Ferdinand von Schirach: „Nachmittage“

Ferdinand von Schirach "Nachmittage"
Zwischen Hotelzimmern und Selbstflucht … Spiegel Belletristik-Bestseller (36/2022)

Der schmale Band Nachmittage zusammengestellt von Ferdinand von Schirach präsentiert sich im schlichten Cover: Ein Schwarzweiß-Bild, überbelichtet, auf dem ein einsames Ruderboot ohne Ruder und Ruderer im Nebel schwimmt, nur andeutungsweise in der Nähe eines Ufers, Gekräusel, das auf Schilf schließen lässt. Das Inhaltsverzeichnis bleibt ebenso schlicht. Die Kapitel heißen: „Eins“, „Zwei“ … bis „Sechsundzwanzig“, ausgeschriebene Zahlen. Die Zahl Sechsundzwanzig zieht ebenso keine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Weder handelt es sich um eine Primzahl, noch um eine hochsymmetrische Zahl wie Vierundzwanzig oder eine Quadratzahl wie Fünfundzwanzig oder eine Kubikzahl wie Siebenundzwanzig. Sechsundzwanzig zählt lediglich die Buchstaben des lateinischen Alphabets, so dass Schirach die Kapitel seines Buches auch als ABC verstanden haben könnte. Enzyklopädisch, lexikalisch, scheinbar ohne spezifische Anordnung fasst er den Stand der Welt in abgeschlossenen, anders als bei Mariana Leky in Kummer aller Art nicht miteinander in Verbindung stehenden Kurztexten oder Berichten zusammen:

Natürlich, unser Leben ist absurd, weil der Tod es beendet. Wir müssen scheitern, es geht nicht anders. Aber es gibt noch die andere Wahrheit, die Wahrheit der Frau auf dem Wagen: Jetzt, dieser Moment, dieser Nachmittag, der nächste Morgen, der Blütenschimmer im Frühling, der Wind, der durch die Felder geht, die lautlose Schwüle im Hochsommer und das nasse Laub auf den Straßen im Herbst – das alles bedeutet nichts ohne den anderen Menschen. Wir stehen nackt in dieser Welt, die Erde ist ein kaum sichtbarer blassblauer Punkt im All, die Natur ist kalt und feindlich. Aber wir sind Menschen, wir teilen diese Einsamkeit, sie ist es, die uns verbindet. »Wir wissen voneinander«, hat sie gesagt.

Ferdinand von Schirach aus: „Nachmittage“

Die Frau auf dem Wagen steht hier doppeldeutig für eine Skulptur von Alberto Giacometti. Der Künstler selbst hat sie als Repräsentation der Erinnerung an eine ehemalige Geliebte angefertigt und dies explizit in einem Brief bestätigt. Schirach eignet sich die Symbolik an und lässt sie, ohne sie aber selbst angefertigt zu haben, für eine Begegnung in New York stehen, eine kurze, auch mit einer Frau, der er beim Verlassen des Plaza Hotels sein Jackett um die Schultern gelegt hat. Um diesen Moment kreisen die Erinnerungen Schirachs, Begegnungen mit Menschen, und diese eine bedeutungsträchtige Begegnung mit jener Frau, der Seniorpartnerin einer Kanzlei, die ihn, den Autor, nach New York zu einer Lesung eingeladen hat:

Sie kam an meinen Tisch, und dann sprachen wir den ganzen Nachmittag, als wären wir alleine. Als sie gehen wollte, brachte ich sie zum Ausgang und legte mein Jackett über ihre Schultern, weil sie fror. Draußen war es bereits dunkel geworden, die Lichter der Schaufenster, der Restaurants, der Autos und Straßenlampen. Sie drehte sich um. »Sie machen alles richtig, glaube ich«, sagte sie. Das ist der einzige Satz, an den ich mich noch erinnere.

Nachmittage handelt von Episoden und Erinnerungen, die er in seiner im Jahr 2019 veröffentlichten Kurztextsammlung Kaffee und Zigaretten noch nicht berücksichtigt hat. Im bewusst geminderten, dezidiert unzeitgemäßen Erzähltempo, das ruhig und besinnlich dahin plätschert, berichtet er von verschiedenen Lebensschicksalen. Lakonisch, sanft, leicht desinteressiert und distanziert zeigt er sich seinen Gesprächspartnern gegenüber. Der Erzähler Schirachs hat zu viel erlebt, zu viel gehört als Jurist und Strafverteidiger, als Lebemann und Romancier, um noch geschockt zu sein. So richtig scheint er, möglicherweise aus einer déformation professionnelle heraus, keinem seiner Gesprächspartner mehr über den Weg zu trauen. Zu melancholisch, kurz angebunden, so skizzenhaft werden die krassesten Lebenswege und Schicksalsschläge nachvollzogen und in groben Strichen nachgezeichnet wie beispielsweise die seines eigenen Vaters:

Ich kannte meinen Vater nur strahlend, elegant und unbesiegbar, aber in Wirklichkeit war er ganz ohne Halt. Die Scheidung von meiner Mutter brach ihm das Genick, er wurde zum Trinker, immer noch hochbegabt, aber jetzt verwahrlost und elend. Sein engster Freund hat mir später erzählt, er habe den Vater kurz vor dessen Ende gebeten, ihm Frackknöpfe zu leihen, er müsse auf einen Empfang und habe seine vergessen. Der Vater habe ihm am Telefon nur geantwortet: »Meine Zeit der Frackknöpfe ist vorbei.« Er starb am gleichen Tag, an dem meine Mutter ihren Geburtstag feierte, und ich konnte nicht mehr schreiben, weil ich nicht werden wollte, was er war.

Der Erzähler spielt hier mit der Dichotomie von Sein und Schein. Der Vater schien nur unbesiegbar, war aber in Wirklichkeit ohne Halt. Danach schien er nur noch ein Trinker, war aber in Wahrheit hochbegabt. Der Schein trügt in die eine wie die andere Richtung. Nur der gekonnte Blick hinter die Kulissen erlaubt dem Erzähler oder Beobachter Notwendiges von Kontingentem zu unterscheiden. Selbstbewusst trennt er das Wesentliche vom Unwesentlichen. Distinkt und ohne lange zu zögern, noch gar ein Für und Wieder abzuwägen, setzt er das Ockhamsche Rasiermesser an und säbelt ab, was nicht zum Sein, was nur zum Schein gehört. Nur das Sein zählt. Diese uralte philosophische Unterscheidung zwischen Essentiellem und Akzidentiellem, die in Schirachs Nachmittage zum Tragen kommt, fand ihren Höhepunkt bereits in Immanuel Kants Philosophie, der in Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll 1790 schreibt:  

Der größte Künstler im Verdunkeln dessen, was klar ist, kann aber gegen die Definition, welche die Kritik von synthetischen Sätzen giebt, nichts ausrichten: sie sind Sätze, deren Prädicat mehr in sich enthält, als im Begriffe des Subjects wirklich gedacht wird; mit anderen Worten, durch deren Prädicat etwas zu dem Gedanken des Subjects hinzugethan wird, was in demselben nicht enthalten war; analytische sind solche, deren Prädicat nur eben dasselbe enthält, was in dem Begriffe des Subjects dieser Urtheile gedacht war.

Immanuel Kant aus: „Gesammelte Werke“ (Band V)

In diesem Zitat verbirgt sich die Annahme, dass Prädikate, die im Begriff des Subjektes enthalten sind, notwendig genannt werden können, jene aber, die es nicht sind, höchstens durch den Satz vom zureichenden Grund dem Begriff des Subjekts synthetisch hinzugefügt werden können – wie zum Beispiel, dass die Summe der Winkel in einem euklidischen Dreieck 180° ergibt. Auf den Fall vom Vater des Erzählers angewandt: Der Vater blieb, ob als Trinker oder Schauspieler, hochbegabt, aber inkonsequent. Der Schein trügt nicht das Sein. Dem Vater kommt also notwendig, hier tautologisch, analytisch der Gestus des Überlegenen zu, selbst wenn die Empirie, die Praxis, etwas anderes nahezulegen scheint, wie zögerliches Tun oder verdrossenes Trinken. Aus dieser Haltung heraus berichtet nun Schirach über verschiedene Vorkommnisse. Hier eine Auswahl:

  • Kapitel 1: Über den Gott der Liebe in Taipeh
  • Kapitel 2: Über den tödlichen Autounfall von Isadora Duncan
  • Kapitel 3: Über den Betrug an einer Betrügerin
  • Kapitel 5: Über den Untergang eines Familienunternehmens
  • Kapitel 8: Über eine paranoide Ehefrau
  • Kapitel 9: Über die späte Rache einer Geliebten
  • Kapitel 16: Über die Rache einer Industriellen
  • Kapitel 18: Über die Gehässigkeit einer Ex-Frau
  • Kapitel 20: Über das Ende einer Boxerkarriere
  • Kapitel 23: Über das Karriereende einer Pianistin

Das Geschlechterverhältnis basiert auf Misstrauen, Ausbeutung, Lügen und Betrügen. Die Männer sind schwach oder stark. Die Frauen verlogen oder ehrlich. Entweder setzt sich der eine gegen den anderen oder der andere gegen den einen durch. In Schirachs Erzählungen dominiert jedoch ein Ungleichgewicht, da die meisten Ehen oder Beziehungen eben an den Partnerinnen, seltener an den Partnern, den in Schirachs Universum gutmütigen, sanften Männern scheitern. Ein Kampf bleibt es. Und so wichtig ist es eigentlich nicht, wer schuld ist, wer nicht, da die Beziehung ohnehin allesamt dem Untergang geweiht bleiben. Im eingangs angeführten Zitat erinnert Schirach sein Publikum daran, dass jeder Mensch einsam ist und doch nicht ohne den anderen existieren kann, und paraphrasiert so Arthur Schopenhauers in Parerga und Paralipomena veröffentlichte Parabel Die Stachelschweine:

Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nah zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.

Arthur Schopenhauer aus: „Parerga und Paralipomena“

Mit der Philosophie Schopenhauers hat Nachmittage von Schirach vieles gemein. Nur Schopenhauers Verbitterung teilt Schirach nicht. Er zieht die radikale Konsequenz aus Die Welt als Wille und Vorstellung und erlaubt sich gar kein Gefühl mehr, weder Mitgefühl, noch Sentimentalität, weder Eifersucht noch Melancholie. Coolness schimmert durch die Zeilen von Nachmittage. Abgeklärt. Erhabenheit. Der Erzähler schreibt, um über den Dingen zu stehen, um sich irgendwo, und sei’s nur in der Sprache, sicher zu fühlen, sich gegen die Schicksalsschläge und unerfüllt gebliebenen Wünsche, wie die Frau in New York wiederzutreffen, zu immunisieren.

Bachmann sagte in den Frankfurter Vorlesungen, die Aufgabe der Dichtung liege nicht im ästhetischen Selbstzweck, sondern in der Weltveränderung durch eine neue Sprache. Solche Sätze waren notwendig, aber ich halte sie für falsch: Kunst hat keine »Aufgabe«, sie darf es gar nicht, wenn sie frei sein soll. Kunst ist keine Macht, sie kann nur Trost sein. Ich glaube, dass Bachmann das wusste. Sie hat Reden von Hans Werner Henze im Wahlkampf für Willy Brandt redigiert, sie versuchte, das Richtige zu tun. Aber sie berührt uns, wenn sie von den Grundbedingungen der menschlichen Existenz erzählt, von der Einsamkeit, der Verzweiflung, dem Tod.

Schirachs Erzähler liest und beurteilt gerade und schnurstracks drauf los. Ihm geht es ums große Ganze. Fürs Kleinkarierte hat er keine Zeit mehr, und weder Thomas Mann noch Ingeborg Bachmann, weder Ernest Hemingway noch Jean-Paul Sartre haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Einerseits hält er deren Sätze für ungenügend, andererseits unterstellt er, sie seien aus bloßem Selbstbetrug und Selbstverstellung geäußert worden, oder er versteht sie absichtlich falsch und agiert wie ein Anwalt beim Kreuzverhör. Letzteres trifft auf seine Bemerkung in Bezug auf Bachmann zu, die nirgendwo in den Frankfurter Vorlesungen vorschlägt, die Poesie für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Das Wort „Weltveränderung“ kommt nicht vor, „Selbstzweck“ auch nicht. Über das Verhältnis Kunst und Politik schreibt Bachmann in besagten Vorlesungen:

Denn etwas wollen wir doch damit! Die Kunst ist schon so viele Male umgezogen, vom Gotteshaus in das Haus der Ideale, vom ‚house beautiful‘ auf das ‚bateau ivre‘, und dann in die Gossen, in die nackte Wirklichkeit, wie man sagte, und dann wieder in das Haus Traum und in die Tempel mit hängenden Gärten, und wieder fort in die pseudomystische Stickluft von Blut und Boden, und weiter in das Haus Humanität und in das Haus Politik. Als hätte sie nirgends Ruhe, als wäre kein Obdach ihr für immer zugedacht. Sie empfängt und anerkennt eine Weile die Kommandos und beginnt eines Tages, auf neue zu hören. Dies ist ihr eigentümliches Fortschreiten, ihr Weiterziehen.

Ingeborg Bachmann aus: „Frankfurter Vorlesungen

Das Eigentümliche der Kunst bleibt ihre neue Sprache, das Weiterziehen, das Aufbrechen, das Experimentieren, das hinter dem Rücken der Dichtenden und Lesenden vor sich geht, nie bewusst, nie intentional, nie geradeheraus. Schirach bricht auch mit der geläufigen Geschichtsversion, wenn er behauptet, es habe nur ein Exemplar von Lukrez De rerum natura überdauert, wiewohl mindestens drei Exemplare bekannt sind. Von diesen rhetorischen Kniffen abgesehen, bleibt in den Kapiteln aus Nachmittage alles im Vagen und Nebelösen. Nichts wird wirklich aufgeklärt. Nichts findet einen Abschluss, keine einzige Episode oder Geschichte. Es geht immer weiter, ohne Unterlass, und der Erzähler hält sich vornehm zurück und zückt seinen Bleistift, kritzelt ein paar Notizen, kurze, muntere Sätze, ein paar Zitate, ein paar Weisheiten, auf denen er sich kurz auszuruhen vermag. Nachmittage liest sich deshalb leicht und entspannt, ja gekonnt apokryph. Er führt ein Leben von Hotel zu Hotel, von Interview zu Interview. Die Zimmer ändern sich, nicht aber er, auch wenn er hier und da versucht in die Rollen und Leben von Phantasiegestalten zu schlüpfen:

Der Mann, der dieses Haus vor 480 Jahren gebaut hatte, stammte aus den »case vecchie«, den alteingesessenen Häusern Venedigs, wurde wohlhabend durch den Handel mit Afrika und ließ hier einen Sommersitz für seine Familie und sich errichten. Dann starb seine Frau, und er betrat nie wieder dieses Haus. Ich stelle mir vor, wie er auf den Steinstufen saß, auf denen ich jetzt sitze, wie er die gleiche Landschaft sah und den gleichen Fluss hörte.

Er nimmt auch Bill Murrays Hotelzimmer aus in Lost in Translation und imaginiert sich in seine Rolle. Er versetzt sich in die Lage Giacomettis, der seiner Angebeteten eine Figur erschafft. Er stellt sich Burt Lancaster vor, wie er die Rolle des Don Fabrizio aus Tomasi di Lampedusas Der Leopard ausfüllt. Er wohnt in Jurek Beckers Wohnung und reserviert sich Zimmer, in denen Winston Churchill malte und Charles de Gaulle sowie wie Gwyneth Paltrow verkehrten. Der Erzähler aus Nachmittage befindet sich auf der Suche, heimatlos und sehnsüchtig, aber ohne Hoffnung, noch ein Zuhause zu finden. Im Ungefähren verabschiedet er sich von seiner Zeit, mit der er nichts anzufangen weiß. Zu schnell, zu kurzatmig, zu wenig bedeutsam, virtuos, tief ist sie für seinen Geschmack geworden. Seine Welt gehört der Vergangenheit an. Er lokalisiert sich selbst in die Sphären eines Albert Camus und Marc Aurel:

In der Literatur waren es [die Elementaren] bei mir Thomas Mann, Tomasi di Lampedusa, Evelyn Waugh und ein paar Jahre später, mit gleicher Wucht, Albert Camus und Marc Aurel. In der Kunst waren es nur zwei: Alberto Giacometti und Caspar David Friedrich.

In diesem Sinne lässt sich Ferdinand von Schirachs Nachmittage auf das Paradox zurückführen, wie sich durchs Schreiben besser schweigen lässt. Im Grunde nämlich bleibt der Erzähler so fern wie möglich von allem entfernt. Die Welt läuft auf einem Filmband, steht zwischen Buchstaben, vermittelt und unnahbar bezeugt. Die geheimen Paten hinter dem Geschriebenen lauten einerseits Jean-Paul Sartre und Arthur Schopenhauer. Sartre steht für das Selbstbewusstsein, die Standfestigkeit dessen, der nichts mehr erhofft und schreibt in Zum Existentialismus Eine Klarstellung:

Diese Gewissheit, diese intuitive Erkenntnis seiner [des Menschen] Situation, das ist es, was wir Hoffnungslosigkeit nennen: es ist keine schöne romantische Verstörtheit, wie man sieht, sondern das nüchterne und klare Bewusstsein von der Lage des Menschen. So wie die Angst sich nicht vom Sinn für die Verantwortlichkeit unterscheidet, ist die Hoffnungslosigkeit eins mit dem Willen; mit der Hoffnungslosigkeit beginnt der wahre Optimismus: der Optimismus dessen, der nichts erwartet […]

Jean-Paul Sartre aus: „Philosophische Schriften“ (Band I)

Von Angst jedoch will der Erzähler von Nachmittage nichts wissen. Aus der Hoffnungslosigkeit zieht er kein Engagement für die Dinge und Geschehnisse des Planeten. Sartre berücksichtigte nicht die Möglichkeit der Apathie, die zwar einen universellen Optimismus zulässt, aber auch eine planetare Apathie gegenüber Mitmenschen und Lebenswegen entstehen lassen könnte. Inspiration hierfür finden sich bei Arthur Schopenhauer:

Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welchen etwan ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat: – dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt.

Arthur Schopenhauer aus: „Die Welt als Wille und Vorstellung


Ferdinand Schirachs Erzähler geht beide Wege, den selbstbewussten, distanzierten Gang. Er fühlt sich deshalb wieder in die Rolle eines anderen, in die des Astrophysikers Edwin Hubble, der sich vergeblich bemüht die Welt zu verstehen und sich die vermeintlichen Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögen nicht eingestehen kann:

Berührend, wie der Mensch mit seinen begrenzten Fähigkeiten über das All nachdenkt. Der Moment, in dem Hubble begreift, dass es nicht nur unsere Milchstraße, sondern 100 Milliarden weitere solcher Galaxien gibt. Wie ging es ihm in der Nacht, in der ihm das klar geworden ist? Er schreibt: »Die Erforschung des Weltraums endet mit Ungewissheiten. Wir messen Schatten.«

Schirachs Erzähler bringen selbst die unendlichen Weiten des Weltalls nicht aus der Ruhe. Sie sind ihm nichts als Schatten auf Schatten, die die begrenzten Fähigkeiten des Menschen nicht auszumessen vermögen. Hier jedoch, bei allen Zitaten und Aphorismen, bietet sich an, nochmals zurück zu Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu gehen, der in der Wissenschaft der Logik schrieb:

Daß die Grenze, die am Etwas überhaupt ist, Schranke sei, muß es zugleich in sich selbst über sie hinausgehen, sich an ihm selbst auf sie als auf ein Nichtseiendes beziehen. Das Dasein des Etwas liegt ruhig gleichgültig gleichsam neben seiner Grenze. Etwas geht aber über seine Grenze nur hinaus, insofern es deren Aufgehobensein, das gegen sie negative Ansichsein ist. Und indem sie in der Bestimmung selbst als Schranke ist, geht Etwas damit über sich selbst hinaus.

Georg Wilhelm Friedrich aus: „Wissenschaft der Logik

Mit anderen Worten, die Schranke, die gezogen wird, ist beim Ziehen bereits überschritten worden, oder in Bezug auf Schirachs Aussage, ein Mensch kann unmöglich, ganz unabhängig vom Gegenstand, über die Grenzen des Menschsein sprechen oder schreiben, ohne sich in Widersprüche zu verstricken, und so beginnt alles stets wieder von neuem. Ob eine Zweitlektüre von Nachmittage dabei hilft, wage ich aber zu bezweifeln. Das ruhige Fahrwasser des Erzählens bleibt teuer erkauft durch eine aufs äußerst angespannte, aufgezwungene Apathie.

13 Antworten auf „Ferdinand von Schirach: „Nachmittage““

    1. Das freut mich sehr. Es gibt dort viel zu entdecken. Vielleicht lohnt ja ein Blick in „Kaffee und Zigaretten“ – das soll sehr gut sein. Ich habe es noch nicht gelesen. Ich wünsche einen fröhlichen Sonntag und vielen Dank für den Kommentar!

    1. Ich muss ja zugegeben, dass ich noch nie etwas von ihm gelesen habe. Deshalb lasse ich mir ja partiell meine Lektüre von der Bestsellerliste vorschreiben, einfach um Zeug zu lesen, das ich normalerweise nicht anfassen würde. Dein Eindruck hier stimmt wohl, auch andere Kritiker haben das Buch eher als Auftragsarbeit des Verlages gelesen, die einen zweiten Teil von „Kaffee und Zigaretten“ wollten, und es verkauft sich ja scheinbar prächtig. Danke fürs Vorbeischauen und viele Grüße!!

  1. Ich glaube, es ging Schirach um schiere Stileinübung des Coolen und Gelassenen, das aber gelingt ihm. Jedoch, ja, der Sinn des Coolen und Gelassen besteht ja gerade darin, sich völlig aller Intensität und Bedeutsamkeit zu entledigen. Das Erhabene treibt seltsame Spiele zum Teil und unterminiert sich dann selbst, wie in dem von Dir zitierten Satz. Viele Grüße!

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