Charlotte Gneuß: „Gittersee“

Gittersee
Lebendig, frech und unübersichtlich … “aspekte”-Literaturpreis 2023

Gittersee von Charlotte Gneuß steht im Zusammenhang der DDR-Vergangenheitsbewältigung. Mit  Bettina Wilperts Herumtreiberinnen (2022) teilt es die Beschreibung der Jugend von in der DDR aufwachsenden Mädchen und die Sehnsucht nach den Sternen. Vergleichbar u.a. Jan Weiler in Der Markisenmann (2022) beschreibt Gneuß, wie die Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) für die Staatssicherheit das Privatleben der Betroffenen zerstört. Zusammen mit Anne Rabes Die Möglichkeit von Glück (2023) geht die Protagonistin auf die Suche nach der Familienvergangenheit, insbesondere ihres Opas Emil, und wie Hari Kunzru in Red Pill (2021) wird psychologisch differenziert beschrieben, wie die Akquise einer Minderjährigen für die IM-Tätigkeit gelingt. Im Gegensatz zu all den genannten Romanen bleibt Gneuß‘ Ton in Gittersee aber derb, humorvoll, lebendig und dreist und erinnert so an Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. Im Zentrum des Romans steht die sechzehnjährige Karin Köhler, die den Minenarbeiter Paul liebt:

Als Paul am Freitag mit seiner Schwalbe in den Hof geknattert war, hat Oma schon die Augen verdreht. Ich bin schnell hochgerannt, um nach der Kleinen zu schauen, aber die schlief noch feste. Also hab ich eilig die Lippen rotgemalt, die Haare durchgewuschelt, das Kleid glattgestrichen und bin runtergerannt. Paul hatte die Schwalbe mittlerweile ausgeschaltet und stand breitbeinig an den Sattel gelehnt. Lust auf ein Abenteuer, hat er gefragt und gezwinkert. Klar hatte ich Lust, aber die Kleine könnte jede Minute aufwachen, und dazu war heute Waschtag.

Charlotte Gneuß aus: „Gittersee“
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Niklas Luhmann: „Liebe als Passion“

Entdeckung der Poesie als innere Grenze der Prosa.

Interpretationsmodelle (6): Niklas Luhmann gilt trotz schmissiger Buchtitel wie Liebe als Passion oder Reden und Schweigen als sehr abstrakter Soziologie. Seine systemtheoretische Herangehensweise verunmöglicht einfache, selbstreferenzielle Urteile und verknüpft eher, als dass Fakten isoliert, gegeneinander ausgespielt und Wertparadoxien erstellt werden. Mit Luhmanns Theorie lässt sich keine Ideologie unterfüttern. Sie steht windschief zu herkömmlichen Binnendifferenzierungen und sieht in Meinungen, Urteilen eher den Ausgangspunkt zur Theorieentfaltung als ein wie auch immer anvisiertes Ziel. Verknüpfen, entfalten, verbinden, Zusammenklänge finden beschreibt sein Verfahren, das dennoch, wie eine Anekdote beweist, sehr reale Anfangsgründe besitzt:

[Auf die denkbar blödeste Frage, warum er so funktionalistisch und sachlich denke] antwortete Luhmann, er sei zusammen mit einem befreundeten Klassenkameraden noch in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs eingezogen und in sinnlose Kämpfe verwickelt worden – und auf einmal sei der enge Freund nicht mehr an seiner Seite gewesen, sondern in tausend Teile zersplittert. Und da habe er (Luhmann wechselte in einen halbironischen Ton) sich vor der Alternative gesehen, entweder verrückt zu werden oder so zu denken und zu leben, dass er es jederzeit für möglich halte, dass ein Mensch, ein Subjekt von jetzt auf gleich zersplittert werde. Er habe sich für das Zweite entschieden und sei Systemtheoretiker geworden.

Dirk Baecker et al aus: „Luhmann Lektüren“
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Daniel Kehlmann: „Lichtspiel“

Lichtspiel
Ein Phantomschmerzspiel … Spiegel Belletristik-Bestseller (November 2023)

Historische Prosa bewegt sich bewusst zwischen narrativer Fiktion und wissenschaftlich beglaubigter geschichtlicher Überlieferung. Der historische Roman malt mit anderen Worten die wenig, sich als verlässlich erwiesenen Schemen der Vergangenheit aus, oft sogar mit der Einführung einer unbekannten, erfundenen Figur, um diese als Zeuge durch das Zeitgeschehen zu schicken, bspw. in Ivanhoe von Walter Scott, das nach seinem Erscheinen 1820 eine ganze Welle von historischen Romanen in Europa losgetreten hat. Form erhält diese Prosa durch die Herausforderung, Bekanntes, Verbürgtes, Glaubhaftes lebendig werden zu lassen, wie in Adalbert Stifters Witiko (1867) oder Heinrich Manns Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935). Daniel Kehlmann besitzt eine andere Herangehensweise. Er nimmt sich historische Figuren, aber erfindet um sie herum die Welt, wie sie ihm beliebt. In Die Vermessung der Welt (2007) fiel die Wahl auf Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß. In Lichtspiel hat er sich dem Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst ausgiebig gewidmet:

Mama hatte sehr geweint, und Vater hatte ihn in sein Büro im Bahnhof bestellt, um ihm mit leiser Stimme zu erklären, dass er ihn nicht unterstützen werde – kein Heller für einen Sohn beim Theater. Georg Wilhelm war ein freundlicher, damals schon rundlicher Junge, er wollte die Eltern nicht kränken, aber er wollte auch nicht die Rechte studieren, und so hatte er sich vom Vater ein Jahr ausbedungen, ein einziges nur, um zu sehen, ob es etwas werden konnte mit dem Schauspiel. Der Vater hatte stumm den Kopf geschüttelt, und er war dennoch nach Graz gefahren und hatte dort Nebenrollen gespielt, bis ihn der Direktor des Irving Place Theaters nach New York engagiert hatte.

Daniel Kehlmann aus: “Lichtspiel”
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Teresa Präauer: „Kochen im falschen Jahrhundert“

Kochen im falschen Jahrhundert
Gesprächsabbruch unter fragwürdigen Bedingungen … Shortlist des Österreichischen Buchpreises 2023.

Schreiben, um sich Luft zu machen, besitzt Tradition. Ein solches Schreiben nähert sich dem Genre des Pamphlets. Es wird geschimpft wie ein Rohrspatz. Es wird angegriffen. Es wird klar gestellt. Die Linie lässt sich von antiken Klassikern wie Ciceros Zweiter Philippischer Rede über Émile Zolas J’Accuse…! bis ins 20. Jahrhundert zu Valerie Solanas SCUMM Manifest und in die Gegenwart mit Virginie Despentes Liebes Arschloch ziehen. Teresa Präauer legt mit Kochen im falschen Jahrhundert eine ebensolche Polemik vor:

Seit ein paar Jahren war die Gastgeberin mit ihrem Partner zusammen, der wiederum mit seinem Smartphone zusammen war. Der Schweizer hatte eine Freundin, konnte aber auch gut alleine sein. Er könne Mixgetränke überhaupt nicht leiden, wiederholte dieser, den Crémant aus dem Elsass würdigend, und hob sein Glas. Santé!

Teresa Präauer aus: „Kochen im falschen Jahrhundert“
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Deutscher Buchpreis 2023: Mein Fazit.

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels lobt jedes Jahr zu Beginn der Frankfurter Buchmesse, dieses Jahr am 16. Oktober, den Buchpreis ‚Roman des Jahres‘ aus, um über die Ländergrenze hinaus Aufmerksamkeit für deutschsprachige Gegenwartsliteratur zu schaffen. Dieses Jahr standen auf der Shortlist die folgenden sechs Bücher, für die ich jeweils ein Zitat herausgesucht habe:

Buchpreis 2023

«Aber was ich noch sagen wollte: Wenn jetzt so viele Tiere sterben, kleine Tiere vor allem, also Insekten und Amphibien und Fische und kleines Meeresgetier, dann…», die Kamera suchte ihn, er blickte leer vor sich hin, «… dann verschwindet so das Gewirr, das Gewirk, das, das Dickicht, ja? Die Substanz, das Gewebe, also, dann fällt alles auseinander.» [Donato] schluckte und blickte in die Runde. «Alles auseinander.»

Ulrike Sterblich aus: „Drifter“
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Tonio Schachinger: „Echtzeitalter“

Echtzeitalter
Impromptu-Erzählen …  … Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023.

Echtzeitalter von Tonio Schachinger gehört in die Kategorie des Jugendromans. Die Figuren gehen noch zur Schule. Sie arbeiten sich an Lehrern ab. Sie versuchen sich zu orientieren und geraten hierbei oft in die hilflosesten Formen der Verwirrungen. Echtzeitalter referenziert trotz seines modern klingenden Titels Romane wie Robert Musils Die Verwirrungen des Zögling Törleß und Robert Walsers Basta, einer Kurzerzählung aus Der Spaziergang und kleine Prosa. Die Stelle, die Schachinger in Echtzeitalter von Robert Walser zitiert, lautet:

Bei der Deutschmatura, wo Till damit rechnet, dem Dolinar zum letzten Showdown zu begegnen, hat irgendein anderer Lehrer Aufsicht. Es stehen drei Themen zur Auswahl: ein Kommentar zu den Grenzen des Tourismus, die Analyse einer Kolumne zum Thema Zeitverschwendung und eine Textanalyse zu Robert Walser. Sie haben dreihundert Minuten Zeit. Till hat noch nie von Robert Walser gehört. Er liest den ersten Satz: »Ich kam dann und dann zur Welt, wurde dort und dort erzogen, ging ordentlich zur Schule, bin das und das und heiße so oder so und denke nicht viel.«

Tonio Schachinger aus: „Echtzeitalter“
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Necati Öziri: „Vatermal“

Vatermal
Ein abgeschriebenes Selbst … Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023.

Der Schelmenroman als Erzählform entzieht sich im Grunde völlig der Kommunikation. Das, was geschrieben steht, soll schillern, soll irritieren, soll persiflieren, in jedem Falle aber Verwirrung stiften. Ob’s konstruktive sein muss, bleibt dahingestellt. Mit dem Aufstieg des Bildungsromans im 19. Jahrhundert verlor der Schelmenroman à la Der abenteuerliche Simplicissimus (1669) von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen seine Bedeutung, die er jedoch zur Mitte des 20. Jahrhunderts langsam wiederfand. Werke wie Thomas Manns Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954) oder Albert Vigoleis Thelens Die Insel des zweiten Gesichts (1953) oder Günther Grass’ Die Blechtrommel (1956) trugen zu seiner Rehabilitation maßgeblich bei. Momentan befindet er sich wiederum stark im Trend. Zu den gegenwärtigen Formen gehören Romane wie Jan Faktors Trottel (Shortlist deutscher Buchpreis 2022), Tomer Gardis Eine runde Sache (Leipziger Buchpreis 2022) oder nun Necati Öziris Vatermal (Shortlist deutscher Buchpreis 2023):

Fast so schwierig, wie »Papa« zu sagen, ist es für mich hier, »ich« zu sagen. »Papa« klingt ausgesprochen falsch, »ich« löst schon vorher ein Stocken, einen Muskelkrampf in der Zunge aus. Ich werde es trotzdem tun. Auch wenn dieses »ich« immer ein anderer war. Ich werde von mir erzählen, Metin, aber ich werde permanent lügen. Nichts stimmt, und doch ist jedes Wort wahr.

Necati Öziri aus: „Vatermal“
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Toni Morrison: „Menschenkind“

Menschenkind
Dem Monströsen literarisch die Stirn geboten … Nobelpreis für Literatur 1993

Die Menschheitsgeschichte wartet mit vielen Abgründen auf. Die Sklaverei gehört dazu. Ihren Horror zu beschreiben, die Erinnerungen an die Verbrechen aufrechtzuerhalten, fordert das geschichtsträchtige Schreiben heraus. Unter die zahmen und umstrittenen Varianten gehören Harriet Beecher Stowes Onkel Toms Hütte (1852) oder Alex Haleys Wurzeln (1976). Toni Morrison, afroamerikanische Literaturnobelpreisträgerin von 1993, schlägt eine härtere Gangart der Geschichtsvergegenwärtigung ein. Wie bei William Faulkner in Schall und Wahn steht in ihrem Roman Menschenkind aus dem Jahr 1987 eine schwarze Köchin im Zentrum des Geschehens. Ihr Name ist Sethe:

Ein Weißer kommt, um Denver zur Arbeit abzuholen, und Sethe geht auf ihn los. Der Babygeist kehrt als böser Geist zurück und macht, dass Sethe auf den Mann losgeht, der sie vor dem Erhängen gerettet hat. In einem sind sich alle einig: zuerst haben sie das Etwas gesehen und dann nicht mehr. Als sie Sethe zu Boden geworfen und ihr die Eishacke aus der Hand genommen hatten und zurück zum Haus schauten, war es fort.

Toni Morrison aus: “Menschenkind”

[Triggerwarnung: Die US-amerikanische Schriftstellerin Toni Morrison verwendet in ihren Zitaten teilweise die Sprache der Sklavenhalter und benutzt das N-Wort. Ich zitiere Toni Morrison unverändert.]

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Hanna Bjørgaas: „Das geheime Leben in der Stadt“

Das geheime Leben in der Stadt
Eine sehr entspannte, konstruktive, freundliche, weitreichende Zeitgeistkritik

Die Blickweise auf die Umwelt erhält viel Aufmerksamkeit, sobald es die Verhältnisse zwischen Menschen betrifft. Das eigene Verhalten zur Umwelt, die geradezu synästhetische Position im eigenen Weltgeschehen findet viel seltener Zuspruch und Aufmerksamkeit. Hier wird das Selbst zu seinem eigenen Anderen, reflektiert rückhaltlos über sich und seinen Bezug, seine Aufmerksamkeit für das, was sein eigenes und kein anderes Selbst umgibt. Nicht die anderen, sich selbst betrachtend erforscht es in der Bewegung den eigenen blinden Fleck. Michael Crichton hat so etwas in Im Kreis der Welt in Bezug auf einen Kaktus getan. Douglas Adams in Die Letzten ihrer Art für die vom Aussterben bedrohten Tiergattungen wie den Komodowaran. Humberto R. Maturana hat diese zweite Reflexion in Biologie der Realität reflektiert. Hanna Bjorgaas wendet diese Form der Selbst- und Fremderforschung in Das geheime Leben in der Stadt auf das Leben in der Betonwüste an und erweitert so den Blick auf diese, für viele bestimmende moderne Daseinsweise:

An meinem ersten Tag wieder zurück in Oslo hatte ich keine anderen Pläne, als meinen Jetlag durchzustehen. Ich lief durch die Straßen und versuchte anzukommen. Die Tauben vor der U-Bahn pickten auf etwas herum, das wie ein platt getrampeltes Rosinenbrötchen vom Kiosk aussah. Die Spatzen lärmten in den Ziersträuchern. Alles um mich herum schien allein von Menschen gemacht. Die wunderbare, komplexe Natur, aus der ich gerade zurückgekehrt war [die Pinguine in der Antarktis], war zu dem hier reduziert worden: Spatzen und Stadttauben, harte Oberflächen und rechte Winkel. Eine armselige Landschaft. Ich drehte mich um und wollte nach Hause.

Hanna Bjørgaas aus: „Das geheime Leben in der Stadt“
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Raphaela Edelbauer: „Die Inkommensurablen“

Die Inkommensurablen
Sprachfreudige Ideologiekritik im Vorkriegswien … Longlist des Deutschen Buchpreises 2023

Raphaela Edelbauers neuer Roman Die Inkommensurablen lebt von dem Zauber, den die Moderne Anfang des 20. Jahrhunderts ausstrahlte. Er steht im Zusammenhang mit dem kollektiven Unbewussten eines Carl Gustav Jungs, mit dem Geheimnisvollen der Mathematik des Unendlichen eines Georg Cantors und dem nationalistischen Zeitgeist eines Vorkriegswiens im Jahre 1914, auf das die kommenden Schrecken des 1. Weltkrieges noch warten. Sprachlich und stilistisch stellt sich Edelbauers Roman in die Tradition eines Robert Musils aus Der Mann ohne Eigenschaften, Alfred Kubins Die andere Seite und Hermann Hesses Die Morgenlandfahrer. Zwischen den Zeilen schimmert ein Unbehagen an einem selbstbezogenen ästhetisch-begründeten Hedonismus hindurch, dem David Foster Wallace auf eigenwillige Weise in Unendlicher Spaß eine Absage erteilt. Im Gegensatz zu diesem verbleibt Edelbauer aber ganz und gar klassizistisch:

Wer die Karlskirche betritt, befindet sich in zu Stein gewordenem Gedächtnis. Sie ist aber – ganz als hätte ihr Grazer Architekt auch der österreichischen Seele als Ganzem ein Denkmal setzen wollen – nicht nur ein eklektizistisches Kind eines Vielvölkerstaates. Sie ist auch ein Meisterstück abgeschlossener Vereinzelung. Fischer von Erlach orientierte sich beim Bau an den Schriften des Mathematikers Gottfried Wilhelm Leibniz, und so ist die Karlskirche, ganz wie Wien selbst, Monade: fensterlos und gegen Veränderung indifferent.

Raphaela Edelbauer aus: “Die Inkommensurablen”
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