Amanda Gorman: “The Hill We Climb”

Eine mit sich selbst zerstrittene Übersetzung … (Spiegel Belletristik-Bestseller 14/2021).

Anlässlich der Inauguration des 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika trug Amanda Gorman ein Gedicht namens „The Hill We Climb“ vor. Dieses Gedicht liegt nun in deutscher Übersetzung vor. Kübra Gümüsay hat den Text in die deutsche Alltagssprache übertragen und diesem dadurch eine Breitenwirkung verliehen, die sich in dem sofortigen Bestsellerstatus niederschlagen konnte. Der Text ist kurz, die intendierte Botschaft klar und die Rahmenbedingung weisen auf seine rhetorische Funktion hin. Die interessante Frage, die sich aufdrängt und die auch im Zuge der Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan diskutiert wurde, lautet: Wann ist ein Song ein Gedicht, wann eine Rede eine Novelle, wann ein Vortrag eine Performanz?

Selbstredend kann man über jedwede Unterscheidung hinweg wischen. Eine Gebrauchsanweisung mag für einen Dadaisten ein Gedicht sein, für einen Kulturkonservativen ein Verbrechen an der Sprache. Die zerbrochene Toilettenschüssel (Fountain/Urinal) Duchamps ein Kunstwerk, oder nur ein Affront, eine spitzbübische Art, sich in die Kunstgeschichtsbücher mittels eines Marketinggags einzuschreiben, oder ein genialer Geistesblitz, um verkrustete Vorstellungsbahnen aufzubrechen.

Nicht jedes zerbrochene Urinal handelt und diskutiert man aber als Kunstwerk. Der Zusammenhang stiftet wie der Rahmen eines Bildes erst die Setzung. Duchamp hat das Urinal unter dem Pseudonym R. Mutt bei der Big Show im New Yorker Grand Central Palace April 1917 eingereicht. Die Kontroverse brach los und hat bis heute nicht aufgehört. Ist die Frage jedoch interessant, ob es sich bei einem Anti-Kunstwerk noch um ein Kunstwerk handelt? Ist dann nicht alles Kunstwerk, alles ein Gedicht, jedes Wort bereits Literatur, jede sprachliche Äußerung eine Hymne, und jede Rede ein Gebet oder eine Predigt? Kurzum, was ist daran zu bemängeln, wenn es allein im Auge des Betrachters liegt, was ein Gedicht, was ein Songtext, was Literatur und/oder eine Glosse ist? Nichts. Der Zusammenhang allein entscheidet und das heißt, die Kommunikation selbst.

In diesem Sinne lässt sich „Den Hügel hinauf“ von Kübra Gümüsay als Diskussionsbeitrag verstehen und hinsichtlich gewisser Übersetzungsentscheidungen befragen, und dies selbstredend unabhängig davon, ob es sich um ein Gedicht oder um eine Rede handelt. Hierzu belasse ich es bei drei Beispielen. Im englischen Original heißt es:

And yet the dawn is ours before we knew it.
Somehow we do it.
Somehow we weathered and witnessed a nation that isn’t broken, but simply unfinished.

Amanda Gorman aus “The Hill We Climb”

Diese Zeilen werden übersetzt als:

Unversehens gehört uns der Morgen.
Irgendwie geht’s.
Irgendwie, gelitten und gelebt. Eine Nation, die nicht zerbrochen ist, nur unvollendet.

Übersetzt von Kübra Gümüsay

Das Symptom als Phantasma unterstreicht hier die von Gümüsay gewählte passive Form. Es heißt nicht: „Auf irgendeine Weise schaffen wir’s.“ Nein, es heißt: „Irgendwie geht’s.“ Interessanterweise nämlich gelingt es der Übersetzerin nicht, sich in die Lage von Gorman zu versetzen. Das Gedicht, das eine politische Krise bezeugt, ist nämlich nicht „ihre Krise“ – das Gedicht selbst trägt und substantiviert sich in einer Wahl, die nicht global, sondern lokal ist. Scheinbar jedoch erschöpft sich das Gedicht für die Übersetzerin genau in dieser lokalen Bedeutung, die sie konsequenterweise distanziert zur Kenntnis nimmt.

Gorman schreibt weiter: „Somehow we weathered and witnessed a nation that isn’t broken, but simply unfinished.” Unpoetisch übersetzt heißt dies etwa “Irgendwie durchstanden und bezeugten wir eine Nation, die nicht zerstört, lediglich unvollendet ist.“ Die Übersetzerin passiviert und entfremdet sich total, indem sie schreibt: „Irgendwie, gelitten und gelebt.“ Hier aber „trotzen“ und „bezeugen“ viele Bürger und Bürgerinnen die Handlungen und Entscheidungen einer spezifischen Nation, einer Öffentlichkeit, die nicht ihre Interessen vertritt, die sie verunsichert zurückgelassen hat. Gorman reißt hier das schwierige Verhältnis zwischen Repräsentation und Bevölkerung an – den Unterschied zwischen einer Landesbevölkerung und einer Nation, die eben weniger als die Summe ihrer Teile ist.

Die Schwierigkeit, sich in die Lage der Dichterin zu versetzen, wird in einem Herzstück des Gedichtes/Songs deutlich. Gorman schreibt in bester Wladimir Majakowskji Manier:

That even as we grieved, we grew.
That even as we hurt, we hoped.
That even as we tired, we tried.
That we’ll forever be tied together, victorious.

Amanda Gorman aus “The Hill We Climb”

Die Alliteration, das Staccato der Hoffnung, des Versuchens, Stolperns, Weiterwebens wird im Deutschen zu:

Bei allem Gram, wir sind gewachsen.
Bei aller Not, wir haben gehofft.
Bei aller Ermüdung, wir haben uns bemüht.
Wir bleiben verbunden, werden überwinden.

Übersetzt von Kübra Gümüsay

Jedoch trauern, leiden, ermüden die Menschen bei Gorman. Sie „wachsen und hoffen, obwohl sie trauern und leiden“. Der wichtige Aspekt ist, dass Gorman Menschen in ihrer aktiven Haltung beschreibt, nicht „bei aller (irgendwie und vom wem auch immer empfundenen) Not“. Die Übersetzung anonymisiert, trivialisiert den historischen klaren Ort des Gedichtes, und nimmt ihm sogar die rhetorische Siegesgewissheit, denn „siegreich“ heißt nicht „überwindend“.

Als letztes und drittes Beispiel:

We will not be turned around
or interrupted by intimidation,
because we know our inaction and inertia
will be the inheritance of the next generation.

Amanda Gorman aus “The Hill We Climb”

In der Übersetzung wird daraus:

Wir werden uns von Störmanövern
nicht auf- und nicht abhalten lassen,
denn Trägheit und Untätigkeit
gäben wir als Erbe an die Nachgeborenen weiter.

Übersetzt von Kübra Gümüsay

Nicht nur die ärgerliche Reminiszenz an Brechts „An die Nachgeborenen“ (im Englischen übrigens „To those Born After“), die hier völlig fehl am Platz ist aus so vielen Gründen, viel gravierender das militärische „Störmanöver“, das im Englischen völlig fehlt und der Sanftheit und Zurückhaltung gar nicht entspricht. Hier wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen, und an einer weiteren Stelle wird aus „We seek harm to none and harmony for all“ wird ein “Wir wollen ohne Hader in Harmonie leben“. Die Übersetzung liest sich als zeitkritisches Zeugnis einer zerstrittenen Öffentlichkeit, die selbst dem Pathos misstraut, sich als Spielball fremder Kräfte fühlt und nicht weiß, wie sie das Zepter wieder in die Hand nehmen soll. In „Die Aufgabe des Übersetzers“ schreibt Walter Benjamin 1923:

Es ist daher […] das höchste Lob einer Übersetzung nicht, sich wie ein Original ihrer Sprache zu lesen. Vielmehr ist eben das die Bedeutung der Treue, welche durch Wörtlichkeit verbürgt wird, daß die große Sehnsucht nach Sprachergänzung aus dem Werke spreche. Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern läßt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur um so voller aufs Original fallen. Das vermag vor allem Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax und gerade sie erweist das Wort, nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers. Denn der Satz ist die Mauer vor der Sprache des Originals, Wörtlichkeit die Arkade.

Walter Benjamin in: “Die Aufgabe des Übersetzers”

Gemeint ist, dass jede sprachliche Äußerung stets die Übersetzung einer Sehnsucht impliziert, einen Wunsch, einen Traum, eine Idee artikuliert, dass es also stets nur Übersetzung von einer reinen (imaginären) in eine reale Sprache gibt und das Original selbst eine Übersetzung des Traumes in das Wort bezeichnet. Die Aufgabe des Übersetzers lautet mithin, die in dem Text versteckt gehaltene Botschaft so zu antizipieren und rekonstruieren, dass eine intellektuelle Anschauung eine Neu-Übersetzung ermöglich wird, eine Re-Imaginierung des Traumes, der Sehnsucht, der Idee. Liest man nun Amanda Gorman Wort für Wort, dann liegt es vielleicht nicht allzu fern, dass sie den patriotischen Traum einer Heimat hegt, in der sich niemand diskriminiert, gefährdet, prinzipiell gedemütigt fühlen muss, in der niemand unterdrückt und ausgebeutet, vergewaltigt und ignoriert wird. Diesen Traum, so viel kann gesagt werden, ließ die Übersetzerin nicht die Feder führen.

Ob Amanda Gormans Gedicht die Zeiten überlebt, zeithorizontübergreifend Bedeutung erlangt, bleibt abzuwarten. Wahrscheinlich ist eher das Schicksal von Duchamps Originalurinal. Es ist vielleicht nicht das Schlechteste, sich dem Tanz und dem Strom der Zeit zu überlassen, ohne festzuhalten und alles auf Gedeih und Verderb in Stein zu meißeln.

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