Joachim Meyerhoff: „Man kann auch in die Höhe fallen“

Man kann auch in die Höhe fallen von Joachim Meyerhoff
Man kann auch in die Höhe fallen von Joachim Meyerhoff … Literarisches Quartett 01/2025.

In Joachim Meyerhoffs Roman Man kann auch in die Höhe fallen tritt eine forsche, rüstige, 86jährige Mutter auf den Plan und spielt die Galionsfigur und Lichtgestalt für einen nervösen, an seinem Leben zunehmend verzweifelnden 56 Jahre alten Ich-Erzähler. Das Setting Lebensratgeber in Romanform erfreut sich großer Beliebtheit in den letztjährigen Bestsellerlisten, wie sich an Stephan Müllers 25 letzte Sommer, Mariana Lekys Kummer aller Art und auch Arno Geigers Das glückliche Geheimnis zeigen lässt. Meyerhoff jedoch zielt auf eine eher komödiantische Variante ab:

»Bitte halt an. Schnell.« »Wo denn? Was machst du denn für Geräusche? Warte, gleich.« Mit viel zu hoher Geschwindigkeit bog sie rechtwinkelig in einen Holperweg ein. Ich hüpfte im Sitz auf und ab, und das Schlaglochballett gab mir den Rest. Der Döner sprang mir auf die Füße. »Halt an!«, schrie ich. […] Ich hielt mir beide Handflächen vor den Mund und versuchte, durch Druck den drohenden Schwall niederzupressen, einen Riegel in meiner Kehle zuzuschieben. Doch es war zu spät. Ich kurbelte die Scheibe hinunter, hielt meinen Kopf aus dem Fenster und übergab mich. Meine Mutter rief: »Um Gottes willen!«, und fuhr Schlangenlinien, um mehreren Schlaglöchern auszuweichen.
Joachim Meyerhoff aus: „Man kann auch in die Höhe fallen“

Inhalt/Plot:

Der Ich-Erzähler aus Man kann auch in die Höhe fallen hält nirgendwo mit Geheimnissen und Schamhaftigkeiten hinter dem Berg. Es geht rasant und amüsant zu, insbesondere sobald seine betagte Döner verspeisende Mutter ins Spiel kommt. Sie lässt sich kein X für ein U vormachen und weiß exakt, was sie will und nicht will und lebt auf diese Weise ein glückliches, ausgefülltes Leben in der Kleinstadt Schleswig, wo sie Singabende und Apfel-Erntedank-Feste veranstaltet, nackt im Teich und in der nahegelegenen Ostsee badet oder in Massen Currywurst verspachtelt:

Die [iranischen] Imbissbrüder packten bereits zusammen, hatten aber auf meine Mutter gewartet. Auf der großen, von der anhaltenden Dürre vertrockneten Wiese standen nur noch drei Autos. »Ich bitte keine Wurst, Mama. Mir ist immer noch ein bisschen komisch.« »Wie du willst. Du weißt gar nicht, was du verpasst.« »Oh doch! Ich weiß genau, was ich verpasse.« Die Currywurst sah eindrucksvoll aus, zentimeterweise eingeschnitten, brutzelig geplatzt, halb übergossen mit dickflüssiger Soße und mit Unmengen von Currypulver bestäubt. Ganz offensichtlich hatte sich der Nachmittag für die Wurst ein wenig in die Länge gezogen. Der Geruch allein ließ mich Abstand nehmen. »Das Bier ist ja herrlich kalt!«, freute sich meine Mutter. »Ich danke euch.«

Joachim, der Ich-Erzähler, lässt sich von seiner Mutter Susanne mitziehen und wieder zurück ins Leben holen. Er ist ausgebrannt, nach seinem Umzug aus Wien nach Berlin fertig mit den Nerven, das Theater setzt ihm zu, er weiß nicht mehr, worüber er schreiben soll, und dann wurde er noch gegenüber seinem neunjährigen Sohn verhaltensauffällig, sodass er vorerst reißausnehmen musste, um nicht noch mehr Familiendrama zu erzeugen und die Gefühle seiner Liebsten zu verletzen. Im Garten seiner Mutter legt er nun die Beine hoch, trinkt Whiskey, geht mit seiner Mutter schwimmen und versucht, bspw., ein Whiskeyfass abzudichten. Bald schon läuft es wieder mit dem Schreiben, und als sich seine Mutter überraschenderweise wieder verliebt, zieht es ihn, nach zehn Wochen, wieder zurück zu seiner Familie nach Berlin.

Stil/Sprache/Form:

Der äußerst spärliche Plot hangelt sich indes von einer beherzten Anekdote zur nächsten. Immer wieder wartet der Ich-Erzähler mit einer unerhörten Begebenheit auf, bspw. wenn er von einem Dalmatinerspektakel oder einem Applaussammler berichtet, oder von dem geheimnisvollen Verschwinden seines orangefarbenen Koffers oder von der Unfähigkeit seiner Mutter, vom Fahrrad abzusteigen. Dementsprechend fetzig muss der Sprachgebrauch sein, der sich mit allerlei Superlativen sprichwörtlich und sinngemäß über Wasser hält:

[…] Aber sobald ich meiner Mutter auf dem Steg gegenübersaß und sich das Abendlicht in der goldgelben Flüssigkeit fing, war [der Whiskey] das beste und einzige aller Getränke. […]
[…] Zum Mittagessen hatte ich mir Pfannkuchen gewünscht. Es ist mir ein unlösbares Rätsel, warum die Pfannkuchen meiner Mutter die besten sind, die es gibt. […]
[…] Und meine Mutter war die beste Kletterin von allen. Da, wo die anderen aufgaben, vernünftig agierten und sich durch körperliche Einschränkungen zum Absteigen genötigt sahen, war meine Mutter zur Stelle. […]
[…] Den langen Weg vom Wasserhahn im Hof zu den Zierquittensträuchern mit den schwer schwappenden Kannen zurückzulegen, schien mir die beste und sinnvollste Tätigkeit der Welt zu sein. […]

Die Sprache von Joachim Meyerhoff hält sich bewusst im mundartlichen Rahmen. Gewitzt, wie einem Gespräch abgelauscht, wartet sie mit teilweise überraschenden Wörtern wie „Zierquittensträucher“, „kaukasische Flügelnuss“ oder „Schaminfarkt“ auf und erinnert in vielerlei Hinsicht an einen Heinz Strunk, wenn Sätze wie diese aus dem Nichts der Handlung herausfallen:

Wie eine riesige verkackte Klobürste zog der Traktor das triefende Blätterungetüm hinter sich her, und es hinterließ einen übel riechenden Bremsstreifen auf der Wiese.

Stilistisch zwischen einem privatierenden Thomas Bernhard und Heinz Strunk einzuordnen, emotional ausgleichend und selbstkritisch bei einer Mariana Leky beheimatet, ergeht sich Meyerhoff einem Arno Geiger gleich in sehr selbstbezogenen Erinnerungswelten, die ob ihrer Privatheit und Ich-Bezogenheit bald schon die Frage aufwerfen, wann eigentlich ein Roman beginnt und wann die Autobiographie endet, wann also Erinnerungen zum Sachbuch werden und wann sie sich in einen Romanstoff zu verwandeln beginnen.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Vorab, Meyerhoff nennt Man kann auch in die Höhe fallen einen Roman. Seine Hauptfigur heißt „Joachim“ wie der Autor und die Mutter heißt „Susanne“ wie selbige des Autoren auch, die zudem ebenso in Schleswig wohnt und, wahrscheinlich nicht zufälligerweise, auch 86 Jahre alt ist. Die Begebenheiten erinnern durchweg an bekannte (oder ermittelbare) Ereignisse im Leben des Schauspielers Meyerhoff, so dass die Grenze zwischen Fiktion und Autofiktion zu verschwimmen beginnt. Was geschieht hier also?

Um das besser zu verstehen, lässt sich das Textstufenmodell zugrundelegen, das Gérard Genettes in Die Erzählung als literaturwissenschaftliche Summa beschreibt:

[Realer Autor [implizierter Autor [Erzähler [Erzählung] Adressat] impl. Leser] realer Leser]
Schon eine Menge Leute für eine einzige Erzählung. Ockham steh mir bei!

Gérard Genette aus: „Die Erzählung“

Der reale Autor, hier Joachim Meyerhoff, schreibt einen Text, der den realen Leser zu einem Bild des realen Autors veranlasst (der sogenannte implizite Autor) und zwar durch einen Erzähler, der in seiner Erzählung an einen Adressaten, das vom realen Autor vorgestellte Publikum (die implizite Leserschaft), von seinem Leben berichtet, das Ähnlichkeiten zu dem des realen Autors besitzt. Hierdurch verlagert sich der Akzent von dem Erzähler zum impliziten Autor, und zwar durch das ungebundene, a-narrative Anekdotenhafte, das Man kann auch in die Höhe fallen charakterisiert. Die Anekdoten nämlich besitzen keine erzähllogische Plausibilität. Als Beispiel sei das Dalmatinerspektakel erwähnt, das sich weder biographisch noch textlogisch zwischen der Beschreibung der Rasen mähenden Mutter und des Applaussammlers aus dem Gorki-Theater schiebt. In ein weißes Bühnenbild mit schwarzen Punkten wurden zwei lebendige Dalmatiner gesetzt, die auf Kommando aus dem Bühnenbild flitzen sollten, leider war das Kommando ein Klatschen und so entstand Chaos im Theatersaal:

Der Vorhang war geschlossen, die Zuschauer hatten Platz genommen. Gespannte Stille. Der Vorhang öffnete sich, und die Leute waren so begeistert vom gepunkteten Bühnenbild, dass sie klatschten, bevor auch nur ein Ton erklungen war. Das missverstanden die Hunde als ihr Zeichen und liefen in die Richtung, aus der das Klatschen gekommen war. Der eine Dalmatiner sprang in den Orchestergraben, der andere kläffte das Premierenpublikum an. Unter den Bläsern gab es einen Tumult, da der herabstürzende Dalmatiner einen Posaunisten getroffen hatte.

Diese amüsante Geschichte passt sich jedoch nicht in den Textfluss ein. Wie viele andere Anekdoten, stellvertretend seien hier die Fahrradwimpelmanie im Schulverkehrsgarten oder die Regengeburt eines Kalbes während eines Gewitters genannt, platzen sie ungefragt, als idée fixe in den Raum der Erzählung ein und ziehen, teilweise charmant, meist aber aufdringlich, die Aufmerksamkeit auf sich. Die Dalmatinerepisode fällt besonders auf, weshalb der Erzähler auch noch ein Kurzkapitel über die Anekdote selbst einflicht:

Von allen literarischen Spielarten am meisten missachtet scheint mir aber unzweifelhaft die Anekdote zu sein. Keiner weiß so recht, was sie eigentlich sein soll. […] Liest man nach, was eine Anekdote sein soll, stößt man auf folgende Definition: „Die wichtigste Eigenschaft einer Anekdote ist, dass sie »treffend« ist.“ […] Und natürlich war das Theater der verlässlichste Anekdotenlieferant, der sich nur denken ließ.

Dieser Rückgriff auf die Reflexion reißt den Erzählfluss nur noch mehr auseinander. Um eine Anekdote zu präsentieren, wird die Anekdote kurz angepriesen, ohne jedoch auf ihre im Grunde antiliterarische Eigenschaft einzugehen, nämlich auf ihren Ursprung aus dem Mündlichen, verwandt dem Witz, als Figur der Rhetorik. Die Anekdote lebt vom treffenden Moment, wie der Erzähler richtig schreibt, aber der Moment entsteht im Akt selbst, und hier lässt sich zeigen, dass Man kann auch in die Höhe fallen eine Art Begegnung (den Moment) des realen Autoren mit seinem realen Publikum simuliert und zwar mittels des phantasmagorischen Auslöschen der Erzählfigur überhaupt (sie verschwindet).  

Endlich bekamen wir unsere Originalkostüme, und ich war begeistert. Noch nie hatte ich einen eigens für mich gefertigten Maßanzug getragen. Meine Locken wurden mit einem Haargel gebändigt und schwarz besprüht, die Augen mit schwarzem Kajal betont. Mit Genuss streifte ich die Samthandschuhe über. Mein Dandystock hatte einen silbernen Pantherknauf. Ich posierte in meiner Garderobe vor dem Spiegel und gefiel mir ausgesprochen gut.

Anders gesagt, Meyerhoffs Roman besitzt keine inhärente Plausibilität, was ihn nicht zu einem schlechten Text macht. Es nimmt ihm aber den ästhetischen Schein eines Allgemein-Zugänglichen. Die Figur existiert, weil sie mich unabhängig vom Text interessiert – und genau das lässt Man kann auch in die Höhe fallen zu einem Sachbuch werden, für Fans und solche, die es werden wollen. Es wird keine eigene Welt geschaffen. Der Text grenzt sich nicht ab, sondern löscht sein fiktives Moment aus.

Mein ganzer Körper war von Wohlgefühl durchströmt. Ich stellte mich nackt frontal in den Wind, breitete die Arme aus. Es hörte auf zu regnen, und nach und nach trocknete ich. Von fern sah ich meine Mutter auf mich zukommen. Ich winkte ihr zu, und auch sie hob den Arm. Ich flüsterte, ohne recht zu verstehen, warum: »Das ist meine Mutter. Das ist meine Mutter. Meine liebste und einzige Mutter.«

Die Wiederholung, das Bestehen auf ein bestimmtes Bild seiner Mutter und auch von sich selbst, zeichnet Joachim Meyerhoffs Autobiographie aus. Mit Verve und Schwung berichtet er und zeichnet ein freundliches, nahezu ideales Bild einer 86jährigen Frau, die vor Lebensdurst und Tatendrang nur so sprüht. Dass Man kann auch in die Höhe fallen dennoch ein Roman sein soll, hinterlässt dann nur noch einen faden und etwas unentschlossenen Beigeschmack. In diesem Sinne betreibt Meyerhoff exakt das Gegenteil von dem, was Marcel Proust sich von einem Buch gewünscht hat:

In Wahrheit gibt man dem Publikum das, was man allein für sich selbst geschrieben hat, was ganz das Werk von einem selbst ist. Was man im vertrauten Kreise gibt, das heißt […] Hervorbringungen, die für die Intimität bestimmt sind, das heißt die auf den Geschmack einiger Personen zugeschnitten und also kaum mehr als geschriebene Konversationen sind, stellen das Werk eines viel äußerlicheren Ichs dar, nicht aber des wahren Ichs, das man nur findet, wenn man die anderen und das Ich, das die anderen kennt, ausschaltet, des Ichs, das gewartet hat, während man mit den anderen zusammen war, das man sehr wohl als das einzig wirkliche fühlt und für das lediglich die Künstler letztlich leben […]
Marcel Proust aus: „Gegen Sainte-Beuve“

Nächste Woche am 21.01.2025 auf Kommunikatives Lesen werde ich den Roman Hohle Räume von Nora Schramm, für den sie den Mara-Cassens-Preis des Literaturhauses Hamburg 2025 zugesprochen bekommen hat.

Diese und andere aktuelle Kurzrezensionen befinden sich hier

2 Antworten auf „Joachim Meyerhoff: „Man kann auch in die Höhe fallen““

  1. Der Meyerhoff ist für mich ein Buch, das ich auf jeden Fall lesen werde. Allerdings habe ich mir im Moment auch den vorigen Band („Hamster im hinteren Stromgebiet“) noch ein wenig aufgehoben, um nicht alle Bände der Reihe so schnell nach einander zu lesen. Ein bisschen Vorfreude darf noch sein… 🙂
    Herzliche Feierabendgrüße und eine gute restliche Woche!

    1. Liebe Barbara, in der Tat, auch dieses Buch liest sich rasant weg, vor allem aufgrund dieser Mischung aus Witz und Ernst. Das besitzt dadurch eigenartige Höhen und Tiefen, insbesondere aber die Beschreibung der Mutter hat mich gefreut und gerührt und auch inspiriert – er selbst hat sich, zumindest hier, ein zu wenig abschweifend oft eingeschaltet, aber gegen Ende wird die Treue des Lesens belohnt 🙂 Bin gespannt, was du sagst. Viele Grüße!!! Und auch eine schöne Restwoche!

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