jungen W.“
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Marc-Uwe Kling: „Views“

Views von Marc-Uwe Kling. Spiegel Belletristik-Bestseller (2024).

Das literarische Genre Aktivistisches Agit-Prop erfreut sich großer Beliebtheit. Es erlaubt, meist unter einem nur spärlich ausgearbeiteten Plot, Zeitgeist, Diskursen, einen Flickenteppich an Assoziationen unterzubringen. Friedrich Dürrenmatts Die Physiker stellt das Paradebeispiel dar. Es spezifiziert außerdem das Thema von Johann Wolfgang Goethes Gedicht Der Zauberlehrling von einem magischen hin zu einem technologischen Aspekt, vermengt dieses mit einem kriminologischen Plot. Selbiges, und hier in einer Reihe mit Constantin Schreibers Die Kandidatin, unternimmt Marc-Uwe Kling in seinem neuesten Roman Views:

»[Das Video] ist wirklich grausam. Ich weiß nicht, ob du …«
»Stefan«, sagt Yasira ruhig, »ich bin Hauptkommissarin beim BKA, Abteilung für schwere und Organisierte Kriminalität!« So, jetzt war es raus. »Ich hab Sachen gesehen, die dir wochenlang den Schlaf rauben würden. Ein Video kann mich nicht schocken. Gib mir das Handy!«
[…] Schon nach den ersten Sekunden weiß Yasira, dass dieses Video alles verändern wird. Es ist der Tropfen, der Funke, der Zünder. Stefan hat recht. Es ist Sprengstoff.

Marc-Uwe Kling aus: „Views“

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Theodor W. Adorno: „Ästhetische Theorie“ (iii: Universalien)

Ästhetische Theorie und der Universaliensstreit.

Im ersten Teil meiner Lektüre von Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie beschäftigte ich mich mit seinem Kunst-, im zweiten mit seinem Kritik-Begriff, also einerseits mit den objektiven (dem Kunstwerk eigenen) und sonach mit den subjektiven (dem Rezipierenden eigenen) Konstituentien einer ästhetischen Erkenntnis. Im dritten und letzten Teil wage ich nun eine Diskussion von Adornos Theorie-Position, die es ihm überhaupt erlaubt, verbindliche Verallgemeinerungen und Normen aufzustellen. Es wird also um seinen Wahrheitsbegriff und seine Kritik am Nominalismus gehen, der sich in seiner Auffassung vom Stand der Technik und des Materials niederschlägt und zu Aussagen wie diesen hier führt:

Begehrt das differenzierte und dynamisierte Ausdrucksbedürfnis der einzelnen Komponisten nicht länger die Fuge, die übrigens weit differenzierter war, als es dem Freiheitsbewußtsein dünkt, so ist sie gleichzeitig objektiv, als Form unmöglich geworden. Wer dennoch die bald sich archaisierende Form benutzt, muß sie ›auskonstruieren‹, ihre nackte Idee anstelle ihrer Konkretion hervortreten lassen; Analoges gilt für andere Formen.
Theodor W. Adorno aus: „Ästhetische Theorie“

Einer Theorie lässt sich stets dort auf den Pelz rücken, wo die Sätze mit „sollen“ und „müssen“ gebildet werden. In diesem Beispiel „muss“, wer die Figur der Fuge verwendet, etwas tun, was Adorno „ihre nackte Konkretion hervortreten lassen“ nennt, und worunter wohl zu verstehen ist, dass das Schema sich selbst reflektierend, als Setzung, durchbilden, also die Fuge fugenhaft dekonstruiert werden soll (vielleicht durch ineinander, durcheinander laufende zusätzliche Fugen und eine diese kontrastierende, fortlaufende Stimme). Wie jedoch legitimiert Adorno seinen Imperativ?

Es kann wahres oder falsches Glück in einem objektiven Sinne geben, und der erschöpft sich nicht darin, wie das einzelne Subjekt seine Erlebnisse glückvoll und leidvoll registriert. Darin liegt die Anmaßung der Theorie, darüber zu urteilen, was Glück und kein Glück ist.
Theodor W. Adorno aus: „Vorlesungen zur Ästhetik 1967-68“ (14.11.1967)

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Theodor W. Adorno: „Ästhetische Theorie“ (ii: Kritik)

Ästhetische Theorie von Theodor W. Adorno.

Im ersten Teil meiner Lektüre von Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie beschäftigte ich mit seinem Kunstbegriff und seiner Fassung des Schönen, das er gegen Immanuel Kants Begriff aus §9 der Kritik der Urteilskraft »Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt«, aber auch gegen Georg Friedrich Hegels Definition des »Schönen als des sinnlichen Scheinens der Idee« entwickelt. In Adornos Konzept des Schönen erweist sich dies als das der Gewalt der Form durch Form entkommende Einzelne:

Das Schöne in der Kunst ist der Schein des real Friedlichen. Dem neigt noch die unterdrückende Gewalt der Form sich zu in der Vereinigung des Feindlichen und Auseinanderstrebenden.
Theodor W. Adorno aus: „Ästhetische Theorie“  

Im zweiten Teil möchte ich nun Adornos Begriff des Kunstverstehens herausarbeiten, dem ein Großteil der Ästhetischen Theorie gewidmet ist, die so als Propädeutik, wie Kunst überhaupt zu begegnen sei, verstanden werden kann. Weniger urteilt Adorno, als dass er eine Verhaltensweise Kunstwerken gegenüber einübt, die er das mimetische Verstehen nennt:

Kunstwerke sind die vom Identitätszwang befreite Sichselbstgleichheit. Der peripatetische Satz, einzig Gleiches könne Gleiches erkennen, den fortschreitende Rationalität bis zu einem Grenzwert liquidiert hat, scheidet die Erkenntnis, die Kunst ist, von der begrifflichen: das wesentlich Mimetische erwartet mimetisches Verhalten. Machen Kunstwerke nichts nach als sich, dann versteht sie kein anderer, als der sie nachmacht.

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Theodor W. Adorno: „Ästhetische Theorie“ (i: Kunst)

Ästhetische Theorie von Theodor W. Adorno. Sein Kunstbegriff.

Gleich welche Binnendifferenzierungen durchgeführt werden, sie geben Anlass zum Ärgernis. In der Literaturwissenschaft findet sich ein Beispiel in der Unterscheidung zwischen U- und E-, also unterhaltender und ernsthafter, oder Trivial- und Hochliteratur. Einer der wenigen, die noch ernsthaft diese Scheidung bis in die Tiefe seiner Begrifflichkeit hinein genommen und vertreten hat, ist, anders als Umberto Eco in Apokalyptiker und Integrierte (1964), Theodor W. Adorno und sein Begriff von der Kulturindustrie gewesen. Ungemindert besteht er auf einen emphatischen Kunstbegriff, den er seinem nur fast vollendeten Text Ästhetische Theorie (1970) zugrunde gelegt hat: 

Kunst achtet die Massen, indem sie ihnen gegenübertritt als dem, was sie sein könnten, anstatt ihnen in ihrer entwürdigten Gestalt sich anzupassen. Gesellschaftlich ist das Vulgäre in der Kunst die subjektive Identifikation mit der objektiv reproduzierten Erniedrigung. Anstelle des den Massen Vorenthaltenen wird von ihnen reaktiv, aus Rancune genossen, was von Versagung bewirkt ist und die Stelle des Versagten usurpiert. Daß niedrige Kunst, Unterhaltung selbstverständlich und gesellschaftlich legitim sei, ist Ideologie; jene Selbstverständlichkeit ist allein Ausdruck der Allgegenwart von Repression. Modell des ästhetisch Vulgären ist das Kind, das auf der Reklame das Auge halb zukneift, wenn es das Stück Schokolade sich schmecken läßt, als wäre das Sünde.
Theodor W. Adorno aus: „Ästhetische Theorie“

Dass heute die Unterscheidung zumeist nur noch ein müdes Lächeln hervorruft, zumal im Zeitalter des Midcults, also dem Versuch, Intersektionalität in der Literaturkritik zu verankern, siehe bspw. Moritz Baßler in Populärer Realismus, verdeckt aber vielleicht nur den Umstand, dass ein gewisses Maß an Formdurchdringung gar nicht mehr angestrebt, geschweige denn erwartet wird, also eine ganze Kulturpraxis (ob nun höher, niedriger eingestuft oder nicht, das spielt hierbei gar keine Rolle) zu verschwinden droht und hierauf, nicht auf die Beurteilung und Bewertung, Adornos emphatischer Kunstbegriff reagiert, der noch eine Kunst anvisiert, die das Versprechen auf ungemindertes Glück in sich trägt.

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Abdulrazak Gurnah: „Das versteinerte Herz“

Das versteinerte Herz von Abdulrazak Gurnah. SWR Bestenliste 07/2024.

Der neunte von den bislang zehn veröffentlichten Romanen des Nobelpreisträgers für Literatur aus dem Jahre 2021 erschien im Original 2017 und trägt den Titel Das versteinerte Herz, das sowohl auf Shakespeares Drama Maß für Maß und auf Wilhelm Hauffs Das kalte Herz anspielt, weniger auf Arno Schmidts Das steinerne Herz, mit welchem es beinahe den Titel teilt und auch das Thema, nämlich Ehe und Affären, nur ohne Nachwuchs bei Schmidt, ohne Hedonismus bei Gurnah. Das versteinerte Herz Abdulrazak Gurnahs steht ganz im Zeichen von Entfremdung, Entwurzelung, ja persönliche Dissoziierung in Folge fraglich gewordener kultureller Zusammenhänge, hier im postkolonialen Sansibar Tansanias:

Das Foto im Büro des Direktors war auf den Dezember 1963 datiert und damit am Ende des Schuljahres entstanden, kurz vor der Revolution. Kurze Zeit später würde Maalim Yahya seinen Job verlieren und nach Dubai gehen. Seine Frau und die beiden Töchter folgten ihm, mein Vater blieb allein zurück. Sie kamen nie wieder, nicht einmal für einen kurzen Besuch, und so konnte ich mir abgesehen von dem Gruppenfoto kein Bild von der Familie meines Vaters machen. […] Meine Welt bestand aus mir, meiner Mutter und meinem Vater. Die Gesprächsfetzen, die ich als Kind aufschnappte, waren unterhaltsam, aber die darin erwähnten Menschen blieben mir fremd.
Abdulrazak Gurnah aus: „Das versteinerte Herz“

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Anna Katharina Fröhlich: „Die Yacht“

Die Yacht von Anna Katharina Fröhlich. Eine neue Italienische Reise.

Italien als Sehnsuchtsort spielt in der Literatur seit Johann Wolfgang Goethes Italienische Reise eine stets wieder aufflammende Rolle. Als neuere Beispiele seien Birgit Birnbachers Wovon wir leben, Bodo Kirchhoffs Seit dem er sein Leben mit einem Tier teilt oder Martin Mosebachs Krass genannt, als älteres steht Thomas Manns Der Tod in Venedig und Joseph von Eichendorffs Das Leben eines Taugenichts als Paradigma schlechthin für den Italienmythos Pate. Anna Katharina Fröhlich verarbeitet in Die Yacht das klassische Thema mit einer eindrucksvollen Leichtigkeit. Vor allem die Freude an der Natur, der Landschaft, der Umgebung spielt eine herausragende Rolle:

An den folgenden Morgen stand Martha vor Sonnenaufgang auf, um an die unterhalb des Hauses gelegene Bucht zu gehen und weit hinaus ins Meer zu schwimmen.
Aus dem Wasser hörte sie das Krähen eines fernen Hahns und die Schreie eines Esels. Zu dieser Stunde, wenn der Himmel die Farben einer Kirschblüte durchlief, lag über der Bucht das kalte Licht des frühen Morgens. Die Pinienstämme schienen schwarz, doch wenn die Sonne aufstieg, leuchteten die Bäume grün, funkelten mit einem Schlag die Wellenkämme und durchstrahlte der Schein das Wasser bis auf den sandigen Grund.

Anna Katharina Fröhlich aus: „Die Yacht“

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Martin Mosebach: „Krass“

Krass von Martin Mosebach. Ein Anti-Bildungsroman.

Martin Mosebach gehört in den Umkreis der als kulturell rückwärtsgewandt eingestuften Schriftsteller wie Botho Strauß, Uwe Tellkamp oder Martin Walser. Schreibt Tellkamp klar in der Tradition eines Ernst Jünger, so findet Mosebach in Heimito von Doderer sein literarisches Vorbild und teilt die zutiefst innige sprachliche Rückverbindlichkeit mit Martin Walser, der sich in späten Jahren in Nachfolge eines Emanuel Swedenborg gesehen hat. Klagen Strauß und Tellkamp aber eher mit der Vergangenheit im Rücken die Zukunft und Gegenwart an, so verhält es sich mit Mosebach umgekehrt. Mit der Gegenwart und Zukunft im Rücken zerstört sich ihm selbst die Vergangenheit, und es bleibt fraglich, was zurückbleibt außer Eitelkeit:

Aber man schenkte [Levcius] keine Aufmerksamkeit mehr, denn soeben näherte sich über die breite Treppe, die vom ersten Stock in die Halle führte, der Gastgeber. Sein majestätischer Körper war von einem dunklen Anzug aus leichtestem Stoff umspannt, der bei jedem Schritt Wellen schlug, als wäre er eine flüssige Substanz. Unbeweglich war dagegen sein Gesicht, aber diese Maske war jetzt zum Teil einer Komposition geworden, da Lidewine neben ihm schritt, ihn fast überragend, weil ihr reichliches, den Kopf umstehendes Haar sie größer erscheinen ließ.

Martin Mosebach aus: „Krass“
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