Das Debüt 2023: Meine Favoriten

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Das Debüt 2023. Meine Favoriten.

Der Blog Das Debüt, auf den Dr. Bozena Badura und Janine Hasse schreiben, lobt den Bloggerpreis „Das Debüt“ für den überzeugendsten literarischen Erstling des jeweils vergangenen Jahres aus. Aus den vielen Einsendungen wird eine Shortlist erstellt, die die teilnehmenden Blogs lesen und besprechen. Die Punktevergabe erfolgt am Schluss und staffelt sich von 5 Punkte für das überzeugendste Debüt, über 3 Punkte und 1 Punkt für die zweit- bzw. drittplatzierten Titel. Wie auch bei meiner Besprechung der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023 und im letzten Jahr für Das Debüt 2022 möchte ich auch dieses Mal meine Punktevergabe so transparent wie möglich gestalten. Selbstredend fällt sie ohnehin vor einem äußerst lese- und erfahrungsspezifischen Hintergrund aus, weshalb ich zusätzlich noch mein Ein Kanon im letzten Jahr erstellt habe, um Gründe zur Annahme an die Hand zu geben, weshalb meine Beurteilungen so und nicht anders für gewöhnlich ausfallen.

Auf der Shortlist stehen dieses Mal fünf Titel:

  1. Tomer Dotan-Dreyfus: „Birobidschan
  2. Viktor Gallandi: „Kaspar
  3. Grit Krüger: „Tunnel
  4. Magdalena Saiger: „Was ihr nicht seht
  5. Jenifer Becker: „Zeiten der Langeweile

Ich habe mich wieder für die drei Kategorien: das Erzählte (Inhalt), die Erzählweise (Form) und die diese beiden vermittelnde Erzählinstanz (Erzähler, Rahmen, Konsistenz) entschieden. Dass das Erzählte überzeugend sein kann, selbst im Falle eines schnöden Erzählstils zeigen typische Genre-Romane wie Krimis, Horror- und Liebesromane (bspw. Karl May oder Stephen King). Dass die Erzählweise begeistern kann, wiewohl der Inhalt für sich allein genommen eher dröge wirkt, lässt sich an poesiegetragenen Romanen illustrieren (bspw. Esther Kinsky oder Elfriede Jelinek). Dass der Erzähler trotz sprachlicher Entgleisungen und inhaltlicher Ausschweifungen zu bezirzen vermag, hierfür stehen Schelmenromane Pate (bspw. Albert Vigoleis Thelen, Halldór Laxness oder Jean Paul). Diese Triangulierung erlaubt der Literatur großen Spielraum, der je nach Belieben mit Phantasie und Sprachfreude bespielt und befüllt werden kann.

Da ich die einzelnen Titel der Shortlist für Das Debüt 2023 bereits ausführlich besprochen habe, nun nur eine Begründungsskizze, also ohne Zitate aus den jeweiligen Werken, bevor ich zu meiner Punktevergabe komme:

Das Erzählte (Inhalt/Plot/Gegenstand der Erzählung):

Birobidschan: Eine Familiengeschichte über mehrere Generationen im weitentfernten, östlich-gelegenen Birobidschan, in der es zu einem mysteriösen Mord kommt, Väter verschwinden, und eine Zeitreise/Zeitfaltung im Spiel ist. (Phantasie und Mut zum Übernatürlichen).

Tunnel: Eine Familiengeschichte, in der eine Mutter ihrer Mutterrolle zu entfliehen sucht, am Ende als Pflegekraft in einem Altenheim im Untergeschoss einen Tunnel gräbt, um in die Freiheit zu gelangen. (Surrealistisches Unterfangen).

Was ihr nicht seht: Ein Kunstagent beschließt trotz Erfolgs seinen Job aufzugeben, zieht in eine verlassene Gegend und erzeugt dort ein riesiges begehbares Kunstwerk, das er in die Luft sprengt, bevor es irgendjemand zu Gesicht bekommen kann und beginnt die Welt zu bereisen. (Satire, Emanzipationsgeschichte).

Kaspar: Ein Ich-Erzähler liegt in einem Krankenbett und wird von einem Roboter versorgt und befindet sich höchstwahrscheinlich auf einem menschenverlassenen Planeten. Alles, was ihm bleibt, sind Erinnerungen, derer er sich aber nicht wirklich sicher ist. (Anekdotischer Schelmenroman).

Zeiten der Langeweile: Die Hauptfigur beschließt sich nach Liebeskummer und Abgabe der Dissertation aus dem digitalen Leben zurückzuziehen und muss herausfinden, dass das nicht ohne Weiteres möglich ist. (Dystopie, Selbstbetrachtungen).

Kaspar und Birobidschan besitzen im Grunde keinen Plot (daher für das Erzählte 0 Punkte). Zeiten der Langeweile hat dystopische, psychotische Züge und eine gewisse Intensität durch die Selbstbeschränkung (1 Punkt). Was ihr nicht seht besitzt einen Aufbruchscharakter und eine überzeugende charakterlich-interessante Hauptfigur (2 Punkte), und Tunnel einen absurden Wunsch mit einer absurden Strategie, die etwas erlösendes hat (3 Punkte).

Die Erzählweise (Sprachreichtum, Musikalität, Poesie):

Birobidschan: Traditionelles Erzählen, das teilweise in absurden Kitsch abgleitet, aber literarisch nichts Ungewöhnliches, aber wenigstens lange Sätze wagt. (Literarisch-traditionelles Schreiben).

Tunnel: Sehr einfache, kafkaeske Sprache, die dem Lesen aber nicht in die Quere kommt. (Völlige Abwesenheit von Sprachkreativität.)

Was ihr nicht seht: Sehr harmonischer, gelungener, fließender Stil, der seinen höchst allegorischen Gegenstand adäquat darstellt. (Intellektualistisch-theoretisches, aber gelungenes Sprachgebaren).

Kaspar: Völlig in sich gebrochene, verunsicherte, wuchernde Wortansammlung und schiefliegende Metaphern und Sprachbilder. (Kein Sprachgefühl).

Zeiten der Langeweile: Sehr einfache Sprache, die viel Zeitkolorit durch Anglizismen und Internet-Sprech einfängt. (Modern, kess, verkürzt).

Sprachlich gesehen gibt es bei Tunnel und Kaspar nicht viel zu lernen (0 Punkte). Birobidschan irritiert durch überraschenden Pathos (1 Punkt). Was ihr nicht seht hält eine komplexe, aber nicht sehr poetische Schreibweise aufrecht (2 Punkte). Zeiten der Langeweile fängt eine Gegenwart ein, die sprachlich neue Wege der Verkürzung sucht (3 Punkte).

Die Erzählinstanz (Erzählrahmen/Konsistenz/Perspektive):

Birobidschan: Der Erzähler thematisiert sich explizit selbst, träumt erotomanische Szenen und gebärdet sich als hintergründiger Puppenspieler, ohne dass das Erzählte hiermit in Verbindung stehen würde. (Selbstdarstellung).

Tunnel: Die Erzählinstanz verschwindet hinter dem Plot. Das episodenhafte Erzählen erlaubt zu viel und schafft daher keine wirkliche Atmosphäre. (Unverbindlich, aber intensiv).

Was ihr nicht seht: Das Erzählen aus der Ich-Perspektive bleibt konsistent und selbstreflexiv. (Klassischer Thesenroman).

Kaspar: Die Erzählinstanz spielt mit dem eigenen und dem Wissen seines Publikums, bis nur noch Verwirrung übrig bleibt. (Völliges Chaos).

Zeiten der Langeweile: Sehr selbstkritische, sich selbst zerfleischende Protagonistin, die einen durch den Erzählrahmen in die selbsterzeugten Abgründe zieht. (Konsistente Beklemmung).

Kaspar und Birobidschan stellen sich keinem verbindlichen Anspruch und entziehen sich durch inszenierten Klamauk der Erzählung selbst (0 Punkte). Tunnel kann allein schon durch das Episoden-Erzählen rahmentechnisch nichts bieten (1 Punkt). Zeiten der Langeweile erzeugt einen Tunnel durch die Ich-Perspektive, die raumzeitliche Konsistenz gewährt (2 Punkte), was Was ihr nicht seht noch überzeugender durch die Selbstreflexivität der Hauptfigur vollführt (3 Punkte).

Fazit:

Aus den Kategorien folgt nun die folgende Punktvergabe:

Was ihr nicht seht (3+2+2 Punkte:3=2,33 Punkte).  
Zeiten der Langeweile (2+3+1 Punkte:3=2 Punkte).
Tunnel (1+0+3 Punkte:3=1,33 Punkte)
Birobidschan (0+1+0 Punkt:3=0,33 Punkte)
Kaspar (0+0+0 Punkte:3=0 Punkte)

Mein persönlicher Favorit für Das Debüt 2023 lautet in diesem Jahr also Was ihr nicht seht von Magdalena Saiger und bekommt von mir verkopfte fünf Punkte. Zeiten der Langeweile von Jenifer Becker, wiewohl es mich inhaltlich nicht überzeugt, erhält wegen seiner Internet-Sozialen-Medien-Sprache moderne drei Punkte, und Grit Krügers Tunnel, das mich durch die verrückte Idee begeistert hat, erhält einen freiheitsliebenden Punkt.

Ich bin gespannt, wie die anderen Blogs die Shortlist empfunden haben, und freue mich auf die Bekanntgabe des Debütpreises durch die Organisatorinnen.

Auch bedanke ich mich erneut bei den Verlagen, dass diese mir Rezensionsexemplare zur Verfügung gestellt haben.

2 Antworten auf „Das Debüt 2023: Meine Favoriten“

  1. Ohne, dass ich es richtig erklären könnte warum, springt mich jetzt leider keiner der Titel so richtig an. An Deinen Rezensionen und Erläuterungen liegt es sicher nicht, vielmehr fehlen da für mich vermutlich lediglich gewisse thematische Schlüsselreize, auf die ich bei der Auswahl meiner Bücher oft reagiere… Ich bin aber dennoch gespannt, wer am Ende insgesamt das Rennen machen wird. Herzliche Grüße und einen schönen Sonntag!

    1. Liebe Barbara, die Bücher behandeln allesamt sehr grässliche, problematische Zustände und suchen, auf ihre Art, diese Schmerzen und Konflikte sprachlich aufzuarbeiten. Für die Freude an der Sprache, für das Vertrauen, das Kommunizieren auf Augenhöhe fehlt da ein wenig das Bewusstsein, wahrscheinlich aus Sendungsbedürfnis, aus Ungeduld, vielleicht auch aus Schmerz. Sie gleichen teilweise eher Interjektionen, Aufbegehrungen, und suchen eine Form hierfür. Vor diesem Hintergrund aber ist mir die Literatur nicht wild und jugendlich genug. Aber vielleicht bin ich einfach zu langsam und behäbig um der Dringlichkeit vollends klarzuwerden. Ein wenig Optimismus fehlt ihnen schon 🙂 Viele Grüße und auch einen schönen Sonntag!!

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