Anne Rabe: „Die Möglichkeit von Glück“

Die Möglichkeit von Glück
Flucht vor der eigenen Vergangenheit … SWR Bestenliste Juni

Alexander Kluge schreibt keine herkömmlichen Texte. Bücher wie Lernprozesse mit tödlichem Ausgang oder Lebensläufe – Anwesenheitsliste für eine Beerdigung erweitern die Vorstellung von Literatur ins Unabsehbare. Was jedoch gleich auffällt, Kluge nennt diese seltsamen Sprachobjekte nicht „Roman“. Sie besitzen keine auf dem Buchdeckel vorzeichneten Erklärungen. Sie fallen mit der Tür ins Haus und wabern fröhlich zwischen Geschichte und Eigensinn als Theoriebrocken und In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod als Filmtorso hin und her und beglücken und irritieren fast zu gleichen Anteilen ihr Publikum. Anne Rabe, ihres Zeichens ebenfalls Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin, schreibt ähnlich, mit dem kleinen Unterschied, dass Die Möglichkeit von Glück laut Verlag und Autorin „Roman“ sein soll.

Frau S. von der Stasi-Unterlagenbehörde hat gesagt, es gebe keine Akten. Deckel drauf und fertig. Mein Großvater [Paul], der Held meiner Kindheit, würde einer bleiben. Was treibt mich eigentlich an? Ich komme mir schäbig vor. Wie ein Praktikant beim SPIEGEL, der Anfang der 90er auf der Suche nach der Geschichte ist, die ihm zum Durchbruch verhelfen könnte.

Anne Rabe aus: “Die Möglichkeit von Glück”
„Anne Rabe: „Die Möglichkeit von Glück““ weiterlesen

Sebastian Hotz: „Mindset“

Mindset
“Die Welle” fürs 21. Jahrhundert? … Spiegel Belletristik-Bestseller (17/2023)

Eine der bekanntesten Schullektüren in Bezug auf die Wirkung und Mechanismen totalitärer Strukturen heißt Die Welle und wurde auf Basis eines Drehbuches von Morton Rhue alias Todd Strasser verfasst. Der Roman erschien 1981 und in der deutschen Übersetzung von Hans-Georg Noack 1984. Sebastian Hotz, Podcastproduzent und Satiriker, hat nun einen Roman geschrieben, Mindset, der den Plot und die Moral der Geschichte von Rhues Text ins 21. Jahrhundert zu bringen versucht:

Ich bin hier, weil ich mit GENESIS EGO ein Programm konzipiert habe, mit dem mein Erfolg eurer werden kann. Alles, was ihr dafür braucht, ist …«
»Mindset … Disziplin … Ego …«
Maximilian hätte es besser gefallen, wenn die Seminarteilnehmer aufgesprungen wären und ihm die drei Worte frenetisch entgegengebrüllt hätten, einzig die Stimme des Neuen [Mirko] lässt aufrichtige Begeisterung erkennen. Enttäuschend. Aber der Tag ist ja noch jung.

Sebastian Hotz aus: “Mindset”
„Sebastian Hotz: „Mindset““ weiterlesen

Moritz Baßler: „Populärer Realismus“

Populärer Realismus
Pop gegen Populismus …

Interpretationsmodelle (4): Alle wissen, dass sich über Geschmack trefflich streiten lässt, ob als stehende Wendung in Latein oder als Lied „Jede Jeck is anders“, was dem einen seine Eul‘ ist dem anderen seine Nachtigall. Literaturkritik leistet ihren eigenen Beitrag und verteilt gerne Prädikate und Preise in der kaum zu übersehbaren Flut von Neuerscheinungen. Wie interesseleitend und hilfreich bei der Lektüreauswahl diese dann auch sind, lässt sich schwerlich abschätzen und nur im Einzelfalle überprüfen. Literaturwissenschaft geht auch hier und da einen anderen Weg. Sie versucht dann zusammenfassende Oberbegriffe für Literaturfelder zu finden, um dem Chaos der Neuerscheinungen ein wenig Einhalt gebieten zu können. Moritz Baßler schlägt in Populärer Realismus seinem neuen und gleichnamigen Buch einen solchen vor:

Der Populäre Realismus ist ein Erzählen nach den audiovisuellen und heute auch nach den digitalen und sozialen Medien.

Moritz Baßler aus: “Populärer Realismus”
„Moritz Baßler: „Populärer Realismus““ weiterlesen

Orhan Pamuk: „Die Nächte der Pest“

Ein Roman, der keiner sein will … Spiegel Bestseller 14/2022

Der neue Roman von Orhan Pamuk, Literaturnobelpreisträger aus dem Jahr 2006, bewegt sich in einem vieldiskutierten und mehrdimensionalen Spannungsfeld: Er thematisiert wie Emine Sevgi Özdamar in Ein von Schatten begrenzter Raum das Zusammenleben von Griechen und Türken auf den Inseln der Ägäis. Er geht den Tiefen und Untiefen einer Pandemie nach und gleicht in vielerlei Hinsicht Steffen Kopetzkys Monschau. Er untersucht außerdem die Liebe und die Probleme, die sich in der Fremde ergeben, wie Leïla Slimani in Das Land der Anderen. All dies und mehr, nämlich auch Reflexionen über Geschichtsschreibung als solche, verhandelt Die Nächte der Pest mit dem Nacherzählen der Ereignisse auf Minger im Jahre 1901, einer fiktiven Insel im Mittelmeer, die Pakize Sultan, Nichte des damals amtierenden Sultans des Osmanischen Reiches Abdülhamid II., und ihr Ehemann und Quarantänearzt Doktor Nuri besuchen:

Noch vor der Gründung von Arkaz sei vor der Bucht ein Schiff auf einen Felsen aufgelaufen, und die Menschen, die sich ans Ufer gerettet hätten, seien die Vorfahren der heutigen Mingerer gewesen. Die Insel habe ihnen sehr gefallen, mit ihren Felsen, Quellen, Wäldern und dem Meer, und sie hätten sie sich als neue Heimat auserkoren. Damals habe es in den Flüssen noch grüne Äschen und rot gepunktete Krebse gegeben, in den Wäldern seien farbene Störche und blaue Schwalben geflogen, die im Sommer nach Europa zogen.

Orhan Pamuk aus: „Die Nächte der Pest“
„Orhan Pamuk: „Die Nächte der Pest““ weiterlesen

Emine Sevgi Özdamar: “Ein von Schatten begrenzter Raum”

ein sprachlich, eindringliches Zeitdokument … Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022

Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse (3/5): Ralph Waldo Emerson schrieb im Frühjahr 1841 in sein Tagebuch: „An die Stelle von Romanen werden schließlich Tagebücher oder Autobiographien treten […]“ Seine Prognose ist in dieser Alleingültigkeit bislang nicht aufgegangen, auch wenn sich autobiographische Romane einer großen Beliebtheit erfreuen wie beispielsweise zuletzt mit Hast du uns endlich gefunden von Edgar Selge, der ein eindringliches Porträt seines musizierenden und die Familie tyrannisierenden Vaters entworfen hat, oder Claudia Durastantis Die Fremde, die ihren Werdegang als Musikkritikerin und Autorin und die Liebe und Konflikte mit und zwischen ihren taubstummen Eltern beschrieben hat. Mit Ein von Schatten begrenzter Raum legt Emine Sevgi Özdamar ebenfalls einen autobiographischen Roman vor. Özdamar hat bereits viele Preise für ihre Romane und Theaterstücke zugesprochen bekommen (u.a. den Ingeborg-Bachmann-Preis 1991, den Kleist-Preis 2004 oder den Fontane-Preis 2009) und für ihren neuesten Roman bereits den Bayrischen Buchpreis für das Jahr 2021. Es handelt sich um ein eindringliches Zeitdokument der sprachlich besonderen Art:

„Emine Sevgi Özdamar: “Ein von Schatten begrenzter Raum”“ weiterlesen

Louise Glück: „Winterrezepte aus dem Kollektiv“

Rezension. Louise Glück: "Winterrezepte aus dem Kollektiv"
Weder zu laut noch zu leise, eine Poesie des Zwischenraumes … Nobelpreis für Literatur 2020.

Der Gedichtband von Louise Glück: „Winterrezepte aus dem Kollektiv“, Nobelpreisträgerin für Literatur aus dem Jahre 2020, erzählt von einer fernöstlichen Ding- und Sprachsanftheit. Die Gedichte werden im Zusammenhang mit dem „Tao-Tê-King“ von Laotse, mit Karl Kraus’ Text „Die Sprache“ und Bertolt Brechts „Svendborger Gedichte“ gelesen und besprochen. Weder schweigen noch schreien, sondern sagen und hören scheint die poetologische Devise von Glück zu sein.  

„Louise Glück: „Winterrezepte aus dem Kollektiv““ weiterlesen

Florian Illies: “Liebe in Zeiten des Hasses”

Kulturjournalistisches Futurum II einer unverbindlichen Geschichtsschreibung … Spiegel Sachbuch-Bestseller 42/2021

Sprachlich versierte Zuhörer und Zuhörerinnen können im Rheinland eine neue Erzählzeit und Erzählform erlauschen, das narrative Futurum II des Rheinländers, der beispielsweise „dort gewesen sein wird, ohne sich etwas dabei gedacht zu haben, um es sich dort dennoch ordentlich hat gutgehen lassen können.“ Florian Illies gelingt ein ähnliches Kunststück, ein Zwischen-den-Zeiten-Journalismus, der über Vergangenes redet, als wäre es noch nicht eingetreten, und so Geschichten erzählt, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Ein Niemandsland zwischen Feuilleton und Literatur, schwerelos zwischen Vergangenheit und Fiktion, ein Hauch von Dokumentation, die sich den Spaß am Fabulieren dennoch nicht nehmen lassen möchte, und nicht nehmen lassen kann, denn „Liebe in Zeiten des Hasses“ ist keine Geschichtsschreibung und keine Literatur und auch kein Bericht. Es ist eine Loseblattsammlung von Zitaten, die von einer mehr oder weniger hilflosen Begleitstimme zusammengehalten wird.

„Florian Illies: “Liebe in Zeiten des Hasses”“ weiterlesen