Terézia Mora: „Muna“

Muna
Glasglocke einer toxischen Beziehungen … … Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023.

Muna von Terézia Mora beschreibt eine toxische Beziehung, die im Sommer 1989, kurz vor dem Fall der Mauer, zwischen Muna und Magnus ihren Anfang nimmt. Ihr Roman steht in direkter Verbindung zu Jenny Erpenbecks Kairos, das ein wenig früher beginnt, aber eine ähnliche Beziehungsdynamik zum Inhalt hat, nämlich einen Mann, der seine Partnerin misshandelt, ohne dass sich diese sofort von ihm trennt. Hier lassen sich viele Romane in der Gegenwartsliteratur anführen: Leïla Slimani mit Das Land der Anderen, Claudia Schumacher und Liebe ist gewaltig, oder, allen voran E.L. James mit ihrer Fifty Shades of Grey-Reihe. Moras Protagonistin und Ich-Erzählerin heißt Muna, und sie hat sehr viel Verständnis für die gewalttätige Art, mit der Magnus ihr begegnet:

Ich gebe zu, dass ich anfing, wie am Spieß zu schreien. Wenn jemand das mit mir gemacht hätte, hätte ich denjenigen wahrscheinlich auch von meiner Schwelle gestoßen und die Tür vor ihm zugeknallt. Und hätte derjenige nicht genug Körperkontrolle gehabt und wäre hingefallen und hätte dann auf dem Boden sitzend, schäumend gegen die Tür getreten, hätte ich dann auch die Tür aufgemacht und hätte demjenigen mit einem Gürtel eins übergebraten, damit er durch den Schock wenigstens für einen Augenblick mit der Toberei aufhört und hört, wenn ich ihm ins Gesicht zische, dass ich ihn, wenn er sich nicht benehme, so was von auf die Straße setzen werde, dort, in der Gosse, könne er diesen Zirkus meinetwegen veranstalten, aber nicht hier!

Terézia Mora aus: „Muna“

Inhalt/Plot:

Munas Vater stirbt, als sie etwa acht Jahre alt ist. Ihre Mutter, Theaterschauspielerin, reißt sich bis zu Munas 18. Geburtstag mit der Alkoholsucht soweit zusammen, dass sie nicht in Pflege genommen zu werden braucht. Kurz nach ihrer Volljährigkeit bricht ihre Mutter jedoch zusammen. Muna ist allein, aber sie liebt seit sechs Monaten Magnus Otto, den Bildredakteur bei einem Magazin, in welchem sie ein Praktikum absolviert. Es war Liebe auf dem ersten Blick:

Danke!, rief ich und stürmte an ihm vorbei, fiel durch die Tür ins Zimmer mit dem großen Tisch und den Regalen, wer im Raum war, schreckte hoch. So sah ich ihn zum ersten Mal, sich irritiert nach mir umdrehend: den schönsten Mann, den ich je im Leben sehen würde.

Ab diesem Moment dreht sich in Munas Leben alles nur noch um Magnus. Sie hat sich von Kopf bis Fuß in ihn verliebt, in sein Aussehen, in seine Ausstrahlung, in das, was sie auf den ersten Blick hat in ihm erkennen können: sein Äußeres, denn weder hat sie vorher von ihm gehört, noch ihn irgendwie gekannt. Moras Muna oder Die Hälfte des Lebens benötigt diesen ersten und alles entscheidenden Augenblick, den Kairos. E.L. James‘ Das geheime Verlangen beginnt auf selbige Weise:

Ich drücke die Tür auf, stolpere über meine eigenen Füße und falle hin. Scheiße! Zwei linke Hände, zwei linke Füße! Ich lande auf Knien in Mr. Greys Büro und spüre sanfte Hände, die mir aufhelfen. Mein Gott, wie peinlich! Ich nehme all meinen Mut zusammen und hebe den Blick. Wow, ist der Mann jung!
»Miss Kavanagh.« Sobald ich wieder auf den Beinen bin, streckt er mir seine langfingrige Hand hin. »Ich bin Christian Grey. Alles in Ordnung? Möchten Sie sich setzen?«
Jung – und attraktiv, sehr attraktiv. Er ist groß, trägt einen eleganten grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte und hat widerspenstiges, kupferfarbenes Haar und wahnsinnig graue Augen, mit denen er mich mustert. Ich brauche einen Moment, um meine Stimme wiederzufinden.

E.L. James aus: „Das geheime Verlangen“

Kurze Zeit später betont James‘ Protagonistin wie auch Muna bei Mora nochmals, dass es einzig um das Aussehen geht, aus der ihre jeweilige Besessenheit hervorgeht:

[Grey] lächelt. Dabei kommen ebenmäßige weiße Zähne zum Vorschein. Es verschlägt mir den Atem. Er ist wirklich unverschämt attraktiv. So gut darf kein Mensch aussehen.

E.L. James aus: „Das geheime Verlangen“

Wie es vom ersten Augenblick an um die 21-jährige Literaturstudentin Anastasia Steele bei James, so ist es auch um die 17-jährige Abiturientin Muna bei Mora geschehen, nur dass Magnus Lehrer am Französischen Gymnasium in Magdeburg und kein Unternehmer und Multimilliardär wie bei James ist. Magnus will studieren, strebt eine Karriere als Germanist und Fotograf an und arbeitet nur widerwillig als Lehrer, um die Zeit zu überbrücken, bis die DDR-Bürokratie ihn zum Studium zulässt. Kurz nach Munas 18. Geburtstag schlafen sie miteinander, danach, in den Wirren um den Fall der Mauer im Herbst 1989 herum, verschwindet er spurlos. Muna vermisst ihn, schreibt Briefe, die nicht beantwortet werden, denkt ununterbrochen an ihn:

Seit dem Tag seines Verschwindens hatte ich so intensiv an Magnus gedacht, dass alles andere an der Peripherie blieb, historische Ereignisse ebenso wie die Titel der Lehrveranstaltungen oder die Gesichter meiner Mitstudenten.

Wiedervereinigung, Umzug nach Berlin, Genesung der Mutter, der Sturz des DDR-Regimes, das Studium, nichts erfüllt oder beschäftigt Muna. Doch Magnus bleibt abwesend. Muna erlebt einige Affären, bewirbt sich um Stipendien, fährt nach London, zieht dann um nach Wien und beendet dort ihr Studium und beginnt ihre Promotion. Auf einem Ausflug nach Berlin trifft sie Magnus wieder. Er sitzt im Theater. Muna sieht ihn zuerst.

Für einen Moment schien es so, als würde sein Blick weiterwandern, er wanderte auch weiter, dann kehrte er um und sah mich an. Als stünde ich hinter einem Wasserfall, so rauschte es in meinen Ohren, und scharf sehen konnte ich auch nicht mehr, aber ich konnte noch die Mundwinkel bewegen, ich zog sie nach oben, ich lächelte, damit er sah, dass ich es bin. Und er? Wieder sah es so aus, als würde er nicht reagieren, aber dann reagierte er doch. Auch er lächelte.

Mora betont die Unterwerfungsgeste Munas. Sie ist es, die Magnus vermisst hat. Sie ist es, die den Blick auf ihn gerichtet hält. Sie hat ihn vermisst, ihm unzählige Briefe geschrieben, die er entweder nicht beantwortet oder nie bekommen hat, und nun will sie sich wieder als würdig erweisen. Bei E.L. James klingt das wie folgt:

Ich kaue auf meiner Unterlippe herum.
»Hey, lass das«, befiehlt er sanft, legt die Finger um mein Kinn und zieht leicht daran, bis ich loslasse. »Nichts an dir ist billig, Anastasia. Ich will nicht, dass du so von dir selbst denkst. Ich habe dir nur ein paar alte Bücher gekauft, von denen ich dachte, sie könnten dir Freude bereiten, mehr nicht. Und jetzt trink einen Schluck Champagner.« Sein Blick wird weich und warm. Zögernd lächle ich ihn an.

E.L. James aus: „Das geheime Verlangen“

Muna schafft es, Magnus zu verführen, der jedoch bald wieder verschwindet, bald wieder auftaucht. Er vermag sich von ihr nicht zu lösen, will aber auch nicht mit ihr zusammen sein oder gar eine Familie gründen. Muna greift zu allen Mitteln, um ihn an sich zu binden. Sie möchte seine Liebe, seine Zuwendung, seine Nähe und passt ihr gesamtes Verhalten an seine Vorstellungen an:

Der Schlüssel ist, so zu tun, als wärst du eine von ihm unabhängige Frau mit einem eigenen Leben, einer eigenen Laufbahn. Unkompliziert sein und gut aussehen. Nicht zu viel Quatsch erzählen, nicht klagen und nicht zu viel fragen. Als würde alles mühelos an seinen Platz fallen. Ich lernte langsam, viel langsamer als alles andere bis jetzt, aber vielleicht war ich auch nur ungeduldig. Die Kondome in den Samstagsnächten knotete ich nur auf, nachdem er sie schon weggeworfen hatte, anderenfalls wäre es ihm sicher aufgefallen. Das war nicht schön von mir, das war falsch und hinterhältig, aber ich konnte mich eben auch nicht immer beherrschen.

Nach mehrmaligen Trennungen, Gewaltexzessen, nach Misshandlungen, erneutem Verschwinden von Magnus, seinen Fluchten und Wieder-Erscheinen, zwischen Berlin, Wien, Basel, Saint-Nazaire und zurück nach Berlin erleidet Muna unfreiwillig zur Hälfte des Lebens die endgültige Befreiung von Magnus, der wie Muna akademisch und literarisch unerfolgreich gelebt und zudem seinen Frust über sein gescheitertes Leben in der Nachwendezeit an Muna ausgelassen hat.

Detaillierte Inhaltsgabe

  1. Kapitel: Muna Appelius erlebt Zusammenbruch der alkoholsüchtigen Mutter (Schauspielerin), berichtet vom Tod ihres Vaters (Hochschullehrer) in der frühen Kindheit, zerrüttete Familiensituation. Ort: Magdeburg. Erzählzeitbeginn: Kurz vor der Wiedervereinigung.
  2. Kapitel: Verliebt sich mit 17 in Magnus Otto, in einen Lehrer und Hobbyfotografen, den sie bei ihrem Praktikum als Journalistin kennenlernt. Bernd, stellvertretender Chefredakteur; Noah Klein stellt die Räume für das Magazin bereit, trägt Frauenkleider.
  3. Kapitel: Drei freie Monate Munas ohne ihre Mutter, nach Zusammenbruch. Nur Tante Angela besucht sie. Magnus und Muna besuchen den Künstler und Maler Rosen, um ein Porträt für das Magazin anzufertigen. Muna besteht Abitur. Sie feiern in der Redaktion. Muna und Magnus schlafen miteinander.
  4. Kapitel: Munas Mutter kommt zurück aus der Reha. Magnus verschwindet nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht. Sommer 1989. Muna verzehrt sich nach ihm.
  5. Kapitel: Muna schreibt Briefe an Magnus nach der Wiedervereinigung. Beginn ihres Studiums in Berlin. Mike, ein Kommilitone, Diplomatensohn, verliebt sich in sie. Munas Dozent, Bartley, küsst sie. Kommilitonin Gabica.
  6. Kapitel: Muna beginnt Affäre mit Dozenten. Prostituiert sich für Theaterkarten. Mike sticht ihr die Reifen auf.
  7. Kapitel: Auslandssemester mit Stipendium in London. Arzt fragt sie, ob sie Surrogatmutter für ihn wird. Babysitterin für Milla, die Musical-Schauspielerin, und Frederic, ihr Ehemann. Muss wegen Zahnschmerzen zurück nach Deutschland.
  8. Kapitel: Umzug nach Wien mit Stipendium, arbeitet in Bar, lernt Arnold kennen. Zuerst Freundschaft, dann Vergewaltigungsversuch.
  9. Kapitel: Studieren in Wien. Selbstmord Arnolds. Jungprof Norbert Christian Vogler. Karriere. Arbeit im Drittmittelprojekt Ingrids: Erstellung einer Datenbank mit Werken von Autorinnen mit Migrationshintergrund in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Lernt Walter kennen, der, breit wienerisch sprechend, aber aus Hamburg kommend, einen kleinen Verlag leitet. Studiumsabschluss und Anfang der Promotion bei Norbert. Ingrid und Norbert, der verheiratet ist, haben einen Affäre.
  10. Kapitel: Ausflug nach Berlin zu einer Theaterfestwoche, sieht Magnus im Publikum. Spaziert mit ihm durch die Nacht. Wiedersehen nach langen Jahren. Muna nimmt Einladung von Magnus an, ihn auf seiner Island-Fotoreise zu begleiten.
  11. Kapitel: Muna hat nur Augen für Magnus, während sie in Island sind. Wird schwanger, nimmt die Pille danach, Übelkeit. Magnus hat kein Erbarmen mit ihr.
  12. Kapitel: Muna und Magnus pendeln zwischen Wien und Berlin, alle zwei Wochen. Rotweinglas-Eklat auf Silvesterparty vor Munas Studienkollegen. Magnus verlässt die Party. Sadistischer Versöhnungssex. Gewalttätigkeit von Magnus. Muna nimmt sich Zweitwohnung in Berlin, in einer Villa bei Judit und Albert.
  13. Kapitel: Lernt Katja, Afrodeutsche, und Jugendfreundin Almut kennen, die einen Verlag führt. Muna begleitet Magnus zu einem Empfang in der Schweizer Botschaft. Sie streiten sich. Magnus fühlt sich von Muna ins Abseits gedrängt. Magnus verdreht Munas Handgelenk. Versöhnung, Magnus lädt sie ein, für einen Monat mit ihm nach Saint-Nazaire zu kommen.
  14. Kapitel: Muna hat Probleme, mit ihrer Promotion vorwärts zu kommen. Ermahnungen von Ingrid und Norbert. Muna erscheint ungebeten auf einer Germanistikkonferenz, auf der Magnus einen Vortrag hält. Magnus enttäuscht von sich selbst. Szene in der Hotelbar. Muna lässt sich nicht für dumm verkaufen und blamiert Magnus vor frauenfeindlichen Professoren. Magnus lässt seinen Frust an Muna heraus und würgt sie.
  15. Kapitel: Wieder in Berlin. Katja hat ihr Pflegekind. Muna erhält den Job beim Fakultätsnetzwerk »Gender und Kultur«. Magnus bekommt Stelle in Basel. Muna lässt sich überreden, den Schlüssel von Magnus‘ Wohnung einem Austauschnetzwerk zur Verfügung zu stellen. Magnus Schränke werden aufgebrochen. Muna lügt ihn an, aber nicht die Polizei. Magnus erhält ein polizeiliches Schreiben, misshandelt sie und sperrt sie danach ein, bis sie keine Spuren von der Misshandlung mehr an sich hat.
  16. Kapitel: In Basel. Muna lässt alles stehen und liegen für Magnus. Bricht Promotion ab. Ingrid warnt sie. Muna beginnt bei Paloma zu arbeiten, in einem Art-Pop-Laden. Muna nimmt zu. Magnus ist unzufrieden, privat wie beruflich, orientiert sich Richtung Kanada.
  17. Kapitel: Magnus reist nach Kanada. Muna plant hinterherzukommen. Magnus sagt die gemeinsame Fotoreise aber ab. Muna fällt in ein Loch.
  18. Kapitel: Muna wartet auf Magnus in der gemeinsamen Wohnung in Basel. Zusammenbrüche. Paloma rettet sie. Mutter holt sie ab. Ingrid stirbt.
  19. Kapitel: Beerdigung Ingrids. Muna zieht wieder nach Berlin, zu Judit und Albert. Beendet Promotion. Mutterschaftsvertretung im Verlag von Ben, bekommt aber keine feste Stelle. Ben lässt sie Lektorenarbeit durchführen. Magnus bleibt unauffindbar.
  20. Kapitel: Muna arbeitet in Katjas Verlag. Affäre mit Aria, Architekt. Muna erfährt bei einer Vorsorgeuntersuchung, dass sie Brustkrebs hat. Entscheidung, sich von Aria zu trennen und eine vollständige Mastektomie durchführen zu lassen. Mutter arbeitet mittlerweile in einer physiotherapeutischen Praxis. Muna, 37 Jahre alt, überlegt sich künstlich befruchten zu lassen.
  21. Kapitel: Insemination unerfolgreich. Muna schließt sich einem Buchladenprojekt an, von Daniela. Muna beweist wie bei Paloma, Verkaufstalent. Noah stirbt. Rückkehr nach Jüris, Treffen mit ihrer Mutter. Muna beginnt zu schreiben. Wird von Bens Verlag publiziert: »Die Liebe in den Zeiten«. Trifft bei Sommerfest Magnus unverhofft wieder, der seinen Namen geändert hat. Kurze Affäre, die mit Magnus Tod endet. Magnus würgte Muna im Dunklen, Jugendliche kommen zur Hilfe, Magnus verunglückt.

Stil/Sprache/Form:

Im Gegensatz zu Das Ungeheuer bietet Muna oder Die Hälfte des Lebens keinerlei Lektürewiderstände. Munas Lebenslauf wird, unter Absehung von ein paar Sprüngen in die Vergangenheit, linear erzählt. Typographisch gibt es ein paar geschwärzte Stellen und durchgestrichene Passagen, die die Sprunghaftigkeit und Unsicherheit der Ich-Erzählerin darstellen, die etwas schreibt, nur um es nicht geschrieben zu haben. Auf formaler Ebene spiegelt sich das in der Erzählweise wieder, die keine Chance ungenutzt lässt, die eigene Protagonistin vorzuführen, die lediglich mit ihrem Aussehen zu überzeugen versucht:

Ich sah mich selbst, wie meine Brust sich hob und senkte. Mein Haar fiel mir manchmal ins Gesicht, ich strich es hinters Ohr. Ich trug keine Ohrringe, schade, ich hätte glänzende Ohrringe tragen sollen oder eine glänzende Spange im Haar, etwas, das mein goldenes Haar noch mehr hervorhob. […] Ich versuchte [meinen Handspiegel] verstohlen in meiner Handtasche zu öffnen und so einen Blick auf mich zu erheischen. Da war ich, klein, verzerrt, aber doch weniger schlimm als in meiner Vorstellung. Die Nase glänze wie eine Speckschwarte, aber Lippenstift und Mascara waren nicht verschmiert.

Den ganzen Text entlang lässt Mora ihre Protagonistin um ihr Aussehen, ihre Wirkung fürchten. Sie hat keine hohe Meinung von sich. Sie kennt nur das eine Ziel, Magnus zu erobern, für sich in Beschlag zu nehmen. Sie spioniert ihm nach. Sie drängt sich auf. Sie hängt sich wie eine Klette an ihn und gibt alles für ihn auf, indes er nichts aufgibt, keine Kompromisse eingeht und keine guten Worte für sie kennt. An Muna perlt diese Erkenntnis ab. Ihr Angebeteter spricht mit ihr. Das ist alles, was zählt:

Ich versuchte immer nur meinen Willen durchzusetzen. Dich zu bezirzen, zu überrumpeln, ja zu hintergehen. Ja, ich bin nicht so klug wie du. Oder Ingrid. Oder wer auch immer. Mein einziger Vorteil sind waren meine körperlichen Reize und die emotionelle Einflussnahme durch Solidarität, Hingabe, Rücksichtnahme, dem Erfüllen deiner Bedürfnisse, aber auch durch Überraschungen und Provokation.

Innere wie äußere Beobachtungen mischen sich in der Schreibweise von Muna. Gedanken, Träume, Wahnvorstellungen, Aussagen lassen sich nicht immer klar zuordnen, trennen, in den Szenen verorten. Sie spricht mit sich wie mit anderen in einer Art undifferenziertem Fluss. Muna richtet über sich in einem vorauseilendem Gehorsam. Sie wird Teil des Mobiliars, der Umgebung, der Umwelt, durch die Magnus schreitet, ohne von ihr Notiz zu nehmen:

Wo waren meine Leute, keine Ahnung, ich stand allein da, aus dem Beton strömte nur so die während des Tages gesammelte Hitze, zum wiederholten Male brach mir am ganzen Körper der Schweiß aus. Dann werde ich hier also einfach wegschmelzen, kaum dass ich [Magnus] wiedergefunden, nein, nur gesehen habe, und es bleibt nicht mehr von mir als eine Pfütze, in der sich vielleicht für einen kurzen Moment sein Gesicht spiegelt, wenn er, verwundert darüber, wie das plötzlich dahergekommen ist, zu mir hinunterschaut, bevor er über mich hinwegtritt.

Das Hauptproblem von Moras Roman Muna besteht in der ausschließlich äußerlichen Fixiertheit Munas auf Magnus. Er selbst erhält kein Innenleben. Er huscht wie ein Schatten durch Munas Leben, ein bedrohlicher, nicht zuletzt jedoch geliebter Schatten. Der Text gibt ihm keinen Freiraum, Mehrdimensionalität zu entfalten. Seine Gewalttätigkeit bricht unvermittelt in das Textganze ein und zerstört es, wie Munas Wunsch Teil seines Lebens zu werden, ohne im Ansatz diesen Wunsch sprachlich lebendig werden zu lassen. Munas Liebe bleibt rein visuell und geht in der Sprache nicht auf.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Verglichen mit der Gegenwartsliteratur erscheint Terézia Moras Roman als eine unglückliche Synthese aus Jenny Erpenbecks Kairos und Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand. An Reimann erinnert Neustadt, Magdeburg, die DDR-Atmosphäre zu Beginn und die Sehnsucht und Idealisierung der Protagonistin nach und von Ben. Auch Franziska stellt Ben hinterher, beobachtet ihn heimlich, will mehr, als sie von ihm bekommen kann, als er ihr geben möchte.

Im Gegensatz aber zu Reimanns Protagonistin reflektiert Moras sich und ihr Begehren nicht. Franziska findet ihren eigenen Weg. Muna nicht, zumal sie Opfer von gewalttätigen Übergriffen wird, die an Jenny Erpenbecks Kairos erinnern, ohne wiederum deren geschichtliche, perverse Dimension wie Erpenbeck zu entfalten, die im Wunsch von Kontrolle eine Figur wie Hans konstruiert, die im Privaten auslebt, was ihm das Öffentliche nicht mehr erlaubt. Moras Muna bleibt unentschieden. Magnus‘ Gewalt passiert, als würde so etwas passieren:

Ich konnte mich nicht von der Stelle rühren, ich zitterte am ganzen Leib, meine Stimme zitterte auch:
Schmeiß mich raus, und alle erfahren, dass du mich geschlagen hast! Anstatt, dass du mich verteidigen und beschützen würdest!
Er warf den Rucksack mit Schwung zu Boden und kam auf mich zu.
Warum, verdammte Scheiße […] warum bist du nur so eine verdammte Plage?!
[…] Als er ins Bad ging, um seine Sachen dort einzusammeln, lief ich schnell zur Zimmertür und stellte mich davor. Er griff mich ohne ein Wort am Oberarm und schleuderte mich ins Zimmer zurück. […] Ich flog wie eine Puppe, stürzte, schlug mir den Kopf an der Ecke des Betts an.

Mora gibt sich alle Mühe, die Situation von beiden Seiten eskalieren zu lassen. Muna will seine Aufmerksamkeit, und Magnus kommt von Muna sexuell nicht los, kehrt, wie von einer unsichtbaren Leine gezogen, immer wieder zurück zu ihr, wie zu einer Droge. Im Gegensatz zu ihm wird Muna jedoch nie gewalttätig oder übergriffig. Das Monster bleibt er. In der Konstellation der nicht erwiderten Liebe erinnert Muna oder Die Hälfte des Lebens an Clemens J. Setz‘ Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, in welchem es von asymmetrischen Gefühlsbezeugungen nur so wimmelt: Die Protagonistin Natalie wird von ihrem Ex-Freund Markus geliebt, sie aber liebt den Prostituierten Mario:

Der Gedanke an Mario tat inzwischen fast weh. Ein körperliches Mangelgefühl, ein Ziehen im Seelengelenk. Gott, ich würde ihn echt alles tun lassen, absolut keine Schranken. Steck mir die Zunge da rein. Wirklich, da rein ? Ja, los. Okay, Mario. Wäre alles kein Problem.

[…] Selbst die Art, wie er die Sätze immer unvollendet ließ, war sexy. Raumausfüllend sexy. Sockenauflösend sexy. Zeheneinringelnd sexy. Gott, dieser Mann! Man könnte Amoklaufen bei seinem Anblick. Diese Hände und das etwas zu kurze Hemd, das zarte Fell um den Bauchnabel. Ich möchte irgendwas kaputt machen.

Clemens J. Setz aus: „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“

Wie Magnus verschwindet Mario spurlos, kommt sporadisch wieder, aber bleibt unverfügbar für Natalie, die es genauso wenig verwindet wie Muna. Setz‘ und Moras Figuren zeichnen sich durch Beziehungen aus, die keinerlei Intensität besitzen. Sie leben nebeneinander her, kennen sich nicht, haben Sex, schlagen und vertragen sich, ohne dass sie eine Verbindlichkeit zwischen sich herstellen können, zumal sie keine Sprache füreinander entwickeln. Sprachlosigkeit gibt das häufigste Motiv in den Szenen ab. Vor diesem Hintergrund bleibt nur der Austausch von Körperflüssigkeiten. Die Kälte und Distanz des Textes ergibt sich aus der Unnahbarkeit der Intimsphäre, die zwar bloßgestellt, aber nicht dargestellt wird.

Verdammt, sagte [Magnus].
Scht, sagte er. Kein Wort!
Scht!, sagte er noch mehrmals, während er mit seinem gesamten Gewicht auf mir lag. Später legte er beide Hände seitlich an meinen Hals. Die Daumen landeten in der Drosselgrube. Rührte ich mich, erhöhte er den Druck, also hielt ich still. Schweiß und Tränen tropften auf mich. Er hielt mich die ganze Nacht fest umklammert. Alles war salzig. Wir blieben so bis zum nächsten Morgen.

Sprachlosigkeit als Grundmotiv eines sprachlichen Kunstwerkes bedürfte zumindest einer ausufernd poetischen Sprache, die indirekt, dicht, intensiv umschreibt, was alles nicht gesagt werden kann, indem alles, was nur irgend sagbar erscheint, wieder und wieder gesagt wird. Im unausgesetzten Versuch, dem Unsagbaren näher zu kommen, würde das Geheimnis geheimbleiben, aber erscheinen können. In Muna oder Die Hälfte des Lebens von Terézia Mora erscheint hingegen nichts.

Wie Wolken treiben die Figuren über die Szenerien, durchdringen sich, vermischen sich und ziehen dann weiter. Sie haben bereits vor der Hälfte ihres Lebens mit ihrem Leben abgeschlossen. Wer versteht, dass, wenn zwei sich streiten, beide Unrecht haben können, und zwar auf je verschiedene Art, also eine toxische Beziehung aus mindestens einer, wohlmöglich jedoch auch aus zwei oder mehr toxischen Individuen bestehen kann, wird aus Muna nicht viel lernen können, die anderen bekommen ein lehrreiches und schmerzhaftes Beispiel geboten.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Diese Woche am 06. Oktober 2023 auf Kommunikatives Lesen:
Bespreche ich Necati Öziris Vatermal im Rahmen der Lektüre der Shortlist des deutschen Buchpreises 2023. Bereits erschienene Lesebesprechungen: Anne Rabes Die Möglichkeit von Glück, Sylvie Schenks Maman und Terézia Moras Muna. Es fehlen noch , Tonio Schachingers Echtzeitalter, sowie und Ulrike Sterblichs Drifter.

Andere aktuelle Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier

8 Antworten auf „Terézia Mora: „Muna““

  1. Wie schon gesagt, habe ich von der Mora bisher nur „Alle Tage“ gelesen. Verglichen mit Muna ein spannendes, sprachlich (in der Sprachlosigkeit) eher forderndes Buch. Merci für die Besprechung! Werde „Muna“ nicht lesen :-), kenne ja „Kairos“ und „Franziska Linkerhand“ schon 🙂

    1. Ich rate stets ungern von Romanen ab, denn das Lesen und Sprechen über Romane erzeugt ja selbst eine befruchtende und vielleicht horizonterweiternde Kommunikation. Nur in diesem Falle, ja, dann lieber mehr von Erpenbeck und Reimann, mehr von Romanen, die das Publikum nicht an der Nase herumführen, wie ich es bei Muna das Gefühl gehabt habe. Ich schaue mir mal „Alle Tage“ an, ich denke auch nicht, dass Mora mit „Muna“ ihr bestmögliches gegeben hat. Viele Grüße!

  2. Nach deiner Beschreibung der rein äußerlich begründeten Anziehung würde sich der Leser/ die Leserin hier voyeuristisch fühlen. Verstehe ich das richtig?
    Danke sehr für diese sehr ausführliche und erhellende Rezension, Alexander.

    1. Danke, Ule! Ja, das habe ich gar nicht reflektiert. Stimmt. Es gibt Vieles über den Roman zu sagen – aber ein verdruckst-verheimlichter-gehässiger Voyeurismus, der sich am Untergang zweier Ostdeutschen erlabt, fasst es auch zusammen. Ich habe mein Bestes gegeben, aus diesem Roman einen kommunikativen Mehrwert für mich zu schaffen – ich bin gescheitert. Andere Rezensionen haben mir auch nicht geholfen. Vor allem nicht die These, dass der Roman eine Figur mit verinnerlichter Misogynie beschreibt – das lässt sich am Text nicht festmachen. Muna ist süchtig nach Magnus, ohne dass die Sucht Teil der Reflexion würde. Ich wünschte, mir würde jemand eine Dimension dieses Textes aufzeigen, die ich verpasst habe – ich habe mich sehr gequält. Viele Grüße und Danke für deine Worte und gute Assoziation!!

  3. Gewalt an Frauen, männliches Besitzdenken ist ja ein Phänomen, das gesellschaftlich immer mehr gesehen wird. Offenbar ist aber in diesem Roman die Protagonistin eine Frau, die sich selbst mit großem Aufwand um die Opferrolle bemüht und das Gewalt-Thema wird dadurch etwas differenziert.
    Am Rande dienen die Passagen aus den 50 shades auch dazu zu zeigen, dass ein Bestseller keineswegs gut geschrieben sein muss 🙂

    1. Als Differenzierungsvorschlag mag es taugen, so habe ich auch versucht die Besprechung enden zu lassen. Es handelt sich um eine Geschichte mit zwei toxischen Charakteren, von denen der eine der beiden, Magnus, gewalttätig ist, die andere, Muna, die Gewalt akzeptiert, um mit ihm zusammenbleiben zu dürfen. Leider erreicht der Roman nicht eine Sprache, die den Voyeurismus überschreitet – deshalb verglich ich ihn mit „Fifty Shades“ selbstredend nur oberflächlich, denn ich habe das Buch (noch) nicht gelesen, aber es scheint sehr paradigmatisch für viele beziehungstechnische Gegenwartsliteraturen zu stehen. Ich gebe dir ganz recht, gut geschrieben scheint es nicht zu sein 🤔 ist vielleicht auch nicht das Ziel gewesen … bei aller Differenziertheit des Themas, ich finde, das eine solche Gewalt einfach nicht existieren darf, denn Muna leidet unter ihr, und darin sehe ich keinen tieferen Sinn. Danke für deinen Kommentar und viele Grüße!

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