J. M. Coetzee: „Der Pole“

Der Pole
Ruhig, besonnen, abgeklärt, doch voller Mystizismus … SWR 2 Bestenliste Juli/August.

J. M. Coetzee hat mit 83 Jahren einen neuen Roman herausgebracht. Sein Titel lautet Der Pole. Es ist ein leises, stilles Buch, kurz und knapp. Es geht in ihm um Liebe und Tod und um eine ganz und gar säkulare Form der Erlösung. Hauptfigur des Romanes ist jedoch nicht der Pole. Es ist Beatriz, eine resolute spanische Hausfrau, die unverhofft und zu ihrem anfänglichen Leidwesen Muse und Objekt des Begehrens eines polnischen Pianisten wird:

Der Pole schrieb die Gedichte, um ihr zu sagen, dass er sie weiter geliebt hat, lange nach ihrer gemeinsamen Zeit auf Mallorca. Doch er hätte dasselbe mit einem schlichten Brief per Mail erreichen können […] weshalb also Gedichte? Warum so viele? […] Die Antwort: weil er, durch seine Gedichte, danach trachtet, von jenseits des Grabes zu ihr zu sprechen. Er möchte zu ihr sprechen, um sie werben, damit sie ihn liebt und sich in ihrem Herzen lebendig hält.

J.M. Coetzee aus: “Der Pole”

Inhalt/Plot:

Coetzees Der Pole behandelt das Thema Ehebruch, Affäre, Treulosigkeit in sechs sehr unterschiedlich langen Kapiteln. Die Ereignisse werden aus der Sicht von Beatriz erzählt, die eine sehr eigene, robuste Art und Weise besitzt, sich die Welt anzueignen. Ihre Figur erhält ein paar Eckdaten: 1967 geboren, lebt in Barcelona als treue Hausfrau eines Bänkers, hat mit ihm zwei Söhne, die mehr ihrem Vater als ihrer Mutter nacheifern, die sich nämlich hauptsächlich darum bemüht, Gutes zu tun als Status und Anerkennung zu erringen. Um ihren Status steht es also bereits zu Beginn von Der Pole nicht gut:

[Beatriz] ist intelligent, gebildet, belesen, eine gute Ehefrau und Mutter. Doch man nimmt sie nicht ernst. Auch Margarita nicht. Und auch den übrigen [wohltätigen Konzert-]Kreis nicht. Society Ladys – es ist nicht schwer, sich lustig über sie zu machen. Verspottet auch von ihnen selbst. Was für ein lächerliches Schicksal!

Margarita lädt aus Überzeugung und klein wenig Provokation einen Pianisten aus Polen ein, der Chopin weniger schmachtend und gediegen als hart und rhythmisch interpretiert, springt aber kurz vor dessen Besuch ab und überlässt Beatriz die alleinige Betreuung des Musikergastes, nämlichen Polens mit dem Namen Witold Walczykiewicz:

PR-Fotos zeigen einen Mann mit einem markanten Profil und einer weißen Haarmähne, der in den Mittelgrund starrt. Die beigefügte Biographie gibt an, dass Witold Walczykiewicz 1943 geboren wurde und sein Konzertdebüt mit vierzehn Jahren hatte. Sie führt Preise an, die er gewonnen hat, und einige seiner Aufnahmen.

Der Altersunterschied beträgt 24 Jahre. Beatriz hält nichts von der Art und Weise, wie Witold Chopin interpretiert. Wie es die Etikette verlangt, geht sie im Nachgang des Konzerts mit Witold und einem befreundeten Ehepaar essen. Die Anwesenheit des Ehepaars verhindert, dass Beatriz eindringlicher Witolds Chopin-Interpretation kritisiert, mit der sie ganz und gar nicht einverstanden ist. Im Anschluss bringt sie Witold, nachdem das Ehepaar sich verabschiedet hat, zurück in sein Hotel, woraufhin dieser sich bei ihr bedankt:

Sie kommen beim Hotel an. »Gute Nacht, gnädige Dame«, sagt der Pole. Er ergreift ihre Hand und drückt sie. »Ich danke Ihnen. Vielen Dank auch für Ihre tiefgründigen Fragen. Ich werde sie nicht vergessen.« Dann ist er fort. Sie betrachtet ihre Hand. Nachdem sie kurz unter der Riesenpranke geruht hat, wirkt sie kleiner als sonst. Doch unverletzt.

Was sich daraufhin ergibt, überrascht am allermeisten Beatriz selbst. Witold verliebt sich in sie, schickt ihr Päckchen, Briefe, E-Mails und drängt sie auf ein Treffen, als er ihretwegen ein Engagement im von Barcelona aus nahegelegenen Konservatorium Felip Pedrell annimmt. Sie treffen sich. Sie trinken ein Kaffee gemeinsam. Witold gesteht ihr seine Liebe. Beatriz reagiert empört, als Witold sie mit Beatrice aus Dante Alighieris Vita Nova vergleicht.

»Werte Dame«, sagt der Pole, »Sie erinnern sich doch an Dante Alighieri, den Dichter? Seine Beatrice schenkte ihm nie ein Wort, und er liebte sie ein Leben lang.«
Werte Dame! [denkt Beatriz]
»Und bin ich deshalb hier – um mitgeteilt zu bekommen, dass Sie vorhaben, mich Ihr Leben lang zu lieben?«

Die Begründung seitens Witolds fällt überraschend aus. Beatriz sei sein Symbol des Friedens. Sie fährt ab, ohne auf sein Angebot, ihn auf seiner Brasilientournee zu begleiten, einzugehen und erzählt ihrem Mann von dieser eigenartigen Episode. Ihr Gatte reagiert souverän, aber nicht eifersüchtig. Für ihn geht es Witold nur um Sex. Beatriz jedoch weiß, dass Sex ein Teil von Witolds Werben, aber nicht dessen Kern darstellt.

Beim Durchstreifen der Welt auf der Suche nach seinem verlorenen Etwas, ist er zufällig auf sie, Beatriz, gestoßen und hat sie zu einem Fetisch gemacht. Sie bringen mir Frieden – was für ein Unsinn! Ich bin nicht die Antwort auf das Rätsel Ihres Lebens, Señor Witold – auf Ihr oder irgendjemandes Rätsel! Das hätte sie ihm antworten sollen. Ich bin, die ich bin!

Beatriz wird ihn nicht auf die Brasilientournee begleiten, aber es kommt zu einem Treffen auf Mallorca. Sie verbringen in trauter Zweisamkeit eine Woche auf der Insel, nach welcher Beatriz Witold unmissverständlich zu verstehen gibt, dass sie keine gemeinsame Zukunft haben. Witold schreibt ihr noch, aber sie löscht die E-Mails ungelesen. Vier Jahre ziehen ins Land, dann erreicht Beatriz die Nachricht, dass Witold nach einer schweren Krankheit gestorben ist. Witolds Tochter eröffnet ihr, dass er Beatriz einige Sachen hinterlassen habe, die sie sich, so sie Interesse habe, in Polen abholen könne. Beatriz versucht einen Kurier zu organisieren, aber es will nicht gelingen. Sie muss nach Polen reisen, will sie wissen, was der Pole für sie hinterlassen hat.

Das also hat Witold W., der immer weniger berühmte Pianist, ihr hinterlassen: keine Musik, sondern eine Art Manuskript. Und hier muss er gelebt haben, als er es verfertigt hat: in dieser tristen kleinen Wohnung in diesem gesichtslosen Viertel seiner Geburtsstadt. Merkwürdig. Doch vielleicht war das seine Version einer Mönchszelle, sein Rückzugsort von der Welt.

Das Manuskript besteht aus in polnischer Sprache verfassten Gedichten, die Beatriz nun übersetzen lassen muss, um hinter ihr Geheimnis zu kommen. Coetzees Roman Der Pole endet damit, dass Beatriz Briefe an Witold verfasst, in welcher sie ihr Unverständnis erklärt und nach und nach die Gedichte durchgehend über diese mit ihm kommuniziert, ihm widerspricht und die Gefühle, die sie hegt und gehegt hat, klarstellt.

Warum hast du so unterwürfig reagiert, als ich dich aufgefordert habe fortzugehen, zurück nach Valldemossa? Warum hast du mich nicht mit Bitten bombardiert? Ich kann ohne dich nicht leben! – warum hast du diese Worte nie gesagt? Theatralik, Witold – hast du nie von Theatralik gehört? Hör dir Chopin an. Hör dir die Balladen an. Vergiss deine eigenen peniblen Interpretationen. Öffne deine Ohren zur Abwechslung für die wahren Chopin-Interpreten, die Enthusiasten, die sich an der Theatralik seiner Musik erfreuen und sich nicht davor scheuen, hin und wieder eine falsche Taste zu treffen.

Zusammenfassend ergibt sich für die sechs Kapitel: Witold und Beatriz lernen sich in Barcelona kennen (1); sie sehen sich in Girona wieder (2); sie verbringen eine Woche auf Mallorca und Beatriz beendet die Affäre (3); vier Jahre später hört sie vom Tode Witolds und reist nach Warschau (4); sie lässt Witolds Gedichte übersetzen (5) und beginnt Briefe an Witold zu verfassen (6).

Stil/Sprache/Form:

J.M. Coetzees Roman weist eine auffällige Zahlenstruktur auf. Viele kurze nummerierte Absätze bilden ein Kapitel, die ebenfalls nummeriert sind. Der Handlungsvorgang liest sich daher unterbrochen, beinahe wie ein Gedicht, eine Ballade mit Strophen, Versen und Einschüben. Massive, über viele Seiten sich hinziehende Textblöcke gibt es gar nicht. Die Erzählweise erscheint gelockert, lose, sehr leicht und gleitet über vieles hinweg. Coetzee konzentriert sich auf Skizzen, schweift nie ab und lässt nur die allerwesentlichsten Beschreibungen einfließen:

Die Jungen mit den Fahrrädern sind verschwunden, zusammen mit dem Hund. Sie dreht eine Runde durch das Viertel [in welchem Witold bis zu seinem Tod gewohnt hat]. Es gibt nichts Sehenswertes, nichts, was sie nicht auch zu Hause finden würde. In einem winzigen Lädchen (Supermarket steht auf dem Schild) kauft sie eine Tüte getrocknete Aprikosen, eine Tüte Kekse, eine Flasche Wasser. Sie kehrt zur Wohnung zurück und holt im letzten Tageslicht einen Wollpullover und eine Cordhose aus den Kartons. Ihre Nachtwäsche. Das Wasser ist nicht abgestellt, sie kann sich waschen.

In schnellen Skizzen huscht das personale Erzählen über die Szenen hinweg. Lange, ausgiebige Passagen voller Details werden vermieden. Die Prosa Coetzees erweist sich hier als hochverdichtet und monadenhaft. Sie nimmt den mehrfach angesprochenen Stil Dantes aus Vita Nova auf, in der Dante Beatrice besingt und ihr, seiner Kindheits- und Jugendliebe, ein Denkmal setzt. In 42 Kapiteln erzählt Dante von dieser Liebe, wie er sie, beide neun Jahre alt, das erste Mal sah und sie tragisch mit achtzehn Jahren verstarb. Dante verarbeitet seine Liebe wie seine Trauer mit Sonetten, Kanzonen, aber auch mit Balladen und Reflexionen:

Da es aber manchem als Fabulieren erscheinen mag, wenn ich bei den Leidenschaften und Handlungen einer solchen Jugendzeit verweile, will ich damit aufhören; ich übergehe also viele Dinge, die man dem Urbild, aus dem sie hervorgehen, entnehmen könnte, und will zu jenen Worten kommen, die unter höheren Kapitelnummern in mein Gedächtnis geschrieben sind.

Dante Alighieri aus: “Vita Nova”

In den höheren Kapitelnummern bespricht Dante den tragischen Tod, seinen Entschluss, künftig daran zu arbeiten, Beatrices Schönheit und Edelmut angemessen in Worte zu kleiden, was ihn in etwa zwanzig Jahre später zum Verfassen der Göttlichen Komödie motiviert. Dante reflektiert hier aber auch das Übergehen von vielen Details, um die zentrale Wirkung seiner Schrift nicht zu gefährden. Gleichermaßen verfährt Coetzee in Der Pole. Alles läuft auf die kommunikative, innige Verbindung zwischen Witold und Beatriz hinaus:

»Wir haben unsere Erinnerung. Für die Erinnerung gibt es keine Zeit. Ich werde dich in Erinnerung behalten. Und du, vielleicht wirst auch du dich an mich erinnern.«
»Natürlich werde ich mich an dich erinnern, du wunderlicher Mann.« Sie äußert das ohne Vorbedacht, hört die Worte überraschend in ihrem Inneren widerhallen. Was sagt sie da? Wie kann sie versprechen, sich an ihn zu erinnern, wenn sie jeden Grund zur Annahme hat, dass die Episode des polnischen Musikers, der ihr in Sóller einen Besuch abstattete, blass und blässer werden wird, bis sie auf ihrem Sterbebett weniger als ein Staubkörnchen ist?

Mit vielen Auslassungen, Andeutungen, Zeitsprüngen zeichnet Coetzee in Der Pole nach, wie kleine, scheinbar unbedeutende Ereignisse in den Lebensmittelpunkt rücken. Witold wird zentral für Beatriz, der ihr 84 Gedichte hinterlässt. Wie Dante betreibt Coetzee Zahlenmystik. 84, das sind 2 mal 42, also zweimal die Kapitelzahl von Dantes Vita Nova, die das ineinander verschlungene Verhältnis von Witold zu Dantes Beatrice und seine Beatriz darstellt. 42 rückwärts gelesen ist 24, genau der Jahresabstand zwischen Beatriz und Witold, und die Gesamtzahl der einzelnen Unterabschnitte aus Coetzees Der Pole beträgt 126, was 3 mal 42 ist, also nun eine Vita Nova-Länge auch für Beatriz zu Witold beinhaltet, die ihm am Ende Briefe ins Jenseits schreibt:

Ich wäre nicht zu dir [beim Vernehmen deines baldigen Ablebens] nach Warschau gekommen, so wie ich nicht mit dir nach Brasilien fortlaufen wollte. Ich mochte dich (lass mich dieses Wort benutzen), doch nicht auf so maßlose Weise, dass ich für dich alles aufgegeben hätte. Du warst in mich verliebt – daran zweifle ich nicht –, und Liebe ist ihrer Natur nach maßlos. Was jedoch mich betrifft, so waren meine Gefühle dunkler, komplexer.

In gedichtähnlichen Stanzen, in Andeutungen, in Sprüngen und Ungewissheiten setzt sich so langsam das brüchige Bild eines kommunikativen Verhältnisses zusammen, das die Zeiten und selbst den Tod eines der gesprächspartner überdauert.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

J.M. Coetzee schreibt in Der Pole nicht einfach über Tod wie Irvin D. und Marilyn Yalom in Unzertrennlich. Sein Roman handelt auch nicht von einem sich nach Jahrzehnten einstellenden Pragmatismus in der Ehe, in der das Sich-Betrügen ein weites Feld zu werden droht, wie in Julia Schochs Das Liebespaar des Jahrhunderts. Sein Roman besitzt keine Resignation wie Martin Walser in Das Traumbuch und keine Trauer wie Helga Schubert in Der heutige Tag. In all seiner Kürze belebt Coetzee in Der Pole den Glauben und die Hoffnung auf eine Liebe, die dem Dasein einen dynamischen Sinn verleiht. Niklas Luhmann beschreibt dies in Liebe als Passion wie folgt:

Die Interpénétration [ist keine Verschmelzung,] bringt nicht verschiedene Systeme zur Einheit. Sie ist keine unio mystica. […] Man kann in Liebe nur so handeln, daß man mit genau diesem Erleben des anderen weiterleben kann. Handlungen müssen in die Erlebniswelt eines anderen eingefügt und aus ihr heraus reproduziert werden; und sie dürfen doch ihre Freiheit, ihre Selbstgewähltheit, ihren Ausdruckswert für Dauerdispositionen dessen, der handelt, damit nicht verlieren.

Niklas Luhmann aus: “Liebe als Passion”

Beatriz und Witold finden nicht im klassischen Sinne zueinander. Sie leben nicht fortan glücklich bis an ihr Lebensende. Etwas anderes, Mystisches, passiert. Sie kreieren ein kommunikatives Verhältnis, ein System, eine Selbst- und Fremderfahrung, die es sogar erlaubt, über den Tod hinaus miteinander in Verbindung zu bleiben. Witold hinterlässt Beatriz Gedichte auf Polnisch, die, wie er nur allzu gut weiß, von Beatriz nur in Übersetzung gelesen werden können. Sie bleiben geheimnisvoll, vor dem direkten Zugriff geschützt, und Beatriz schreibt nun Briefe auf Spanisch an Witold, in der sie sich nach und nach an seinem Wesen, an all dem, was sie über ihn weiß, abarbeitet, innig und intensiv:

Ich finde, es ist ein schwieriges Gedicht [Gedicht 2] – zu schwierig für mich. Ich hoffe, die Übersetzung wird ihm gerecht, du wirst das am besten beurteilen können. Die Übersetzerin war keine Expertin. La modesta [die Bescheidene]. Vielen Dank dafür. Vielen Dank für deine hohe Meinung von mir. Ich werde versuchen, ihr gerecht zu werden. Aber es wird spät. Gute Nacht, mein Prinz – Zeit fürs Bett. Schlaf gut. Träum süß.
Deine Beatriz
PS: Ich werde wieder schreiben.

Am Ende erkennt Beatriz, das sie Witold liebt, aber auf ihre und sehr eigene Weise, die die Zeit und seinen Tod überdauert. So ist Beatriz Witolds Symbol des Friedens am Ende seines Lebens gewesen. Er vermochte sich vom Leben durch sie zu verabschieden, in der Hoffnung und im Glück im Wissen von dieser Möglichkeit, dass das, was er hinterlässt, fortgesetzt wird. Und Beatriz, sie besitzt diese Gedichte und schreibt und bearbeitet sie fort, in Ruhe und Frieden und in der Gewissheit, wie es nur menschenmöglich ist, geliebt worden zu sein, als eine für Witold Einzige.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Nächste Woche am 02. August 2023 auf Kommunikatives Lesen
bespreche ich Robert Seethalers neuesten Roman Das Café ohne Namen.

Eine Kurzversion der Besprechung und noch andere aktuelle Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier.

16 Antworten auf „J. M. Coetzee: „Der Pole““

  1. Coetzee ist mir ein Begriff, aber bisher habe ich noch keinen Grund gefunden, ihn lesen zu wollen. Das hat sich mit deiner Besprechung gerade geändert. Vielen Dank dafür, ich bin ausgesprochen angetan und neugierig.
    Morgenkaffeegrüße ⛅🌳🌼☕🍪

    1. Coetzee schreibt typischerweise wie “Schande” und “Warten auf die Barbaren” sehr düstere Romane über Männer und Wahnvorstellungen. “Der Pole” besitzt als Hauptfigur diese widerborstige Spanierin. Es ist ein sehr gutes Spiel mit Dantes “Vita Nova”, das ich anlässlich zu “Der Pole” wiedergelesen habe. Ich arbeite gerade innerlich an einer Besprechung 🙂 Ich kann den neuen Cotzee wirklich empfehlen. Ein schönes, rührendes, lebensbejahendes Buch! Interessiert mich sehr, wie du es findest! Hast du Dörten Hansens “Zur See” gelesen? Feierabendgrüße!!!

      1. Ich habe es bei den Bücherhallen vorbestellt, es wird vermutlich zwei, drei Wochen dauern, bis es kommt, dann kann ich erst was sagen 🤔
        Zur See: Habe ich, war mein letztjähriges Weihnachtsbuch. Du hattest mir vorausgesagt, dass es mir gefallen würde, und du hattest recht: Mit diesem lakonischen, präzisen Stil ist sie mir sehr nah. Ich habe “Mittagsstunde” daraufhin nachgeschoben und fühlte mich wie eine kopfnickende Alte: Es ist so, wie es ist.

      2. Ach, das freut mich, so habe ich die Hansen auch gelesen. Dann schiebe ich Mittagsstunde auch mal bei Gelegenheit nach 😀 Ist doch schön. Ich denke hier und da gerne an diese Insel und Hansens Mikrokosmos zurück, an den gestrandeten Wal und diese seltsamen lebensfrohen Hilflosigkeiten!

      3. Geht mir auch so. Bei Dörte Hansen habe ich das Gefühl, dass sie über etwas schreibt, was sie kennt – und liebt, was wichtig ist. Es ist ja nicht, dass es etwas so Besonderes wäre, was sie beschreibt, es ist das “Wie”, der Sound (des Lebens), wie ich es gern nenne. “Mittagsstunde” beschreibt besagtes Leben auf einem Dorf – klar, Lokalkolorit, aber kennt man eins, kennt man alle, denke ich. Ich wüsste zu gern, wie jemand, der*die zum Beispiel in den Bergen aufgewachsen ist, dieses Buch empfindet.

  2. Eine feine Besprechung, die mich neugierig macht und zugleich ein hohles Gefühl hinterlässt. Was ist Liebe? Ist sie ein Konstrukt unseres einsamen Ego, das sich hinausspinnt in die Welt auf der Suche nach geeigneten Liebesobjekten? “Beim Durchstreifen der Welt auf der Suche nach seinem verlorenen Etwas, ist er zufällig auf sie, Beatriz, gestoßen und hat sie zu einem Fetisch gemacht.” Diese Erstreaktion von Beatriz zeugt von Klarsicht.

    Ich konnte nicht umhin, an Z, eine 52jährige Frau zu denken, die mich manchmal aufsucht. Auch auf die Gefahr hin, damit daneben zu liegen (ich kenne ja nur deine Besprechung, nicht den Roman), möchte ich kurz davon erzählen. Der Witwer einer Freundin hat Z, nach dem Tod seiner Frau, zu … ja, so sah ich es: zu seinem Fetisch gemacht, das er anzubeten und zu lieben entschlossen war, um ein “verlorenes Etwas” zu ersetzen, das zuvor schon seine Frau ersetzt hatte. Und als Z abreiste, hat er sich erhängt. Liebte er sie? Liebte sie ihn? Jetzt wo er tot ist, auf diese dramatische Weise Abschied nahm, kommt sie nicht von ihm los. Eine Mischung aus Schuldgefühl und Faszination hält sie im Netz gefangen, das er ausgeworfen hat und Liebe nannte.
    In dem Roman scheint mir eine psychologisch ähnliche, wenngleich meisterlich als kommunikatives Kunstwerk verkleidete Form der Liebe vorzuliegen. Eine Liebe, die den anderen seiner tatsächlichen Eigenschaften entkleidet und an seine Stelle die Projektion des eigenen leidenden Ich setzt. Und warum leidet das Ich? Weil es durch ein Du erkannt werden möchte. Doch Beatriz wird nicht erkannt – sie wird durch Beatrice überschrieben. Ein Palimpsest. Und so erscheint mir, als Lesender, diese Liebe gespenstisch und gefährlich zugleich, ein süßes Gift, denn sie saugt die Lebenskräfte aus, die den wirklichen Beziehungen dienen sollten.

    Vielleicht ist es auch ganz anders. Jedenfalls bin ich neugierig geworden. Bemerkenswert finde ich, dass der Pianist Chopin auf eine “penible” Art spielt, was die “robuste” Beatriz stört, für die die “wahren Chopin-Interpreten Enthusiasten (sind), die sich an der Theatralik seiner Musik erfreuen”. Warum spielt dieser Pianist überhaupt Chopin? Und ist Beatriz in die Theatralik verliebt, scheut aber die Liebe, die “ihrer Natur nach maßlos” ist? Was weiß sie von dieser “maßlosen Liebe” überhaupt? Hat sie davon in Romanen gelesen oder sie beim Anhören “wahrer Chopin-Interpreten” leise empfunden?

    1. Liebe Gerda,

      Danke fürs Kommentieren und Vorbeischauen. Du triffst ins Herz der Dinge – Liebe als Götze, Liebe als Fetisch. Coetzee spricht sich hier aber sehr wohl und aus tiefster Überzeugung für ein kommunikatives Verhältnis aus, eines, das in Intimität erlebt wird und sich weiterentwickelt. Das hat mich berührt an Coetzees Komposition. Der Pole benutzt Beatriz nicht, die zurecht denkt, sie wäre einfach nur ein Platzhalter für einen erlittenen Verlust, wie du es richtig beschreibt und wie es leider sehr oft vorkommt, dass Menschen sich gegenseitig als Repräsentanten für etwas benutzen, ohne den anderen Raum zu Entfaltung zu geben. Der Pole will Beatriz kennenlernen, ihr nahe sein, mit ihr über die Welt sprechen, sich mit ihr austauschen, um die Welt intensiver zu erfahren – etwa wie es Luhmann in “Liebe als Passion” ausdrückt. Was dann passiert, hat ein säkulares Transzendentes, ein Übereinander-Nachdenken, das beglückt, vertieft, empfindsamer werden lässt. So lese ich es.

      Deine Chopin-Betrachtungen regen mich zum Nachdenken an. Ich habe nämlich den Roman mehr aus der Handlungsebene als aus dem Setting heraus interpretiert. Du bringst hier eine gute Dichotomie zur Sprache – denn der Pole hält sich in der Kunst zurück, um im Leben jeden Augenblick zu feiern, indessen Beatriz die Kunst das Leben feiern lässt, während sie im Leben selbst zurücksteckt. Ja, aus dieser Blickrichtung ergänzen sie sich gut und können sich gegenseitig aus der Sackgasse verhelfen. Der Ansatz gefällt mir. Er steht auch nicht in Widerspruch zu einem gelungenen kommunikativen Verhältnis.

      Die Geschichte, die du erzählt hast, in kurzen Abrissen, hat mich schockiert. Ich habe nie verstanden, was daran Liebe sein soll, sich für jemanden umzubringen. Den Werther habe ich nie gelesen. Ich versprach mir davon nicht viel.

      Herzliche Grüße!

      1. Danke für deinen zustimmenden Kommentar. Zur erzählten Geschichte: Nein, der Mann hat sich sicher nicht “aus Liebe” umgebracht, sondern aus Verzweiflung, die nur sehr oberflächlich mit der Freundin seiner Frau (Z) und auch nicht mit seiner verstorbenen Frau, sondern mit ihm selbst, seiner eigenen Bodenlosigkeit in Zusammenhang stand. Als die Frauen aus seinem Leben verschwanden, brach er zusammen. Für Z hat sich aber durch den Selbstmord etwas lebensgeschichtlich Bedeutsames ereignet.. Die “kommunikativen Regeln”, denen sie zu seinen Lebzeiten folgte, passen nicht mehr, eine neue Form des Dialogs zwischen der Lebenden und dem Gestorbenen muss sich herausbilden, durch den sie Klarheit über seine und vor allem ihre eigenen Motive gewinnt. Im von dir besprochenen Roman wird ein solcher Dialog auf eine höchst kunstvolle Weise entwickelt. Das ist es eigentlich, warum mir diese Geschichte in den Sinn kam.

  3. Aktuell lese ich leider wirklich wenig, aber deine Besprechung war total interessant und hat Spaß gemacht, danke dafür. 🙂 Ich mag vor allem den Punkt mit der Zahlenmystik.

    1. Ich habe auch Zeiten, in denen ich mal mehr, mal weniger lese. Danke für deine netten Worte!! Mich freut es, wenn ich etwas von der Lesefreude weitergeben kann, die mir Coetzee bereitet hat. Ein tieforange, goldenes kleines Buch voller Hoffnung. Der Punkt mit der Zahlenmystik drängte sich wegen Dante auf, der sehr auf Zahlenmystik wert legte, also forschte etwas nach, inwieweit Coetzee da nacheiferte. Witzigerweise erschien die Struktur dann von ganz von selbst. Vielleicht arbeite ich mal etwas Dantes Zahlenmystik durch, könnte ja erkenntnisreich sein. Viele Grüße!!

  4. Über eine lange Strecke des Lesens hier habe ich gedacht, dies sei die erste deiner Rezensionen ohne Querverweise (die dann im abschließenden Feuerwerk noch folgten).
    Das lässt mich über die besondere Qualität dieses Buches nachdenken: ist es sich selbst so sehr genug, dass es auch unser Lese-Erleben auf sich selbst zurückwirft? Und uns in die existentielle Frage stürzt, was denn für uns Liebe ist. Wie stark Liebe ein auf den Liebenden/ die Liebende rückbezügliches Konzept ist, in dem wir nur die auf uns gerichtete Liebe der Anderen lieben? Woher aber käme dann innerhalb des Systems die primäre Liebe des Gegenübers?
    Wie bewegend schön und zugleich sachlich kühl ein Buch solche Abgründe öffnen kann … und eine gelesene Lese-Erfahrung dort hineinreißen.

    1. Es ist ein sehr reduziertes, aber weit über sich hinaustragendes Büchlein, das Coetzee da geschrieben hat. Es hat mich auf vielerlei Weise berührt. Wenige Texte, die ich kenne, sind so austariert und wohlkomponiert, und zwar auf einen Effekt, der sich als solcher gar nicht “spoilern” lässt, er trägt, er weitet, er spannt weit die Sinne auf. Was mit Beatriz passiert, ist ein Zauber, der Zauber von Aufmerksamkeit, von Deutlichkeit, von Wunsch danach, verstanden zu werden. Ich mochte das. Ich mochte auch, dass es bis zum Ende dauert, bis sie sich öffnet, nach all den Entbehrungen in ihrem Leben, dass sie wartet, aber erkennt, was ihr geschenkt und geboten worden ist. Es ist hat auf diese Weise seine ganz eigene Magie. Ich werde Luhmanns Passion-Buch und Dantes Vita Nova noch einmal konsultieren, vielleicht um dieses Wunder etwas weiter zu ummanteln. Schön, wie du das formulierst. Danke für deine Assoziationen!!!

  5. Ich wollte den Artikel mit einem Like verschönern, aber das scheint nicht zu klappen, weshalb ich das hier schriftlich nachhole.
    Was Luhmann schreibt, verstehe ich übrigens nicht – aber ich schätze Cotzee als Autor von “Schande”.

    1. Vielen Dank! Ich schätze “Schande” auch sehr. Luhmann sagt bloß, dass die moderne Konzeption von Liebe nicht in identischer Verschmelzung liegt, sondern in einem dynamischen Miteinander des Mal-Einigen, Mal-Verschiedenen. Viele Grüße!

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