Tonio Schachinger: „Echtzeitalter“

Echtzeitalter
Impromptu-Erzählen …  … Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023.

Echtzeitalter von Tonio Schachinger gehört in die Kategorie des Jugendromans. Die Figuren gehen noch zur Schule. Sie arbeiten sich an Lehrern ab. Sie versuchen sich zu orientieren und geraten hierbei oft in die hilflosesten Formen der Verwirrungen. Echtzeitalter referenziert trotz seines modern klingenden Titels Romane wie Robert Musils Die Verwirrungen des Zögling Törleß und Robert Walsers Basta, einer Kurzerzählung aus Der Spaziergang und kleine Prosa. Die Stelle, die Schachinger in Echtzeitalter von Robert Walser zitiert, lautet:

Bei der Deutschmatura, wo Till damit rechnet, dem Dolinar zum letzten Showdown zu begegnen, hat irgendein anderer Lehrer Aufsicht. Es stehen drei Themen zur Auswahl: ein Kommentar zu den Grenzen des Tourismus, die Analyse einer Kolumne zum Thema Zeitverschwendung und eine Textanalyse zu Robert Walser. Sie haben dreihundert Minuten Zeit. Till hat noch nie von Robert Walser gehört. Er liest den ersten Satz: »Ich kam dann und dann zur Welt, wurde dort und dort erzogen, ging ordentlich zur Schule, bin das und das und heiße so oder so und denke nicht viel.«

Tonio Schachinger aus: „Echtzeitalter“
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Maria Borrély: „Mistral“

Mistral
Von der Liebe und anderen Naturgeheimnissen … eine Wiederentdeckung

Liebe als unergründliches Geheimnis bewegt die Literatur seit eh und je. Sie beschäftigt die Gedanken, die Sehnsüchte des lyrischen Ichs. In der Gegenwartsliteratur erhält sie jedoch zunehmend eher eine Statistenrolle. Selbst in dezidiert mit „Liebe“ betitelten Romane stellt sie mehr oder weniger nur ein Hintergrundrauschen dar. Claudia Schumachers Liebe ist gewaltig handelt von Gewalt und Angst innerhalb einer Beziehung oder Ehe. In Das Liebespaar des Jahrhunderts von Julia Schoch überredet sich die Protagonistin, die Gewohnheit über die Intensität, das Miteinander als Nebeneinander zu akzeptieren, und Florian Illies Liebe in Zeiten des Hasses lässt gar keinen Blick auf die Romantik zwischen Individuen zu und verortet alles in ein alles durchdringendes politisches Zeitgeschehen.

Früher fanden sich stürmischere Varianten, die die Höhen und Tiefen der Liebe besangen und neben ihr nichts anderes gelten lassen wollten. Friedrich Hölderlin in Hyperion und Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers mögen als Beispiele dienen. 2022 erschien zum ersten Mal in von Amelie Thoma angefertigten deutscher Übersetzung Maria Borrélys Mistral, das 1930 in Frankreich bereits André Gide begeisterte und ebenfalls das alles verzehrende Glück der Liebe ins unmittelbare Zentrum der Erzählung rückt:

Der Himmel schmiegt seine Flanke sacht an den Leib der Erde. Die Kuppen erhoben, bieten sich die hingestreckten Hügel der blauen Liebkosung dar, einer Berührung, die überall umherschweift, sucht, jede Anhöhe begehrt, in geheime Schluchten eindringt. Der Himmel ist ganz nah, tief blau hier unter dem schwarzen Lorbeer, vermengt mit den Schattierungen dieses Weizens, dem Silber dieser Ölbäume. Firmament stürzt dort in diese Klamm. Aus den Taubenschlägen unter den Dächern der Hütten fliegen Taubenschwärme auf.

Maria Borrély aus: “Mistral”
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Dinçer Güçyeter: „Unser Deutschlandmärchen“

Unser Deutschlandmärchen
Eine gerettete Zunge auf dem Weg zu sich … Preis der Leipziger Buchmesse 2023.

Die Kunst, die Sprache, die Poesie bietet ein Medium, um in der Fremde ein Selbstverständnis zu erringen. Zeugnisse dieser Befreiung besitzen eine eigene Intensität und Leuchtkraft. Die Dringlichkeit der Sprache bricht eingefahrene Denkmuster. Sie eröffnet Spielräume, und in diesen bewegen sich neue Motive, Stile, Ausdrucksweisen. Dinçer Güçyeters Unser Deutschlandmärchen verarbeitet eine solche kulturelle Abstands- wie Inbesitznahme. In seinem Roman, der nur mit viel gutem Willen ein Roman, mehr ein Prosagedicht ist, läuft alles auf den Zauber und Freude der geretteten Zunge hinaus. Nichts als das Eigene, nichts als das Empfundene soll bleiben und das eigene Leben besingen:

Mit Versen noch den Intellekt beweisen zu wollen, das erschreckt mich jedes Mal. Wenn du als Gastarbeiterkind die gesamte Jugend damit verbracht hast, deinen Lehrern, den Vorarbeitern, Dozenten etwas zu beweisen, dann steckt irgendwann diese Kerbe tief im Fleisch, und für den Rest des Lebens kämpfst du damit, die Wunde zu heilen, dich zu befreien. Das Resultat meines kleinen Widerstands: Nichts kommt auf das Blatt, was auf meiner Haut keine Spuren hinterlassen hat.

Dinçer Güçyeter aus: “Unser Deutschlandmärchen”
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Esther Kinsky: „Rombo“

Rombo
Dem Schrecken eine Stimme gegeben … Longlist des Deutschen Buchpreis 2022

Die Kategorie, unter der Esther Kinskys neuester Roman Rombo gemeinhin geführt wird, lautet „nature writing“, was auf einen beschreibend-wissenschaftlichen Stil hinweist, eine Art dokumentarischer Poesie. Als Pate für diesen Stil stehen Alexander von Humboldt, Jean-Jacques Rousseau oder Henry David Thoreau. Im Gegensatz zu diesen, die mehr theorie- und reflexionslastig schreiben und der Theorie im Allgemeinen und Besonderen zugeneigt sind, weist sich Kinskys Rombo im Gegensatz zu Die Träumereien des einsamen Spaziergängers oder Walden als echter Roman aus, mit Handlung, mit Dramaturgie, Personal und sprachlicher Komposition. Er behandelt das Erdbeben im norditalienischen Friaul am 6. Mai 1976:

Das Erdbeben ist überall. In den efeuüberwucherten Trümmern eingestürzter Häuser an der Staatsstraße Nummer 13, in den Rissen und Narben der großen Gebäude, den geborstenen Grabmälern, den Schiefheiten wiederaufgebauter Kathedralen, den leeren Gassen der bienenwabig verschachtelten alten Dörfer, den hässlichen neuen Häusern und Siedlungen, die sich am Sehnsuchtsort Vorstadt aus amerikanischen Fernsehserien orientieren.

Esther Kinsky aus: “Rombo”
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Claudia Schumacher: „Liebe ist gewaltig“ [Das Debüt 2022]

Das Cover von Claudia Schumachers Debütroman zeigt eine in Öl gemalte junge Frau. Sie liegt kopfüber und schaut aus dem Bild heraus und schaut in ihr Publikum. Sie schaut still und unbesorgt, ihre Wange hinhaltend. Neben den rotgeschminkten Lippen prangt der Romantitel Liebe ist gewaltig. Wie in der Danksagung zu finden ist, handelt es sich um einen Ausschnitt aus Xenia Hausners Gemälde Baywatch. Die warmen Farben, das friedliche Motiv und das Kopfüber-Stehen deuten auf eine tieferliegende, fast prästabilierte Harmonie hin. Nur der stoische Blick der Frau lässt einen Widerstand vermuten. In ihm liegt etwas Unbestechliches, etwas Nüchternes, Zeitloses, aber auch Hinnehmendes. Im Roman jedoch geht es gleich hart zur Sache:

Papa schlug Bruno mit der Faust ins Gesicht. Aufs Auge. Auf die Lippen. Bruno winselte vor Schmerz und vor Demütigung, presste dazwischen Sätze raus wie: Papa, ich hab‘ doch nichts gemacht, Papa, hör auf, Papa, ich wollte das nicht, Papa, Papa, bitte, bitte. Und irgendwann lag er auf dem Boden. Sein linkes Auge geschwollen. Blut am Mund. Papa kickte ihm brüllend gegen den Kopf. Mit Schuhen, die er sich extra dafür angezogen hatte.

Claudia Schumacher aus: “Liebe ist gewaltig”
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Friedrich Hölderlin: „Hyperion“

Friedrich Hölderlin: „Hyperion“
Das Eine und Alles … poetisch die Unterschiede überbrücken.

Die Entstehungsgeschichte von Friedrich Hölderlins einzigem Roman Hyperion liest sich selbst wie ein Liebes- und Reiseroman. Geplant wurde der Roman von dem gerade zweiundzwanzig gewordenen Stiftstipendiaten ab Mai 1792. Eine Tübinger Fassung entstand um 1793, und einige Versionen und Umzüge, Komplettentwürfe und Fluchten von Tübingen nach Frankfurt später erschien 1794 ein Fragment von dem Roman in Friedrich Schillers Zeitschrift Neue Thalia. Auf dessen Anraten wurde nach Verwerfung der metrischen Fassung und der Jugendgeschichte der erste Band von zwei Bänden schließlich im Verlag Cotta 1797 veröffentlicht, aber nur nach vielen Kürzungen und Streichungen, und nach weiterem Herzschmerz, Reisen nach Jena, einer weiteren Flucht nach Nürtingen, Verwerfungen mit Freunden ging der zweite Band im selben Verlag 1799 in den Druck. Einen Romanentwurf oder ein Manuskript letzter Hand gibt es jedenfalls nicht. Wie das ganze Leben von Hölderlin, so blieb auch sein Roman in sich zerstritten und insbesondere der zweite Teil des zweiten Bandes ein Torso:

O Gott! und daß ich selbst nichts bin, und der gemeinste Handarbeiter sagen kann, er habe mehr getan, denn ich! daß sie sich trösten dürfen, die Geistesarmen, und lächeln und Träumer mich schelten, weil meine Taten mir nicht reiften, weil meine Arme nicht frei sind, weil meine Zeit dem wütenden Prokrustes gleicht, der Männer, die er fing, in eine Kinderwiege warf, und daß sie paßten in das kleine Bett, die Glieder ihnen abhieb.

Friedrich Hölderlin aus: “Hyperion”
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Ralf Rothmann: „Die Nacht unterm Schnee“

Ralf Rothmann "Die Nacht unterm Schnee"
Vom Krieg und anderen Schrecken … Spiegel Belletristik-Bestseller (33/2022)

Selten verirren sich Romane in die Bestsellerlisten, die auf Erklärungen, Begründungen, in sich geschlossene Erzähllogiken verzichten. Typischerweise läuft alles auf die Struktur des klassischen Kriminalromans hinaus: Es wird von einer Tat, einem Ereignis berichtet, und der Roman liefert dann Grund und Auflösung nach. So verstanden stellt der Roman nur einen sehr langen Text zum kurzen Aufmacher dar. Als Beispiel sei Jan Weilers Der Markisenmann genannt, in der nach und nach der Grund aufgerollt wird, weshalb der Vater seine Tochter seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen hat, oder Susanne Abels Was ich dir nie gesagt habe, wo eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung auf eine Lüge, ein Stillschweigen, ein Geheimnis zurückgeführt wird. Ralf Rothmanns Roman Die Nacht unterm Schnee handelt ebenfalls von einer Familientragödie, aber diese stellt nur den Rahmen für ein sprachliches Unterfangen der besonderen Art dar:

Kein Laut in der Nacht, auch kein entfernter Geschützlärm, an dem sie sich orientieren konnte. Soweit sie sah, verschneites Ackerland, von braunen Panzerspuren durchfurcht, und manchmal, wenn sie die fiebrig heißen Lider schloss, war das Fallen der größeren Schneeflocken in ihrer Nähe zu hören, ein unendlich zartes Geräusch, wie es entsteht, wenn jemand mit feuchten Fingerkuppen auf die Tischplatte klopft. Doch als wäre diese Stille lediglich ein Raum für den Unglauben derer gewesen, die den Soldaten in den Ställen ausgeliefert waren, ein Atemholen des Entsetzens, zerriss im nächsten Moment ein langgezogener Laut die Nacht.

Ralf Rothmann aus: “Die Nacht unterm Schnee”
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Elfriede Jelinek: „Die Kinder der Toten“ (ii: Form)

Elfriede Jelinek: "Die Kinder der Toten"
Sprache gegen den Strich gelesen …

Im ersten Teil der Lesebesprechung von Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten habe ich versucht, den Plot zu rekonstruieren mit dem Ergebnis, dass der Roman hauptsächlich von drei Figuren handelt, die untot durch ein steirisches Wildalpendorf geistern: die Studentin Gudrun Bichler, die sich wegen universitären Leistungsdrucks in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten hat; die pensionierte Sekretärin Karin Frenzel und der Ex-Leistungssportler Edgar Gstranz, die beide bei einem Autounfall ums Leben kommen. Diese sehr grobe Rahmenhandlung wird von einer ganzseitig gedruckten Schriftrolle, einer Mesusa, eingeleitet, auf der in Hebräisch steht:

Die Geister der Toten, die solang verschwunden waren, sollen kommen und ihre Kinder begrüßen.

Elfriede Jelinek aus: “Die Kinder der Toten”
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Susanne Abel: „Was ich nie gesagt habe“

Susanne Abel: „Was ich nie gesagt habe“
Eine Reise durchs kulturelle Unbewusste … Spiegel Belletristik-Bestseller (27/2022)

Gibt es eine in sich runde Form, die aus konsequenter Formlosigkeit besteht? Ein Erzählen, das so naturalistisch daher kommt, dass der leiseste Anspruch an Wortwahl, Satzkomplexität, an überraschenden grammatikalischen Strukturen ins Leere geht? Tatsächlich gibt es diese Form des nüchternen, fast aus dem Leben gegriffenen Erzählens, eine Art Protokoll des Seelenlebens, ein Traum, ein Trauma frei von der Leber weg geschrieben. Ein Beispiel dafür ist Susanne Abels Gretchen-Reihe, in der Greta „Gretchen“ Schönaich und Konrad „Conny“ Monderath einen Neuanfang inmitten der Katastrophe suchen und versuchen:

Wie jeden Sonntag schlenderten sie den Berg hinauf. Rechts und links breiteten sich Wiesen aus, auf denen erstes zartes Grün sprießte, das eingerahmt war von Sträuchern, deren Knospen sich von den Sonnenstrahlen ins Leben küssen ließen. Es roch nach Neuanfang und Aufbruch. Conny wusste, heute musste er es ihr sagen. Sie bogen auf den Philosophenweg ein, und er steuerte gezielt das Philosophengärtchen an. »Sollen wir uns da hinten auf diese Bank setzen?« »Welche?«, fragte Greta. »Die unter der Buche.«

Susanne Abel aus: “Was ich nie gesagt habe”
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Ingeborg Bachmann: Malina

Ingeborg Bachmann: "Malina"
Von dem Sag- und Unsagbaren …

Es gibt wenige Texte, die sich so gegen das plakative Lesen sträuben wie Ingeborg Bachmanns einzig vollendeter Roman Malina. Er ist so vielschichtig und polyphon, so dicht und komplex, dass beinahe jeder Absatz für sich allein steht und das Lesen seinen eigenen Fokus, seine eigene Perspektive konstruieren muss. Bachmanns Text versprachlicht Heraklits Fluss, in den sich nach seiner Formel panta rhei niemals ein zweites Mal steigen lässt, indem es einfach kein zweites Lesen gibt. Malina liest sich stets von neuem. Mit dem ersten Satz beginnt eine neue Reise. Er lautet:

Nur die Zeitangabe mußte ich mir lange überlegen, denn es ist mir fast unmöglich, ›heute‹ zu sagen, obwohl man jeden Tag ›heute‹ sagt, ja, sagen muß […]

Ingeborg Bachmann aus: “Malina”
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