Walter Benjamin – Zur Kritik der Gewalt

Eine Solidaritätsbekundung mit den Opfern von Gewalt.

„Zur Kritik der Gewalt“ ist ein eigenartiger Text. Genau gelesen dreht sich alles um die Legitimität von auf Gewalt antwortende Gegengewalt, ohne dass der Begriff ‚Gewalt‘ präzisiert wird. Das wird allein schon darin deutlich, dass der Aufsatz nicht „eine Kritik“ oder „die Kritik“, vielmehr „zur Kritik der Gewalt“ überschrieben ist. Es handelt sich also bei Walter Benjamins Aufsatz um einen Kommentar, quasi eine Rezension über herkömmliche, freischwebende Ansichten von Gewalt und solche, die fixiert wurden, wie von Georges Sorel „Réflexions sur la violence“, Hermann Cohen „Ethik des reinen Willens“ oder Ernst Blochs „Geist der Utopie“. Die Textexegese jener Autoren wird jedoch lediglich angedeutet. Sie dienen mehr als Anlass, eine Problematik zu reflektieren. Die Unklarheit des „Gewalt“-Begriffes mindert Benjamin, indem er mitten im Text plötzlich eine Sphäre benennt, die der Gewalt vollständig unzugänglich ist:

„Darin [dass die Lüge ursprünglich nicht bestraft wird] spricht sich aus, daß es eine in dem Grade gewaltlose Sphäre menschlicher Übereinkunft gibt, daß sie der Gewalt vollständig unzugänglich ist: die eigentliche Sphäre der »Verständigung«, die Sprache.“

Walter Benjamin aus: „Zur Kritik der Gewalt“, Gesammelte Schriften, Band II-1, 179-203, STW 932.

Jede Form also von verbaler Kommunikation schließt Benjamin als Gewalt aus. Hiermit ist diese auf die physische Beeinträchtigung fokussiert, d.h., auf den Versuch, die körperliche Integrität eines Individuums zu verletzen. Bevor Benjamin seinen Begriff der göttlichen Gewalt, also seinen eigentlichen Beitrag zur Debatte um Gewalt vorstellt, fasst er zusammen, dass im Grunde alle bisherige Rechtsordnung auf Gewalt beruht.

„Auch scheint es, daß Sorel an eine nicht nur kulturhistorische, sondern metaphysische Wahrheit rührt, wenn er vermutet, daß in den Anfängen alles Recht >Vor<recht der Könige oder der Großen, kurz der Mächtigen gewesen sei. Das wird es nämlich mutatis mutandis bleiben, solange es besteht. Denn unter dem Gesichtspunkt der Gewalt, welche das Recht allein garantieren kann, gibt es keine Gleichheit, sondern bestenfalls gleich große Gewalten.“

Benjamin erörtert das Kriegsrecht, auf welchem die Diplomatie beruht, das Streikrecht, das als Naturrecht angenommen wird, die Wehrpflicht, die Todesstrafe, wie auch das strafende Erziehen, also die damals rechtlich erlaubte Gewalt gegen die eigenen Kinder. Er behandelt das Schwinden des Gewaltmonopols des Staates, sobald die Polizei für dieses Sorge tragen muss und hierdurch droht eine eigene Gegenmacht, ein Staat im Staate zu werden. Er resümiert Arbeitsteilung als Gewalt und kommt zu dem Schluss, dass überhaupt allgemein gilt:

„Nicht allein das: wie der Ausgang, so verweist auch der Ursprung jeden Vertrages auf Gewalt.“

Jeder Vertrag basiert nämlich darauf, dass es eine Exekutive gibt, die das Verhandelte in letzter Instanz einzufordern vermag, wenn nötig, eben mit Gewalt. Nachdem er Parlamente, Generalstreiks, und schicksalshafte Rechtsordnungen thematisiert hat, stellt er die Frage:

„Ist überhaupt gewaltlose Beilegung von Konflikten möglich?“

Seine Antwort fällt wenig verwunderlich positiv aus. Erstaunlich jedoch ist der darauffolgende Ebenenwechsel. Wurde vorher allgemein „Gewalt“ als Mittel beleuchtet, wie sich Rechtsordnungen setzen und erhalten, also inwieweit „Gewalt“ in sozialen Systemen eine Funktion besitzt, in der Geschichte von sozialen Systemen erschienen ist, so rutscht nun die Perspektive aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang hinaus in die des Privaten, Einzelnen, ja Intimen.

„Ist überhaupt gewaltlose Beilegung von Konflikten möglich? Ohne Zweifel. Die Verhältnisse zwischen Privatpersonen sind voll von Beispielen dafür. Gewaltlose Einigung findet sich überall, wo die Kultur des Herzens den Menschen reine Mittel der Übereinkunft an die Hand gegeben hat.“

Die Problematik entfaltet sich entlang der Bruchlinie Individuum-Gesellschaft, ohne dass diese Bruchlinie thematisiert, noch erklärt wird. Anlass wird das Auge-um-Auge, Zahn-um-Zahn, das Benjamin im schicksalshaften Bann der Gesellschaft sieht, in der Gewalt nur durch Gewalt abgelöst wird, Gewalt die Gewaltanwendung nicht unterbricht, sie nicht vernichten kann. Die Erforschung des Gewaltzusammenhangs hat insofern das Ziel, diesem geschichtlichen Bann zu entkommen. Hierfür nun, wie im Falle von Gerechtigkeit, wo Benjamin aus dem Sozialen ins Interpersonale dringt, differenziert er nun Gewalt in eine mythische und eine göttliche Manifestation.

„Damit [wenn Gewalt und Gerechtigkeit im unversöhnlichen Widerstreit liegen] würde ein Licht auf die seltsame und zunächst entmutigende Erfahrung von der letztlichen Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme fallen (welche vielleicht in ihrer Aussichtslosigkeit nur mit der Unmöglichkeit bündiger Entscheidung über »richtig« und »falsch« in werdenden Sprachen zu vergleichen ist). Entscheidet doch über Berechtigung von Mitteln und Gerechtigkeit von Zwecken niemals die Vernunft, sondern schicksalhafte Gewalt über jene, über diese aber Gott.“

Die mythische Gewalt dient dem Bann, hält die Vorstellung eines Naturrechts am Leben und dient Zwecken, die willkürlich gesetzt werden, um Rechtssysteme mit Gewalt zu erhalten, die ansonsten unter den Ansprüchen der eigenen Legitimität zerbrechen müssten. Irdische Rechtsordnung besitzt in diesem Sinne immer den Makel einer ersten Gewalt. Sie territorialisiert ein Rechtssystem. Sie setzt Grenzen (physische wie psychische), zwischen denen Diplomatie notwendig wird, und deren Einhaltung letztlich auf einem Kriegsrecht basiert.

„Weit entfernt, eine reinere Sphäre zu eröffnen, zeigt die mythische Manifestation der unmittelbaren Gewalt sich im tiefsten mit aller Rechtsgewalt identisch und macht die Ahnung von deren Problematik zur Gewißheit von der Verderblichkeit ihrer geschichtlichen Funktion, deren Vernichtung damit zur Aufgabe wird. Gerade diese Aufgabe legt in letzter Instanz noch einmal die Frage nach einer reinen unmittelbaren Gewalt vor, welche der mythischen Einhalt zu gebieten vermöchte.“

Wie der Mensch in der Gesellschaft lebt, so existiert diese unter der Schirmherrschaft des Göttlichen, und der Mythos schiebt sich dazwischen, um seinen rechtssetzende, voluntaristische Gewalt anzuwenden, also eigenmächtig zwischen dem Göttlichen und Menschlichem in seinem Sinne zu vermitteln. Die Einführung eines transzendentalen Begriffs geschieht nicht von Ungefähr. Benjamin erkennt den Gewaltzusammenhang als nicht notwendig, aber existent. Die Grundlage seiner Ansicht der fehlenden Notwendigkeit leitet er aus einem göttlichen Begriff einer unbenennbaren Sittlichkeit ab.

„Die mythische Gewalt ist Blutgewalt über das bloße Leben um ihrer selbst, die göttliche reine Gewalt über alles Leben um des Lebendigen willen. Die erste fordert Opfer, die zweite nimmt sie an.“

Die Unschärfe der Begriffe ist intendiert. Benjamin grenzt die Gewalt, die Menschen um ihrer selbst willen opfert, von derjenigen ab, die Opfer annimmt, um Unrecht ungeschehen werden zu lassen, ungeschrieben.

„Ist die mythische Gewalt rechtsetzend, so die göttliche rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen, so vernichtet diese grenzenlos, ist die mythische verschuldend und sühnend zugleich, so die göttliche entsühnend, ist jene drohend, so diese schlagend, jene blutig, so diese auf unblutige Weise letal.“

Mit anderen Worten, mythische Gewalt kommuniziert über Gewalt, vergleicht Macht, setzt Recht und löst Recht ab, perpetuiert einen historischen Ablauf zwischen Opfern und Tätern und sucht die Balance, indem Täter zu Opfern, Opfer zu Tätern und umgekehrt werden. Mythische Gewalt ist das sozialdarwinistische Ringen um das Recht des Stärkeren. Göttliche Gewalt hingegen, im Sinne Benjamins, verschlingt den ganzen Prozess selbst. Sie entgrenzt, entsühnt, indem die Ordnungsparameter verändert werden, der Maßstab verschoben wird, ja, die Ansichten, Erkenntnisse keine Begriffe mehr besitzen, nach der göttlichen Gewalt, noch von Recht und Unrecht zu sprechen. Das Rechtssystem selbst löst sich auf, oder: die göttliche Gewalt bricht in einem Sinne über die Menschen ein, dass diese alle gleich und demütig ausgeliefert erscheinen und keine Binnendifferenzierung mehr anstreben. Nicht der Täter, das Werk des Täters wird vernichtet, wie Leto Niobes Kinder tötet, Niobe selbst aber verschont.

Im Bannkreis der mythischen Gewalt gilt es auf die göttliche Intervention zu hoffen, auf den Messias, wie der spätere Benjamin schreiben wird. Göttliche Gewalt gibt es nur als Reaktion, als Antwort, als spontanes Erzürnen und Wegwischen von Unsittlichkeit und Dreistigkeit. Sie lässt sich nur im Moment einer Gefahr erkennen und dies auch nur augenblickshaft, da sie alles verändert. Was sich beobachten lässt, ist immer die mythische Gewalt.

„Denn nur die mythische, nicht die göttliche, wird sich als solche mit Gewißheit erkennen lassen, es sei denn in unvergleichlichen Wirkungen, weil die entsühnende Kraft der Gewalt für Menschen nicht zutage liegt.“

Walter Benjamins Aufsatz erschreibt einen Bereich außerhalb des Bannkreises, wo den Opfern von Tätern Gerechtigkeit widerfahren könnte. Er hält die Hoffnung aufrecht, ohne das Blut an die Hände zu beschwören wie Ernst Bloch bspw. in „Geist der Utopie“:

„Das Herrschen und die Macht an sich sind böse, aber es ist nötig, ihr ebenfalls machtgemäß entgegenzutreten, als kategorischer Imperativ mit dem Revolver in der Hand, wo und solange sie nicht anders vernichtet werden kann, wo und solange sich Teuflisches gegen das (unentdeckte) Amulett der Reinheit noch derart heftig sperrt; und sich danach erst des Herrschens, der „Macht“ auch des Guten, der Lüge der Vergeltung und ihres Rechts so reinlich als möglich zu entledigen.“

Ernst Bloch aus: „Geist der Utopie – Zweite Fassung“, 302, STW 552.

Benjamin steht hier Adorno viel näher, der in der negativen Dialektik eine mögliche Form beschreibt, in der göttliche Gewalt in die Geschichte tritt und das Recht der Entsühnung geltend macht. In Bezug auf die Schauprozesse und Gerichtsverhandlungen, die im Nachkriegsdeutschland stattfanden und deren Urteile in der Presse diskutiert wurden, sagt dieser:

„Benjamins Satz, der Vollzug der Todesstrafe könne moralisch sein, niemals ihre Legitimierung, prophezeit diese Dialektik. Hätte man die Chargierten der Folter samt ihren Auftraggebern und deren hochmögenden Gönnern sogleich erschossen, so wäre es moralischer gewesen, als einigen von ihnen den Prozeß zu machen. Daß ihnen zu fliehen, zwanzig Jahre sich zu verstecken gelang, verändert qualitativ die damals versäumte Gerechtigkeit. Sobald gegen sie eine Justizmaschine mit Strafprozeßordnung, Talar und verständnisvollen Verteidigern mobilisiert werden muß, ist die Gerechtigkeit, ohnehin keiner Sanktion fähig, die der begangenen Untat gerecht würde, schon falsch, kompromittiert vom gleichen Prinzip, nach dem die Mörder einmal handelten.“

Theodor W. Adorno aus: „Negative Dialektik“, S. 282, STW 113.

In diesem Sinne ist die spontane, unmittelbare Antwort auf ein begangenes Unrecht kein Recht, aber eine Intervention des möglicherweise Sittlichen. Benjamin spart für Taten dieser Art einen Platz im Begriffsgewebe der Gewaltmoralität ein. Ihm wie Adorno ging es am Ende um eine Welt ohne Gewalt.

„Die Produktion und Reproduktion des Lebens samt all dem, was der Name Überbau deckt, sind nicht transparent auf jene Vernunft, deren versöhnte Realisierung erst eins wäre mit einer menschenwürdigen Ordnung, der ohne Gewalt.“

Theodor W. Adorno aus: „Negative Dialektik“, S. 95.

Benjamin vertraut auf diese jenseitige Form einer befreienden Revolte, ohne anders eine Legitimität als die der Hoffnungslosigkeit feilzubieten. Es bleibt also ein Rätsel, inwiefern die begriffliche Unschärfe und das Prinzip Hoffnung hier Hand in Hand eine Utopie entwerfen, die der Realität glattweg widerspricht. Vielleicht schlägt sich in diesem frühen Text nach dem 1. Weltkrieg wieder, dass sich so etwas nun nicht mehr wiederholen kann. Der Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ endet folglich mit einer Art Stoßgebet.

„Von neuem stehen der reinen göttlichen Gewalt alle ewigen Formen frei, die der Mythos mit dem Recht bastardierte. Sie vermag im wahren Kriege genau so zu erscheinen wie im Gottesgericht der Menge am Verbrecher. Verwerflich aber ist alle mythische Gewalt, die rechtsetzende, welche die schaltende genannt werden darf. Verwerflich auch die rechtserhaltende, die verwaltete Gewalt, die ihr dient. Die göttliche Gewalt, welche Insignium und Siegel, niemals Mittel heiliger Vollstreckung ist, mag die waltende heißen.“

Dass die waltende Gewalt nicht zu mehr Gerechtigkeit führen muss, hat die Weltgeschichte allenthalben zuhauf demonstriert. Benjamins Text lässt sich nicht als inhaltliche Auseinandersetzung mit einem Rechtssystem, und sei’s das europäische, verstehen. „Zur Kritik der Gewalt“ ist eine Positionsbestimmung, die Erklärung einer Hoffnung, einer Sicht, vielleicht metaphysisch, aber sicherlich nicht erkenntniskritisch. Er ist die Bekundung einer ungebrochenen Solidarität mit denjenigen, die selbst im Akt der Gegengewalt kein Recht setzen wollen und nur wünschen, es wäre nicht so weit gekommen, die selbst dort noch Schuldgefühle besitzen, wo der Schmerz und das Leid das Recht des Stärkeren vom Throne stößt.