Judith Hermann: „Wir hätten uns alles gesagt“

Wir hätten uns alles gesagt
Mit Prosa gegen Prosa … Spiegel Belletristik-Bestseller 14/2023.

Judith Hermanns Texte drücken vor allem ein Lebensgefühl aus, eine Stimmung. Sie besitzen eine gewisse Melodie, Rhythmik, eine Unnahbarkeit, die hermetischen Gedichten eignet. Das Medium Prosa, in welchem sich Hermann bewegt, erscheint nur als Projektionsfläche der Gedichte, die sie umschreibt, wenn sie schreibt, als noch nicht geschriebene. In Wir hätten uns alles gesagt erweitert sie diese Form auf die Poetikreflexion. Sie fasst ihre Frankfurter Poetik-Vorlesungen erzählerisch, anhand von Motiven und Figuren zusammen, und distanziert sich zugleich vom Sinn- und Bedeutungsgehalt des Schreibens, Sagens, Theoretisierens komplett:

Ich versuchte zu sagen, dass ich am Ende einer Mutmaßung angelangt sei, zunächst nicht mehr weiterwisse, aber ich kam nicht auf den Punkt, und letztlich war es mir da auch schon gleichgültig, ob er mich verstand oder nicht, ob ich ausdrücken konnte, was ich ausdrücken wollte, oder ob ich und die Worte versagten. Es war egal.

Judith Hermann aus: “Wir hätten uns alles gesagt”
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Annika Büsing: „Nordstadt“ [Das Debüt 2022]

Die Stimmen zu Annika Büsings Debütroman Nordstadt konstatieren einhellig, um es mit literaturundfeuilleton zu sagen: „eine flotte, unverblümte Sprache, die der prävalent vorherrschenden Gewalt voranschreitet.“ Büsing thematisiert prekäre soziale Konstellationen und Bedingungen, in denen sich ihre Figuren, ohne einen Ausweg zu sehen, wiederfinden. Hierfür setzt sie als „das sich wiederholende Element die Ironie“ ein, wie es aufklappen fasst, und literaturgefluester betont, dass die Sprache „manchmal ein wenig altmodisch“ wirkt und „manche eindrucksvolle Metaphern“ mehrmals zitiert werden. Wiederholungen und Thema ergeben einen eigenen „Sound“, denn Büsing „scheut sich nicht, Begehren in Worte zu fassen und entwickelt für ihre Heldin einen unangepassten, manchmal rotzigen und bisweilen sehr dem Mündlichen abgelauschten Ton“, wie auf buch-haltungen steht. Büsings Protagonistin nimmt tatsächlich kein Blatt vor den Mund:

Ich wurde schon alles Mögliche gefragt: Hast du einen Freund? Stehst du auf blasen? Hast du eine Schwester? Sind deine Brüste echt? (Wobei die Frage wirklich bescheuert ist! Meine Titten sehen nicht aus wie gemacht. Und sie sind auch nicht so groß wie gemachte Titten. Ich behaupte einfach mal, wer meine Titten nicht von gemachten Titten unterscheiden kann, der hat noch nicht viele Titten gesehen.) Könntest du das weiße Shirt mal mitbringen, wenn wir ficken?

Annika Büsing aus: “Nordstadt”
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Ingeborg Bachmann: Malina

Von dem Sag- und Unsagbaren …

Es gibt wenige Texte, die sich so gegen das plakative Lesen sträuben wie Ingeborg Bachmanns einzig vollendeter Roman Malina. Er ist so vielschichtig und polyphon, so dicht und komplex, dass beinahe jeder Absatz für sich allein steht und das Lesen seinen eigenen Fokus, seine eigene Perspektive konstruieren muss. Bachmanns Text versprachlicht Heraklits Fluss, in den sich nach seiner Formel panta rhei niemals ein zweites Mal steigen lässt, indem es einfach kein zweites Lesen gibt. Malina liest sich stets von neuem. Mit dem ersten Satz beginnt eine neue Reise. Er lautet:

Nur die Zeitangabe mußte ich mir lange überlegen, denn es ist mir fast unmöglich, ›heute‹ zu sagen, obwohl man jeden Tag ›heute‹ sagt, ja, sagen muß […]

Ingeborg Bachmann aus: “Malina”
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Johanna Adorján: “Ciao”

Überholen, ohne einzuholen…
Spiegel Belletristik-Bestseller (29/2021)

Der Roman „Ciao“ von Johanna Adorján antwortet auf die aktuelle Diskussion um das Stichwort „cancel culture“ herum. Es kann mit Sicherheit als Antwort auf „Die Kandidatin“ von Constantin Schreiber und „Über Menschen“ von Juli Zeh gelesen werden. In diesem Sinne würde es als eine liberale Antwort eine Form von Mitte suchen, Gegensätze vermitteln, beide Seiten zur Sprache kommen lassen, ohne die eine gegen die andere Seite auszuspielen. „Ciao“ kann in dieser Hinsicht glücklicherweise als gescheitert gelten, denn es enthebt sich aller diskursiven, argumentativen Mühen, pocht darauf, Fiktion zu sein, und nimmt eine Außenposition an, nämlich die, reine Unterhaltung zu bleiben und sein zu wollen, einen Slapstick aufzuführen, bei dem niemand sich schlecht fühlen muss, und sich sogar eine Art Happy End erlaubt.

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