Kalenderwoche 48-49. Lesebericht.

Kalenderwoche 48-49. Lesebericht.

Eine Lektüre kann auch scheitern. Ich habe mir mit Clemens J. Setz‘ Die Stunde nach Frau und Gitarre wirklich Mühe gegeben. Jede Seite, jede Zeile mit offenen Augen und elastischem Gemüt zur Kenntnis genommen. Mich über die Hunderte von Seiten mitziehen lassen, aber ohne Erfolg. Das Buch brachte keine einzige Saite in mir zum Schwingen, und so zog sich die Lektüre hin und prägte die Kalenderwochen 48-49, bis ich dann die letzten 400 Seiten in einem Rutsch hinter mich brachte.. Als Erholung las ich dann den neuesten Aufsatz von Jürgen Habermas Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und von Johann Gottlieb Fichte die Vorlesung über Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Als dies auch nichts brachte, nahm ich Anne Michaels‘ Wintergewölbe zur Hand und fand Trost:

Jede Nacht fiel die Temperatur bis auf den Gefrierpunkt, und die Arbeiter begannen ihren Tag am Feuer. Schon früh am Morgen kostete selbst die kleinste Anstrengung Überwindung. Man sah nie jemanden schwitzen, weil jede Feuchtigkeit sofort verdunstete. Die Männer steckten den Kopf in jeden schattigen Fleck, der zu finden war, quetschten sich in den Schatten von Holzkisten und Lastwagen. Sehnsüchtig blickten sie über den Nil in das Dunkel von Dom- und Dattelpalmen, Akazien, Tamarisken und Maulbeerfeigenbäumen. Sie hielten das Gesicht in den Nordwind.

Anne Michaels aus: „Wintergewölbe“

Im einfachen Erzählen, im schlüssigen Aufbau einer Szenerie, in den sanften Abfolgen von Geschichten, Einsichten und Träumen finde ich stets zurück zur Literatur.

Angefangen:

Dörte Hansen: Zur See – meine Wahl des dieswöchigen Spiegelbestsellers. Auch hier finde ich den fröhlichen Hang zu plaudern und zu schwadronieren, mit Verve, Fröhlichkeit und viel Naturverbundenheit:

Irgendwo in diesem Haus, verborgen unter Deckenbalken, hinter Mauerankern oder alten Fliesen, in den Ritzen eines Knochenzauns vielleicht, müssten auch noch die Geschichten sein, die nicht geschrieben wurden: die Erinnerungen der Ertrunkenen, von einem Mast Erschlagenen, Verschollenen, Erfrorenen und an Skorbut Gestorbenen.

Dörte Hansen aus: „Zur See“

Ich lese Hansen gerne, lege die Beine hoch, lasse mich von der aufsteigenden Wärme unterhalb meines Schreibtischs umfangen und folge dem pointierten Leben von Inselbewohnern.

David Foster Wallace: Unendlicher Spaß – es ist nicht das erste Mal, dass ich mir diesen Brocken von Roman vornehme. Nach Setz erschien mir das logische Wahl, zumal die Schreibweise sehr ähnlich ist, insbesondere die adjektivisch-verwendeten Determinativkomposita. Ob ich über die Feiertage den langen Atem haben werde, das Buch durchzustehen, wird sich zeigen:

Die Essays sind alt, zugegeben, aber von mir; de moi. Aber sie sind eben alt und behandeln streng genommen nicht das dem Bewerber vorgegebene Thema der »wichtigsten Bildungserfahrungen seines Lebens«. Hätte ich Ihnen einen aus dem letzten Jahr eingereicht, hätten Sie den Eindruck bekommen, ein Kleinkind hätte willkürlich eine Tastatur malträtiert, auch Sie, der Sie jedweder nicht deklinieren können.

David Foster Wallace aus: „Unendlicher Spaß“

Der Ton ist harsch. Die Schnitte schnell. Die Themenwechsel unübersichtlich. Viele meinen, es sei der Wegbereiter des post-postmodernen Romans, der gegenwärtig die Kritikerlisten weltweit anführt. Ich wäre über einige Meinungen sehr dankbar, aber lesen lohnt es sich wahrscheinlich schon.

Anne Michaels: Wintergewölbe – Michaels hat zwei Romane geschrieben, bislang, den ersten, Fluchtstücke, habe ich zweimal gelesen, und auch im zweiten fühle ich mich wohl und beruhigt. Etwas sehr Altes weht durch ihren Stil. Ich vermag es nicht zu greifen, aber sehr wohl zu genießen:

Später fiel ihm ein, was der Forscher Johann Burckhardt zu ihm gesagt hatte – »wir haben schon so lange den vertrauten Umgang mit der Unendlichkeit verlernt«.

Anne Michaels aus: „Wintergewölbe“

Michaels jedenfalls nicht. Jede Seite lese ich langsam und ohne Hast. Eine Literatur der Ruhe und Stille, die von einer Tempelausgrabung in der Wüste handelt.

Beendet:

Clemens J. Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre – ich bin nicht zufrieden, wie ich den Roman gelesen habe. Ich wünschte, ich hätte einen Zugang zur Rhythmik, zur Sprache, zu den Motiven, zum Tempo, zur Beobachtungsweise gefunden. Habe ich aber nicht:

Das Wort, das diese Atmosphäre am besten beschrieb, war Arboretum. Nicht wegen der Bedeutung (irgendein Ort mit Bäumen), sondern wegen des Bildes, das das Wort in Natalies Kopf ergab. Wenn sie eines dem Rest der Menschheit nicht verzeihen konnte, dann, dass sie alle, und zwar ausnahmslos, nicht dasselbe Bild sehen konnten wie sie, wenn sie Arboretum dachte. Es war ein sich starksehnig nach vorne neigendes, muldenhaft sanftes, aber hitzeflimmerndes Wort, ein Wort wie heißer Gummi und Asphaltgeruch, gleichzeitig cremig und rein und von imponierender Größe.

Clemens J. Setz aus: „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“

Für mich besitzt „Arboretum“ mehr etwas von Erfrischendem, Grünem, Schattigem und Ruhigem. Sprachwelten müssen einfach nicht konvergieren, egal wieviel Mühe sich die Kommunizierenden auch manchmal geben.

Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit – meine letzten Habermas-Lektüren liegen Jahrzehnte zurück. Ich erinnere mich des schweren, behäbigen Stils. Kaum zwei Sätze gelesen, stehen mir die Seiten der Theorie des kommunikativen Handelns wieder glasklar vor Augen. In einem abgedruckten Interview antwortet Habermas auf die Frage, welche Rolle deliberative Theorie im Umgang mit aufgeheizten Debatten besitzt:

Wie Sie selbst andeuten, ist freilich die bloße politische Tatsache eines deliberativen Umgangs mit dieser Problematik fast wichtiger als die Argumentation selber; zunächst ist es der Stil des Umganges, der zuerst die Augen und dann den Respekt der abgeschotteten Gruppen füreinander öffnet – der Stil ist das Argument.

Jürgen Habermas aus: „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit“

Wie das aber zusammenpasst, mit der Rekonstruktion der Rationalität von Gründen in einer streitbaren, demokratischen Öffentlichkeit, habe ich nicht verstanden und scheint sich, auf den ersten Blick, performativ zu widersprechen. Ich habe mir vorgenommen, den Strukturwandel der Öffentlichkeit von Habermas nochmals unter diesem Gesichtspunkt zu befragen.

Spiegel Belletristik Bestseller-Liste (KW 49):

Im Folgenden die Liste selbst, angepasst und mit Links versehen, bei denen bereits ein Lesebericht vorliegt:

  1. Mimik – Sebastian Fitzek
  2. Fragile Heart – Mona Kasten
  3. Zur See – Dörte Hansen
  4. Eine Frage der Chemie – Bonnie Garmus
  5. Blutmond – Jo Nesbø
  6. Nachmittage – Ferdinand von Schirach
  7. Einsame Nacht – Charlotte Link
  8. Nur noch einmal und für immer – Colleen Hoover
  9. Transatlantik – Volker Kutscher
  10. Kummer aller Art – Mariana Leky
  11. Drei fast geniale Freunde auf dem Weg zum Ende der Welt – Jonas Jonasson
  12. Blutbuch – Kim de L‘Horizon
  13. Die Unverbesserlichen – Volker Klüpfl & Michael Kobr
  14. Komm zu nix – Tommy Jaud
  15. Tea Time – Ingrid Noll
  16. Drachenbanner – Rebecca Gablé
  17. Stay away from Gretchen – Susanne Abel
  18. Violeta – Isabel Allende
  19. Alle Farben meines Lebens – Cecelia Ahern
  20. Die Haushälterin – Joy Fielding

Ich bin gespannt, ob sich um Weihnachten herum, die Bestsellerliste noch wesentlich ändern wird. Wenn nicht, lese ich vielleicht Transatlantik als nächstes. Jedenfalls habe ich die Bestseller in den letzten Wochen etwas vernachlässigt.

Ich wünsche euch, dass Ihr es warm habt. In Berlin ist es bitterkalt! Schöne Vorweihnachtswochen von mir!

5 Antworten auf „Kalenderwoche 48-49. Lesebericht.“

    1. Mainz ist eine sehr schöne Stadt, und da passt doch diese tolle Schriftstellerin ganz hervorragend als Stadtschreiberin!! Ich bin auch der Meinung, dass ein elastisches Gemüt viele Vorteile mit sich bringt – es hält marode Gedanken ab 🙂 Viele Grüße ins Wochenende!

  1. Vielleicht ist es die gut erzählte Geschichte, die wir immer wieder in der Literatur suchen. Wer sie uns verweigert, enttäuscht uns.
    Dörte Hansen hat mich noch nie enttäuscht.
    Ich wünsche dir Wärme und gute Geschichten.

    1. Also, ich habe „Zur See“ sehr genossen. Ich werde sicherlich noch einige Bücher von Dörte Hansen lesen. Ich war ganz vertrocknet von dem kopflastigen Zeug, das ich letztens gelesen habe. Ja, ich denke auch, dass es die gut erzählten, dichten Erzählungen sind, die wie Balsam fürs Gemüt wirken. Gibt es ein Buch, dass du mir von Hansen insbesondere ans Herz legst?
      Danke für die Grüße und viele fröhliche Grüße zurück aus dem bitterkalten Berlin 🙂

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