
Terézia Moras Trilogie um den IT-Spezialisten Darius Kopp besitzt als Mittelteil den Roman Das Ungeheuer, der 2013 erschien und mit dem sie im selben Jahr den Deutschen Buchpreis gewann. 2018 folgte der Georg-Büchner-Preis. Mit Das Ungeheuer legt sie eine sehr ungewöhnliche Prosaform vor. Das Buch zeichnet sich durch einen fast mittig sitzenden, auf jeder Seite vorhandenen schwarzen Strich aus, der den Erzähltext rundum Darius und die Tagebucheinträge seiner Ehefrau Flora trennt. Das zentrale Ereignis des Romanes stellt Floras Selbstmord dar. Etwa ein Jahr nach diesem beginnt das Buch mit Darius als Erzählinstanz:
Später legte er immer diese zwei Sachen übereinander: das Riesenrad im ohrenbetäubenden Lärm des Maidkastell’schen Rummels und die Stille in jenen zwei Stunden, die er im Auto im Wald saß, während sie wahrscheinlich schon tot war. Das Riesenrad dreht sich in leiernder Musik, die Liebe meines Lebens hängt im Wald von einem Baum, ich parke nicht weit davon und langweile mich. Das stell dir vor und halte es aus. Sie starb bei strahlendem Sonnenschein, hing einen Tag im Regen und einen halben im kalten Wind. Sie wurde vom Förster gefunden, drei Tage vor ihrem 38. Geburtstag.
Terézia Mora aus: „Das Ungeheuer“
Inhalt/Plot:
Bei Das Ungeheuer handelt es sich nicht um einen explizit linear erzählten Roman. Mehr oder weniger vier Erzählzeiten und zwei Erzählperspektiven durchmischen sich. Jeweils Floras und Darius Erzählgegenwart und ihre jeweiligen Erinnerungen. Floras Erzählzeit befindet sich in der Vergangenheit und ihre Erinnerungen im Plusquamperfekt. Darius in der Erzählgegenwart und seine Erinnerung in Floras Erzählzeit. Als Erzählrahmen dient Darius‘ Reise und Flucht und Suche nach einem neuen, durch den Selbstmord Floras erzwungenes Gleichgewicht:
War der Ort, an dem ich mich am sichersten fühlte, nicht immer schon mein Auto? Der Mann, der beschloss, in einem Auto zu leben. Seitdem bin ich glücklich, berichtete Dario de la Mancha. Meine Freunde kommen zu mir, und wir unterhalten uns durch das Fenster. Es kommen auch Fremde, denn ich bin bekannt geworden. Dario de la Mancha fährt selten irgendwohin, er steht mit seinem Auto meist am Rande eines Parks seiner Heimatgemeinde.
Der Rahmen seiner Donquichotterie beginnt in Berlin, wo ihn seine Freunde, insbesondere ein gewisser Juri, aus der Lethargie reißen und ihn zwingen, seine Wohnung zu verlassen. Er muss Floras Asche in einer Urne abholen und diese bestatten. Es wird nicht richtig klar, wo die Urne sich befindet, in welchem Wald sich Flora erhängt hat. Solche Details spielen keine Rolle. Darius entflieht Berlin, setzt sich in sein Auto, fährt über die Slowakei nach Österreich, wo er beginnt, Floras Aufzeichnungen durchzulesen, die diese auf Ungarisch auf ihrem Laptop hinterlassen hat und die Darius von einer Studentin übersetzen lassen musste. All dies zeigt, dass zwischen Floras Selbstmord und Darius‘ Reisebeginn etwa ein Jahr ins Land gezogen ist, in welchem sich Darius nicht aus der Wohnung herausbegab, sich nur von Pizza ernährte und geradezu in Selbstmitleid ertrank. Juri resümiert:
OK, sagte Juri und behielt Kopp fest im Auge, ich sehe, du hast die Strategie geändert. Obwohl mir die alte — fressen, saufen, kaufen, grinsen — immer das bei weitem Sympathischste an dir war, aber Schwamm drüber. Du hast also beschlossen, ein Penner zu werden. Nur nach einem Anlass gesucht, um alles fallen lassen zu können. Solche Geschichten gibt’s, zuhauf. Ingenieur gewesen, Job verloren, Frau verloren, auf der Straße gelandet, und das nur wegen der Schwäche der Seele.
Hals über Kopf bricht Darius alle Brücken ab und beginnt ein Leben auf der Straße, rekapituliert nach und nach seine Beziehung zu Flora, geht seine und ihre Erinnerungen durch und versucht, einen neuen Lebenssinn und -mittelpunkt zu finden, den er durch den Freitod seiner Frau, die ihm keine Geborgenheit, Sex und Selbstsicherheit mehr spenden kann, vollständig verloren hat. Darius nämlich fühlt sich nicht in der Lage, ohne eine Partnerin durchs Leben zu gehen, und so sucht er zwischen Berlin und Tiflis, Jerewan und Athen, zwischen Budapest und Istanbul, Tirana und Dubrovnik im Grunde nur eines, eine neue, Flora ersetzende Partnerin.
Kopp knickte um, fiel beinahe hin, rutschte über Steine, stieß sich ein Knie und eine Hand. Siehst du, was passiert, wenn einer seine Pflichten nicht tut? Die Frau hat das Zuhause zu schaffen! Die Frau macht das Nest, in das wir alle zurückkehren von der täglichen Jagd! Siehst du, was passiert, wenn man das Nest nicht täglich flickt? I hate you so much right now! Zeig dich gefälligst!
Auf Darius’ Roadtrip ereignen sich viele Dinge, die stets wieder Anlass geben, sich an das Miteinander und späterhin Nebeneinander mit Flora zu erinnern. Plottechnisch hält die Urne mit Floras Asche die Geschichte im Gang. Er weiß nicht wohin mit ihr und gerät in allerlei Schwierigkeiten, erstens, sie überhaupt zu bekommen (er bezahlt eine Unsumme, um sie nach Budapest schicken zu lassen), und zweitens muss er an den jeweiligen Ländergrenzen und bei Polizeikontrollen erklären, weshalb er die Asche seiner toten Frau im Kofferraum seines Autos durch ganz Südosteuropa kutschiert. Als zweiter Dreh- und Angelpunkt dient Darius‘ Suche nach einer neuen Lebenspartnerin, denn sein Blick schweift ununterbrochen über die Frauen, Kellnerinnen, über Passantinnen und Urlauberinnen, in denen er zu ersetzen sucht, was er durch Floras Tod verloren hat:
Unter einer Markise stand eine Kellnerin, sah Kopp interessiert zu, während dieser über den Holzplankenpfad balancierte. Als er nah bei ihr war, sah er sie auch, er lächelte, sie lächelte ebenfalls. Meine Frau war auch öfter Kellnerin. Sie sind sogar in ihrem Alter.
Über Floras Erlebnisse wird fast nur stichpunktartig berichtet. Das Puzzle setzt sich nicht zusammen. Sie bleibt ein Geheimnis. Sie hat ein prekäres Leben geführt, als Praktikantin beim Film, als Studentin der Geisteswissenschaften, als Aushilfe in einer Bäckerei und versuchsweise als Übersetzerin aus dem Ungarischen, dann als Ehefrau von Darius, der sich stets mehr um seine Karriere gekümmert hat, als um ein gemeinsames Leben mit ihr. Nach mehreren Nervenzusammenbrüchen und depressiven Schüben flieht sie aus der Großstadt in den Wald und lebt in aller Abgeschiedenheit, mehr oder weniger innerhalb einer Kommune oder Sekte, und verliert langsam den Kontakt zur gesellschaftlichen Wirklichkeit:
In ihrem Rücken loderte Kaminfeuer, aus der Bar sickerten die Töne eines Jazzpianos herein, noch aus der Konserve, doch später am Abend würde jemand live spielen, und plötzlich sah Darius Kopp Flora. Sie stand etwas abseits mit ihren Vogelscheuchenklamotten, ihrem strohig gewordenen Haar, in einer seltsamen, geduckten Körperhaltung. Eine Wilde Frau. Als hätte ich sie entführt. Gerade jemandem abgekauft, der sie bis dahin in einer Hütte in einer Einöde gehalten hat.
Die Distanz zwischen Darius und Flora lässt sich immer weniger überbrücken. Darius bemüht sich. Ihm fehlt aber vor allen die körperliche Intimität, die Fürsorge seiner Frau, die sich ihm zunehmend entzieht, wiewohl er sie promiskuitiv kennengelernt hat. Wie Das Ungeheuer mit einer Sexszene beginnt, denn Sex ist das zentrale, von Darius vermisste Element in seinem Leben, so steigert sich der Erinnerungsfaden und nähert sich mehr und mehr den zwei einschneidenden, die Beziehung zwischen Darius und Flora zerstörenden Situationen. Zum einen die Bettszene in dem Wellness-Hotel, nachdem sie ihn drei Tage abgewiesen hat und er Traum, Fantasie und Realität zu verwechseln beginnt:
Er wurde schneller, um sich selbst zuvorzukommen, das half nicht viel, du musst dir was vorstellen, den rosa Traum, hol den rosa Traum her, dass er auch zu etwas gut ist, ist es das, was du willst, ist es das, was du willst?, auf einem Altar vergewaltigt werden?, ich kann das, ich kann das, wenn es das ist, was du willst. Es half, es erregte ihn, aber dass es so war, fand er beschämend, und dass er es beschämend fand, machte ihn wütend.
Flora flieht aus dem Wellness-Hotel. Er fährt neben ihr im Auto hinterher, versucht sie zu beruhigen. Sie will aber nicht. Erst als die Polizei auf die beiden aufmerksam wird, lässt sie sich überreden in Darius‘ Auto einzusteigen. Zum anderen, der eigentliche Höhepunkt der dramatischen Ereignisse, als Darius aus Athen mit seinem Auto fahren will, in einen Straßenmob gerät und blutig geschlagen wird, erinnert er sich an eine Szene in der besagten Waldhütte, in der Flora seit geraumer Zeit lebte, und er plötzlich mit dem Holzhacken aufhörte, um sich brutal auf seine Frau zu stürzen:
„[Darius] näherte sich ihr in Gestalte eines Holzfällers, der hackt und hackt in einem stickigen Schuppen […] und als [Flora] aus der Küche kam, um das Holz zu holen, schlug er die Axt mit Macht in den Klotz, packte sie mit beiden Händen und warf sie nieder. Diesmal wehrte sie sich von Anfang an, unmissverständlich, schlug, trat und rief um Hilfe, aber sie hörten sie nicht, hörten sie zu spät, er konnte seinen Samen in sie setzen, das war nicht einfach, denkst du, das war einfach, es war überhaupt nicht einfach, Scham, Wut, Angst, aber es musste sein, das war das Letzte, was mir noch einfiel, das Letzte […]“
Kurz vor ihrem Selbstmord, so wird angedeutet, schwängerte Darius Flora gewaltsam, wodurch textimmanent die Frage geklärt ist, wer das Ungeheuer in Terézia Moras Roman Das Ungeheuer ist.
Detaillierte Inhaltsgabe
- Darius (D.) verlässt seine Berliner Wohnung.
- D. verlässt nach Vorstellungsgespräch Berlin, lässt sich vorher die aus dem Ungarischen übersetzten Texte von Flora (F.) geben.
- D. fährt Richtung Süden, um die Asche von F. zu holen, um die zu kümmern er bislang sich gedrückt hat. Ihm werden die Reifen an der Autobahn in der Slowakei aufgestochen. Er rettet sich nach Österreich und beginnt die Aufzeichnungen F.s zu lesen.
- F. rekapituliert ihre Probleme, einen Job in der Gesellschaft zu finden. Männergewalt. Missbrauch. Ausbeutung. Erinnerungen an die Mutter, selbstgewählte Isolation aus Selbstrespekt. F. lernt D. im Regensturz kennen.
- D. ruft sich in Erinnerung, was er über F.s Vergangenheit eigentlich weiß, Abtreibung, Promiskuität, verrückte Mutter, Vater unbekannt, aus Ungarn. Er kommt aus Maidkastell (Magdeburg).
- D. fährt nach Ungarn, in die Kleinstadt, aus der F. kommt, zu ihrer Schule. Spricht Gäste aus einer Sportpension an, flieht dann überstürzt aus dem Dorf.
- D. erinnert Hochzeit, fährt nach Budapest, sucht in den Kellnerin eine Frau, die aussieht wie F., geht auf eine Friedhof, verirrt sich, muss dort auf Toilette gehen. Beim Herausgehen trifft er auf Zoltan. Sie zechen die Nacht durch.
- D. bittet Zoltan um Hilfe, Urne samt F.s Asche nach Budapest schicken zu lassen. Bittet seinen Freund Juri um das nötige Geld. Erinnerung an das Armenier-Geld.
- D. weiß nicht, was er mit der Asche tun soll, fährt einfach ohne Plan aus Budapest los. Er sieht zwei Anhälterinnen, Jutka und Oda, die auf dem Weg nach Slowenien und Kroatien sind.
- D. fährt, nachdem Jutka ausgestiegen ist, O. nach Kroatien, begleitet sie auf eine Insel. D. trifft dort auf seinen Vater. Er stürzt Hals über Kopf aus dem Hotel.
- D. und O. fahren nach Senj, Richtung Süden, nach Dubrovnik. D. fängt an Fiebersymptome zu zeigen. Sie kommen gerade noch nach Tirana. Er wird ohnmächtig.
- D. ist auf dem Friedhof in Budapest von einer Zecke gebissen worden. Nachdem er völlig genesen ist, bei O.s Großmutter wohnend, fährt er aus Tirana fort O. hinterher, nach Saranda. Er sucht O., findet sie aber nicht. Er sehnt sich nach F.
- F.s Zusammenbrüche, materialistische Selbstgespräche, versucht Normalität zu spielen, Menschlichkeit darzustellen, um wieder Teil des Alltags zu werden.
- D. gibt auf O. zu finden, beschließt in ein Bergkloster in Bulgarien zu fahren, wo er schon als Jugendlicher gewesen ist. Erinnerungen an die Zeit von F. im Wald.
- D. fährt Richtung Istanbul. Er trifft David Deacon, Doiv, der als Reisender, als Lebenskünstler unterwegs ist, permanent trinkt. Sie beschließen nach Georgien zu fahren. An der Grenze kommt es zum Zwischenfall wegen der Asche in der Urne.
- D. bringt Doiv nach Poti und fährt weiter Richtung Tiflis, will den Ararat sehen. Polizisten halten ihn an, bringen ihn zu einer Werkstatt wegen defekter Scheinwerfer. D. lernt Dawit samt Familie kennen.
- D. fährt nach Armenien, gerät in einen Schneesturm, übernachtet in einem Bordell, fährt weiter nach Jerewan, sieht Ararat nicht. Erinnerung an Kleeblattkette von F.
- F.s Gespräche mit Psychotherapeutin, Medikamentierung. Bipolare affektive Psychose, F. besteht darauf, dass sie einfach unglücklich ist. Kahle Baumkrone, kurzes Aufatmen. Gespräche mit Gaby aus der Waldkommune, die F. liebt.
- D. noch in Jerewan, eingeschneit. Findet die Armenier nicht, deren Geld er noch hütet und in Berlin versteckt hält, nachdem die IT-Firma Pleite gegangen ist. Reist ab nach Athen zu Stavridis.
- D. in Athen, wohnt in einem Haus von Stavridis, trifft Christina, deren Mann auch Selbstmord begangen hat. D. und F. im Wellness-Hotel, quasi-Vergewaltigung, F. reist ab. Szene mit Polizisten.
- F. Angst vor dem Einschlafen. Kein Platz. Alles leer. Hoffnungslosigkeit. Das Ungeheuer.
- D. und Stavridis auf dem Friedhof. D. weiß noch immer nicht, was er mit der Asche F.s tun soll. D. denkt über Zukunft nach, Privatinsolvenz. D. fährt aus Athen heraus, kommt in einen Straßenauflauf, Massenschlägerei, weil er beim Öffnen der Autotür ein Kind trifft. Auto wird zerstört, Erinnerung D.s, wie er F. in der Waldblockhütte vergewaltigte. F.s Asche wird aus dem Auto geborgen.
Stil/Sprache/Form:
Moras Roman erzählt formalästhetisch äußerst innovativ von Floras Leiden. Das auffallendste Merkmal besteht wohl in der Zweiteilung der Buchseite, oben Darius, unten Flora, wobei Flora nur weniger als 2/3 von der Textlänge (420 von 676 Seiten) spricht, schreibt, erinnert, d.h. über ein Drittel des Buches bleibt die untere Seite weiß, unbedruckt und hinterlässt das klare Signal, dass Flora schweigt, dass Flora aufgibt, sich nicht mitteilt, sich zurückgezogen hat. Floras Passagen lesen sich mysteriös und undurchdringbar. Sie stehen da als eine Stimme, für die es noch keine Ohren, keine Aufmerksamkeit, kein Verständnis gibt.
Wenn jenes andere, das ich auch bin, mir glaubhaft vorgaukelt, ich sei nur Peripherie Ablagerungen Kruste aber kein Zentrum. Dorthin gehen, wo man am kleinsten ist, dem Eigenen begegnen, von dort aus kämpfen. Aber bis ich dort angekommen bin hat etwas das Kleinste geraubt ich stehe vor dem leeren Nest aber nicht als Mutter sondern als das Junge selbst sehe noch für einen Moment dass mein Platz leer ist damit ich endlich begreife dass es mich nicht gibt.
# [Datei: ex] Man kann aufhören zu existieren, ohne tot zu sein
Mora lässt keinen Zweifel daran, dass im Rahmen einer Gesellschaft, in der Darius und ihm ähnliche den Ton angeben, eine Flora kein Gehör finden und auf kein Verständnis hoffen kann. Ihre Notizen und Eintragungen stehen als Interjektionen, nicht als Argument, Parabel oder Plot. Sie stehen als Widerstand und sprengen das Selbstverständnis der herrschenden Weltansicht:
# [Datei: semmi]
s’á’s’s’s’ásá’s’sa’s’s’saás’sa’sa’sa’saás’sa’sa’sa’sásáaáá’áááá
áááá aáa sisisisiissisisisiissizuophaaaaaasieeeee sdoiu keioaewöoihjgarekjadgfoihgkjhaerggoaerojjaeäorigjaergoiergöakjnfadäoiraejgöaoekrjgae ürpoäigjfaökdfvfdjkdfguera+09iew öoiejfdfgheree9iigdfu […]
Mit anderen Worten, Floras Passagen umschreiben ein Verstummen, ihren Freitod, ihr selbstgewähltes Entziehen und Verschweigen. Von vielen formalen Eigenheiten von Moras Roman Das Ungeheuer, die allesamt eine eigene Untersuchung verdienten, bleibt dieses das Eindrücklichste: Floras Schweigen in Darius‘ Raunen, Schwadronieren, gehetztes Fliehen und Suchen und verzweifeltes Sich-Entkommen. Darius behält, so der Text, das erste und letzte Wort.
Kommunikativ-literarisches Resümee:
Das Ungeheuer reiht sich in die Romane, die die Stellung der Frau in den jeweils herrschenden gesellschaftlichen Normalitätsansprüchen untersuchen. Als Beispiele seien angeführt: Mrs Dalloway und Zum Leuchtturm von Virginia Woolf; Malina von Ingeborg Bachmann; Kassandra von Christa Wolf; Franziska Linkerhand von Brigitte Reimann und Die Kinder der Toten von Elfriede Jelinek. Insbesondere mit Reimanns Franziska Linkerhand besitzt Das Ungeheuer viele Parallelen. Beide wechseln, was sehr selten geschieht, in der Erzählweise zwischen erster und dritter Person. Bei Reimann geschieht dies aus Sicht Franziskas, bei Mora, scheinbar unfreiwillig, mit Darius:
Der Tag mag gewesen sein, wie er war, jeden Abend versucht Doiv Dajkn, sich durch Trinken umzubringen. Wie käme ich dazu, ihn dafür zu verurteilen. Es gab eine Zeit, als Darius Kopp dasselbe versuchte.
Ein erstes Mal in der Phase, als Flora ihn bat, lieber nicht mehr zu kommen, wenn ihm nichts anderes möglich sei, als das gesamte Wochenende über zu jammern und zu schimpfen.
Und was soll ich sonst machen?
Was immer du willst.
Darius‘ Persona, sein Erfolgsstreben, seine Versuche, aus dem ärmlichen Existenzgrund seiner DDR-Vergangenheit zu entfliehen, reißt ihn innerlich entzwei. Die Versöhnung sucht er in Flora, aber sie entzieht sich ihm. Ähnlich zu Malina in Ingeborg Bachmanns Roman soll die Frau die zwei Männerfiguren versöhnen. Es gelingt nicht, und wie Bachmanns Roman endet, läuft es auf die Vernichtung der Frauenfigur hinaus:
Schritte, immerzu Malinas Schritte, leiser die Schritte, leiseste Schritte. Ein Stillstehen. Kein Alarm, keine Sirenen. Es kommt niemand zu Hilfe. Der Rettungswagen nicht und nicht die Polizei. Es ist eine sehr alte, eine sehr starke Wand, aus der niemand fallen kann, die niemand aufbrechen kann, aus der nie mehr etwas laut werden kann.
Ingeborg Bachmann aus: “Malina”
Es war Mord.
Um Mord handelt es sich in Das Ungeheuer wie ihn Malina. Darius, der letzte Hoffnungsanker für Flora, in einer ihr feindlich gegenüberstehenden Welt, vergewaltigt, benutzt sie schamlos und brutal. Ihr bleibt nur die Flucht, denn die Welt will ihr Unglücklich-Sein als psychopathologische Gleichgewichtsstörung kategorisieren. In einem Gespräch mit einer Psychotherapeutin versucht Flora das Missverständnis klarzustellen:
Sie setzt ihre ärztliche Autorität ein und wiederholt, dass es ihrer Meinung nach eine Manie [und bipolare affektive Psychose] gewesen sei. Sie sagt (erneut), dass man das nicht heilen, aber behandeln kann, dass es zum Glück gute Medikamente und Therapien gibt, die unterstützend wirken können. Ich starte einen hinterhältigen Versuch und sage, dass mir der Verdacht gekommen sei, dass ich vielleicht nicht depressiv, sondern nur sehr unglücklich bin.
Terézia Moras Das Ungeheuer lässt alle Erklärungsversuche auflaufen, indem sie Flora schweigen lässt. Nackt und hilflos und doch ungeheuer wirkungsvoll konfrontiert das Lesen sich mit leeren, nicht beschriebenen Seiten, einem Leben, das nicht leben durfte, einem Individuum, dem die Freiheit untersagt wurde, sich einbringen, entfalten, sich entwickeln zu dürfen. Statt dessen wurde sie von allen Menschen, auch von ihrer lesbischen Geliebten nur benutzt, so dass am Ende nur der Weg in die letzte, ihr nicht nehmbare Freiheit fällt, sich umzubringen. Mora statuiert ein Exempel von außergewöhnlicher Wucht, vergleichbar nur mit Jelineks Roman Die Kinder der Toten, die eine gleichsame, schockierende, gruselige, alles aufrüttelnde, horizonterweiternde unheimliche Stille und Ruhe hinterlässt.
tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.
Nächste Woche am 29. August 2023 auf Kommunikatives Lesen:
Bespreche ich Lukas Bärfuss Die Krume Brot.
Eine Kurzversion der Besprechung und noch andere aktuelle Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier.
Ein grandioser Roman, für mich ein Jahrhundertwerk. Ist einige Zeit her, dass ich ihn gelesen habe, die Parallelen zu Malina waren mir damals nicht bewußt – ich muss das Buch bald einmal wieder neu lesen, deucht es mir…
Das “deucht mir” hat mir sehr gefallen 😀 … mein Vorschlag liest sich nur auf die Situation einer Protagonistin hin, die noch den letzten Hoffnungsfunken verliert, als der geliebte Mann missbräuchlich mit ihr verfährt. Deshalb, es war Mord. Ich schlage oder biete nur Verknüpfungsliteraturen an, um die Werke nicht monolithisch allein stehen zu lassen. Ich denke auch, dass Mora sehr wohl mit Bachmann und Jelinek kommuniziert, auf ihre je eigene Weise, und Flora einen Mittelweg zu gehen versucht, der leider (im Roman) scheitert. Er gehört auch für mich zu den herausragenden Werken der letzten Jahren.
Dieser Roman ist nun wirklich absolut deprimierend in allen seinen Facetten, wie stilistisch interessant er auch sein möge. Aber vielleicht sollte ich doch …
Das Buch ist sehr hart. Nichts für entspannte Stunden am Kamin, am See, nichts, um die Seele baumeln zu lassen, Mut zu schöpfen. Floras Schicksal ging mir sehr nahe. Mir ging auch nahe, wie Darius seinen eigenen Taten nicht entfliehen konnte, wie er alles in seinem Leben Kostbare aus Ungeduld und Gier und Eigennutz zerstörte. Es ist wüst und öd, aber in dieser Beschreibung für sich genommen, überzeugend, tief, dicht und intensiv. Ich würde immer wieder ein Buch von Mora lesen! Viele Grüße!
Danke für diese Rezension. Ich werde das Buch noch einmal lesen und mich an deinem Leitfaden entlanghangeln. Der Ariadnefaden sozusagen, der verhindern wird, dass ich erneut im Verliess des Minotaurus verlorengehe.
Kenne von der Mora nur “Alle Tage” Nur? Auch ein lesenswerter Roman, vllt ein BISSCHEN weniger deprimierend als “Das Ungeheuer”, welches ich nach Alexander Carmeles Zeilen bestimmt lesen werde….
Ich werde “Alle Tage” auch noch lesen. Jetzt habe ich gerade ihren neuen Roman “Muna” auf dem Tisch. “Das Ungeheuer” hat sehr deprimierende Züge, insbesondere in der Figur der Flora, aber es besitzt auch tragikkomische Elemente, insgesamt jedoch schafft es Mora einen souveränen Stil zwischen direkter Verzweiflung und klischierter Hoffnung zu schieben.