
In der Gegenwartsliteratur steht die Mutter oft nicht hoch im Kurs. In Annika Brüsings Nordstadt und Claudia Schumachers Liebe ist gewaltig hassen die Figuren sogar explizit die Mutter. In Toril Brekkes Ein rostiger Klang der Freiheit und Daniela Dröschers Lügen über meine Mutter lässt sich bestenfalls von einer erzählerischen Ambivalenz sprechen, die Geschehenes im Nachhinein wiedergutzumachen versucht. In Annie Ernaux‘ Das andere Mädchen liebt die Mutter die Ich-Erzählerin nicht genug, und in Kim de l’Horizons Blutbuch geraten die Mutter und Großmutter zeitweilig gar zu “Monstren”. Vor diesem Hintergrund ist es eine willkommene Abwechslung in Hermann Hesses Narziß und Goldmund eine andere Art von Erinnerung an die Mutter zu lesen:
„Hermann Hesse: „Narziß und Goldmund““ weiterlesenNie in meinem Leben habe ich jemand so geliebt wie meine Mutter, so unbedingt und glühend, nie habe ich jemand so verehrt, so bewundert, sie war Sonne und Mond für mich. Weiß Gott, wie es möglich war, dies strahlende Bild in meiner Seele zu verdunkeln und allmählich diese böse, bleiche, gestaltlose Hexe aus ihr zu machen, die sie für den Vater und für mich seit vielen Jahren war.
Hermann Hesse aus: “Narziß und Goldmund”