Ingeborg Bachmann: Malina

Ingeborg Bachmann: "Malina"
Von dem Sag- und Unsagbaren …

Es gibt wenige Texte, die sich so gegen das plakative Lesen sträuben wie Ingeborg Bachmanns einzig vollendeter Roman Malina. Er ist so vielschichtig und polyphon, so dicht und komplex, dass beinahe jeder Absatz für sich allein steht und das Lesen seinen eigenen Fokus, seine eigene Perspektive konstruieren muss. Bachmanns Text versprachlicht Heraklits Fluss, in den sich nach seiner Formel panta rhei niemals ein zweites Mal steigen lässt, indem es einfach kein zweites Lesen gibt. Malina liest sich stets von neuem. Mit dem ersten Satz beginnt eine neue Reise. Er lautet:

Nur die Zeitangabe mußte ich mir lange überlegen, denn es ist mir fast unmöglich, ›heute‹ zu sagen, obwohl man jeden Tag ›heute‹ sagt, ja, sagen muß […]

Ingeborg Bachmann aus: “Malina”

Die Ich-Erzählerin thematisiert also unverzüglich, direkt am Anfang ihres über dreihundert Seiten umfassenden Romans den eigenen Stil und das eigene Schreibvorhaben, das darin besteht, nicht etwas Ewiges, Überzeitliches, sondern jenseits der Zeit, etwas Zeitloses zu schaffen, das nur im jeweils sich findenden, einsetzenden Augenblick stattfindet und sich zu reaktualisieren vermag. Aus diesem Grund fällt es ihr schwer, „heute“ zu sagen, da dieses „heute“ den Eindruck mit sich führt, das, was beschrieben wird, sei nur auf einen einzigen, besonderen, vergangenen Zeitpunkt bezogen. Die Vermeidung der Bestimmtheit, Bachmann nennt es in ihrer Poetikvorlesung die schlechte Sprache, gibt dem Roman Malina etwas Poetisches, Dunkles, in welchem die Handlung so weit zurücktritt, dass zwischen den Worten das Geheimnis einer Hoffnung zu prangen scheint, ein Leuchten im Dunkeln, das sich weder bannen noch in Frage noch weiter bestimmen lassen lässt:

In der Wohnung lege ich mich auf den Boden, ich denke an mein Buch, es ist mir abhanden gekommen, es gibt kein schönes Buch, ich kann das schöne Buch nicht mehr schreiben, ich habe vor langem aufgehört, an das Buch zu denken, grundlos, mir fällt kein Satz mehr ein. Ich war aber so sicher, daß es das schöne Buch gibt und daß ich es finden werde für Ivan.

In dem Roman von Bachmann geht es um die Liebe zwischen der Ich-Erzählerin und Ivan, und dem dritten Mann Malina. Es tauchen noch die Kinder von Ivan auf, Béla und András, die Assistentin Fräulein Jellinek, und die Putzfrau oder das Hausmädchen Lina, aber sie verbleiben im Hintergrund, intervenieren nur jeweils kurz und besitzen keine eigenen Handlungsbögen. Die Handlung besteht einzig im Ungesagten zwischen den Liebenden selbst. Die Gespräche, die geführt werden, bleiben stets verhangen, wie hinter vorgehaltener Hand, hinter Jalousien. Sie werden nur angedeutet. Ihre Beschreibung gleitet über die Sprachoberfläche des Gesagten hinweg, deutet ein verborgenes, verschlüsseltes Geheimnis an, ohne es aber an irgendeiner Textstelle preiszugeben. Alles bleibt verschwommen, in Zeit und Raum uneindeutig miteinander in Kontakt, durch Erinnerung und Schmerz, durch Angst und Hoffnung verbunden, ohne ein Heute, ohne eine bestimmte Ungargasse 6:

… und kein Mensch außer ihr lebte, und sie hatte die Orientierung verloren … es war, als wäre alles in Bewegung geraten, Wellen aus Weidengezweig, die Fluten nahmen ihren eigenen Lauf … eine nie gekannte Unruhe war in ihr und legte sich schwer auf ihr Herz …

Malina erzählt insofern keine herkömmliche Geschichte. Abgebrochene Kommunikationen, Notenschlüssel, Gedichte, Legenden, Märchen und Briefe kommen zur Sprache, legen sich um die Ich-Erzählerin, die im Laufe des Romanes langsam an Konturen gewinnt, als Schatten und sprachlose Mitte, als Gestalt, die selbst nicht von sich zu sprechen vermag, die Sprache aber wie Schleier auf sich fallen lässt, um durch den Schleier, die Maskerade hindurch in Erscheinung treten zu können. Direkt benannt werden kann nichts. Das direkte Wort verprellt, stößt ab, verfehlt das Wesentliche, das unbenennbar und geschützt zwischen den harten Regeln der Grammatik und Semantik weilt und sich verbirgt. Bachmanns Stil erweist sich als Antwort auf Ludwig Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus, dessen siebter und letzter Abschnitt mit den Worten endet:

6.54: Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinauf gestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.

7: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.

Ludwig Wittgenstein aus: “Tractatus Logico-Philosophicus”

Bachmann schweigt aber nicht. Sie wirft zwar die Leiter des unmittelbaren Verständnisses weg, nicht aber des mittelbaren. Die Ich-Erzählerin hüllt sich ein, um sich zu ent-decken, und zwar durch das Schreiben und Beschreiben, Verschreiben und Unterscheiden. Direktes, entblößendes, alles ernüchternde Auf-den-Kopf-Zusagen wird konsequent vermieden. Sätze, die nur verletzend enden könnten, werden nur angedeutet oder erst gar nicht zuende geführt. Sie werden, so scheint es, nicht einmal gedacht:

Er legte zwei Finger auf seinen Mund, das erriet sie, er hieß sie schweigen, er bedeutete ihr, ihm zu folgen, und schlug seinen schwarzen Mantel um sie, damit niemand sie sehen konnte. Sie waren schwärzer als schwarz in der Nacht, und er führte sie und den Rappen, der leise seine Hufe aufsetzte und nicht wieherte, durch das Lager und ein Stück in die Steppe hinaus.

Die Stelle stammt aus der Legende Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran, die die Ich-Erzählerin schreibt, um Ivan zu gefallen, ihm eine schöne Geschichte zu bieten. Ivan nämlich beschwert sich bei ihr, dass sie zu negativ, zu leidend, zu hoffnungslos schreibt, und wünscht sich ein wundervolles, schönes, herrliches Buch, geschrieben aus einer Stimmung wie die lateinische Motette Exsultate, jubilate heraus. Die Ich-Erzählerin, die Ivan liebt und versucht, ihm näherzukommen, ihn zu verstehen, fühlt sich von diesem Kunstgeschmack unter Druck gesetzt. Malina beschreibt als Roman das Scheitern des Schreibens eines Buches, das Ivans Ansprüchen genügen könnte, die er unmissverständlich im ersten Teil des Romans, der Glücklich mit Ivan heißt, wie folgt zum Ausdruck bringt:

Er nimmt noch eines in die Hand und liest belustigt: TODESARTEN. Und von einem anderen Zettel liest er ab: Die ägyptische Finsternis. Ist das nicht deine Schrift, hast du das hingeschrieben? Da ich nicht antworte, sagt Ivan: Das gefällt mir nicht, ich habe mir schon so etwas Ähnliches gedacht, und alle diese Bücher, die hier herumstehen in deiner Gruft, die will doch niemand, warum gibt es nur solche Bücher, es muß auch andere geben, die müssen sein, wie EXSULTATE JUBILATE, damit man vor Freude aus der Haut fahren kann, du fährst doch auch oft vor Freude aus der Haut, warum also schreibst du nicht so.

Im Laufe des Romans emanzipiert sich die Ich-Erzählerin von diesem Anspruch. Bereits im zweiten Teil namens Der dritte Mann nimmt sie keine Rücksicht mehr auf dieses kulturelle, von Ivan repräsentierte Über-Ich, und klagt unverhohlen, mit sehr deutlichen Worten ihren Vater wegen seiner Mittäterschaft im nationalsozialistisch besetzten Österreich an. In harten, zerhackten Sequenzen beschreibt sie die Todesfuge zwischen Mord, Vergewaltigung, Missbrauch und Totschlag von Tausenden Frauen:

Das Krokodil öffnet manchmal schmachtend den großen Rachen, es hängen die Fetzen, Fleischfetzen von den anderen Frauen darin, und mir fallen die Namen aller Frauen ein, die es zerrissen hat, es schwimmt altes Blut auf dem Wasser, aber auch frisches Blut; ich weiß nicht, wie hungrig mein Vater heute ist.

Und auch im dritten Teil, Von den letzten Dingen, mit welchem der Roman endet, nimmt sie kein Blatt mehr vor den Mund, beschreibt die Ich-Erzählerin eine Existenz, in der sie von allen Seiten bedroht wird:

Das ist der Tisch, an dem es geschieht und später geschehen wird, und so ist es, bevor einem der Kopf abgeschlagen wird. Man darf noch einmal essen zuvor. Mein Kopf rollt im Restaurant Sacher auf den Teller, das Blut spritzt über das blütenweiße Damasttischtuch, mein Kopf ist gefallen und wird den Gästen gezeigt.

Die Bedrohung geht aber nicht von etwas Konkretem aus. Das Konkrete würde die Universalität der Bedrohung trivialisieren. Der Schmerz, die Verzweiflung, aber auch die Liebe, die Hoffnungen lassen sich nicht zuordnen, benennen, verorten, ohne sie zu verraten. Bachmanns Antwort auf Wittgensteins Tractatus lautet trotz dieser Vergeblichkeit schreiben, jedoch nicht, um zu urteilen, zu benennen, um zu folgern, sondern um durch das Schreiben das Wirkliche und Wirkende zu evozieren, in Sprache und Wortgestalt sich manifestieren zu lassen. Christa Wolf nennt es im Roman Kindheitsmuster:

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man allmählich zu schweigen aufhören.

Christa Wolf aus: “Kindheitsmuster”

Der Unterschied zum herkömmlichen Erzählen liegt darin, dass Bachmann Klarheit und Deutlichkeit um der Klarheit und Deutlichkeit willen vermeidet und auf diese Weise ein neues Sprechen verwirklicht. Sie spinnt zuerst kaum sichtbare Fäden, die sich jedoch langsam, im Verlaufe des Romans, in ein Erinnyennetz verwandeln, um dem allgegenwärtigen Medusenantlitz Einhalt gebieten und den Spiegel vorhalten zu können, und so Raum für Neues schafft:

Eine einzige Träne, nur im Winkel des einen Augs, entsteht, kommt aber nicht ins Rollen, kristallisiert sich in der kalten Luft, wird immer größer und größer, eine zweite riesige Kugel, die nicht mit der Welt herumkreisen möchte, sondern sich von der Welt löst und in den unendlichen Raum stürzt.

Der indirekte Stil von Malina verleitet zu vielen Deutungsversuchen, um das Schwebende, Freie wieder an eine, dann jedoch kontingente, Bedeutungsstruktur binden zu können – also die kreative, freie, überbordende Sprache und Erzählweise Bachmanns zu bannen und wieder auf den Boden der vermeintlichen Tatsachen zu bringen. Beispielsweise wird Malina oft als direkte Antwort auf Max Frischs Roman Mein Name sei Gantenbein verstanden. Beide Romane spüren der Sprache moderner Liebesbeziehungen nach. Im Gegensatz aber zu Frischs Roman verbleibt Malina in der klassischen Erzählperspektive: Eine verbindliche, nicht wie im Gantenbein eine erfundene Figur berichtet. Die Ich-Erzählerin besitzt einen durchgängigen Blick und eindeutige Perspektive auf eine aus den Fugen geratenen Welt.

Andere Lesarten entschlüsseln Malina als Max Frisch, oder Ivan als Paul Celan, und identifizieren die Ich-Erzählerin als Ingeborg Bachmann, die in Malina ihren eigenen Verbrennungstod prophezeit oder angekündigt habe. Oder die Dreiecksgeschichte wird kulturell-soziologisch interpretiert, in der Malina und die Ich-Erzählerin eine Figur bilden, also die angepassten und weniger an die Gesellschaft angepassten Persönlichkeitsanteile der Erzählerin symbolisieren, um daraufhin Malina als politischen Roman lesen und begreifen zu können. In ihrem Aufsatz Der Krieg mit anderen Mitteln, der vom Magazin Der Spiegel beauftragt, bezahlt, aber nicht abgedruckt worden ist, stellt Elfriede Jelinek Bachmanns Malina in ein solches politisches Spannungsfeld:

Nicht einmal ihrer unversehrten Integrität als Person kann die Ich-Erzählerin in der »Autobiographie« Malina gewiß sein. Im Verlauf der Erzählung wird Malina, der männliche Partner, zum Kannibalen, der die Identität der Frau schrittweise auffrißt, sich immer mehr in den Vordergrund spielt, bis die Frau in der Wand verschwunden ist und der Mann ihren Platz eingenommen hat.

Elfriede Jelinek aus: “Der Krieg mit anderen Mitteln”

Auch Gudrun Kohn-Waechter beschreibt in ihrer Monographie Das Verschwinden in der Wand die Entwicklung der Ich-Erzählerin als Zerstörung, Mord und Auflösungsprozess. Was all diese Perspektiven jedoch nicht benennen, ist die Intensität des Erzählens, die Verdichtung, Konzentration, die kompositorische Stimmigkeit des Romans selbst, der formal, nicht inhaltlich, eine ganz andere Lesart nahelegt, ihn nämlich als schriftstellerisches Unterfangen zu verstehen, das Unbenennbare durchs Nicht-Nennen zu benennen. In Malina tastet das Erzählen ein heimliches Zentrum ab, das den Roman zwar konzentrisch strukturiert, ohne in ihn aber preiszugeben, anzutasten, ohne ihn aufzutauchen zu lassen. Auf diese Weise vermag die Ich-Erzählerin ihrem Schmerz, ihrer Leidenschaft und Hoffnung, ihrer Inspiration und Utopie Ausdruck zu verleihen. Sie geht von ihnen aus, erhebt sie nicht zum Gegenstand, sondern verwendet sie als Linse und Filter, um die Erzählung zu strukturieren:

Ich schlafe nie mehr, nur noch am späten Morgen. Wer möchte schlafen in einem Nachtwald voller Fragen? Ich liege wach in der Nacht da und denke, die Hände hinter dem Kopf verschlungen, wie glücklich war ich, glücklich, und ich habe mir doch versprochen, ich will nie mehr klagen, niemand anklagen, wenn ich nur ein einziges Mal habe glücklich sein dürfen. Aber jetzt will ich dieses Glück verlängern, ich will es wie jeder, dem es widerfahren ist, dieses sich verabschiedende Glück, das seine Zeit gehabt hat.

Die Ich-Erzählerin will nicht träumen. Sie will in ihren Gedanken, Gefühlen, in ihren Erfahrungen leben, sie im Erzählen von neuem beginnen und enden lassen. Von diesem Gesichtspunkt aus lassen sich in Malina viele Stellen finden, in denen die Ich-Erzählerin fröhlich über alle Horizonte hinaus schreitet und sich neuen, unverwandten Welten öffnet, eine Sprechsituation etabliert, die den Schmerz als Ausgangspunkt, aber nicht als Endpunkt setzt. Sie sehnt neue Erfahrungshorizonte herbei, verabschiedet alte und überkommene Urteile, indem sie als Erzählerin verschwindet und die Welt als Stimmung so ungemindert wie möglich zum Ausdruck kommen lässt. Wenig Romane besitzen diese Breite an Utopie und Optimismus. Seine Sprache, seine Wörter lassen sich von nichts und niemandem mehr, auch nicht von Ivan oder Wittgenstein, irgendwelche Grenzen der Sinngebung aufoktroyieren:

Ein Tag wird kommen, an dem die Menschen die Savannen und die Steppen wiederentdecken, hinausströmen werden sie und ihrer Sklaverei ein Ende machen, die Tiere werden unter der hohen Sonne zu den Menschen treten, die frei sind, und sie werden in Eintracht leben, die Riesenschildkröten, die Elefanten, die Wisente, und die Könige des Dschungels und der Wüste werden sich mit den befreiten Menschen vereinbaren, sie werden aus einem Wasser trinken, sie werden die gereinigte Luft atmen, sie werden sich nicht zerfleischen, es wird der Anfang sein, es wird der Anfang sein für das ganze Leben …

Bachmanns Ich-Erzählerin kennt keine Denkverbote, keine Institutionen, Kapazitäten und Autoritäten, die sie nicht für das Glück, für den Frieden, die Fröhlichkeit und Freude ihrer Welt hinterfragen würde. Sie schreibt aus keinem besonderen Heute heraus. Das Partikulare als historisch-verbindliches Koordinatensystem verschwindet in der Stimmung. Sie will nichts festhalten. Sie will loslösen, befreien, die Sinne entriegeln, sich nicht einigeln oder einrichten. Sie möchte sich und den anderen, Ivan, sich und die Welt erfahren:

Mein Du für Ivan ist ungenau, es kann sich verfärben, verdunkeln, lichten, es kann spröde, mild oder zaghaft werden, unbegrenzt ist die Skala seiner Expressionen, es kann auch ganz allein, in großen Intervallen, gesagt werden und viele Male sirenenhaft, immer wieder verlockend neu, aber immer noch ist es nicht mit dem Ton, mit jenem Ausdruck gesagt worden, den ich in mir höre, wenn ich unfähig bin, vor Ivan ein Wort herauszubringen. Vor ihm nicht, aber inwendig werde ich eines Tages das Du vollenden. Es wird das Vollkommene sein.

In Malina kommt kein zerstörtes, sondern ein gerettetes Ich zum Ausdruck. Die Ich-Erzählerin jongliert mit der Sprache, mit den Sätzen, nach Belieben, ohne gegen sie, ihre innere, heimliche und lyrische Musikalität zu verstoßen. So lassen sich auch die Notenschlüssel verstehen, das Bildhafte, die verschiedenen Erzählformen von Gedicht zur Legende, vom Bericht zum Interview, zwischen Briefwechseln und Telefonaten und Aussprachen unter Liebenden. In Bachmanns Roman tauchen sämtliche Begegnungs- und Kommunikationsszenarien auf. Sie umschließen das Individuum, aber sperren es nicht ein, da die Sprache nicht als Gegner, als zu begrenzendes, sondern als ozeanisches Medium begriffen wird, das ein Du erlaubt, sich wie das Ich zu entfalten, dem Ich im Du, das Du im Ich begegnend, und zwar durch poetische Entgrenzung:

Meine Lieblings-, wie sagten Sie bloß? Landschaften, Tiere, Pflanzen? Lieblings-? Bücher, Musik, Baustile, Malerei? Ich habe keine Lieblingstiere, keine Lieblingsmoskitos, Lieblingskäfer, Lieblingswürmer, beim besten Willen kann ich Ihnen nicht sagen, welche Vögel oder Fische oder Raubtiere ich vorziehe, auch wählen zu müssen, viel allgemeiner, zwischen Organischem und Anorganischem, würde mir schwerfallen.

Versucht Max Frisch im Mein Name sei Gantenbein dem Ich auf den Pelz zu rücken, indem dieses von vielen Perspektiven, Beobachterpositionen aus betrachtet wird, so geht Ingeborg Bachmann den entgegengesetzten Weg, nicht nach außen, nicht in die soziale Dimension, sondern nach innen, in die Psyche des erlebenden, sich erfahrenden, dem alle Gefühle begleitenden Ich, das zu verstehen sucht. Malina wehrt sich dagegen als Liebesroman oder pathologisches Dokument einer gescheiterten Beziehung gelesen zu werden. Zu sehr drängt Absatz um Absatz die Poesie in den Vordergrund, nicht als Reim, nicht als abgesetztes Sprachbild, vielmehr als den Sinn durchschreitende Sinnlichkeit, die Treue zum Erlebten, das sich nicht mit einem einfach Wort als Beschreibung und Benennung zufrieden geben kann. Die lyrische Sprache als Roman formalisiert löst so bewusst oder unbewusst das Problem, das sich Wittgenstein gestellt hat und Ingeborg Bachmann in ihrem Radio-Essay Sagbares und Unsagbares aus dem Jahr 1953 wie folgt fasst:

Und da die Sprache ein Labyrinth von Wegen ist – wie er [Wittgenstein] sie an einer anderen Stelle nennt –, so muss die Philosophie den Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel der Sprache aufnehmen. Sie muss Luftgebäude zerstören und den Grund der Sprache freilegen, sie muss einer Therapie gleich sein, denn die philosophischen Probleme sind Krankheiten, die geheilt werden müssen. Nicht Lösung, sondern Heilung fordert er. Somit hat die Philosophie eine paradoxe Aufgabe zu leisten: die Beseitigung der Philosophie.

Ingeborg Bachmann aus: “Werke 4: Essays, Reden”

In Malina überträgt Ingeborg Bachmann diese Aufgabe der Dichtung, auf dass diese die Wunden heilt, die die Erfahrung geschlagen hat. Sie spricht, ohne zu sprechen. Sie zeigt, ohne zu zeigen. Sie dichtet, ohne zu reimen, und schreibt auf diese Weise einen heilenden Abschiedsbrief an eine gescheiterte Hoffnung. Ihr eigener Text katapultiert sie aus der Enge der eigenen Wohnung und Rollenvorstellungen heraus. In diesem Sinne ist Bachmanns Roman keine Erzählung über einen Mord, sondern über eine Befreiungsgeschichte:

Ich bin in den Spiegel getreten, ich war im Spiegel verschwunden, ich habe in die Zukunft gesehen, ich war einig mit mir und ich bin wieder uneins mit mir. Ich blinzle, wieder wach, in den Spiegel, mit einem Stift den Lidrand schraffierend. Ich kann es aufgeben. Einen Augenblick lang war ich unsterblich und ich, ich war nicht da für Ivan und habe nicht in Ivan gelebt, es war ohne Bedeutung.

Ingeborg Bachmann schreibt über ein lyrisches Ich, das sich keine Welt aufdrängen lassen will und lieber verschwindet, als sich in schlechter Sprache einzurichten.

8 Antworten auf „Ingeborg Bachmann: Malina“

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Das freut mich sehr. Es gibt noch so viel mehr über dieses Buch zu schreiben. Vielleicht tue ich dies, wenn ich die anderen Fragment-Romane gelesen habe. Schön, dass es dir gefallen. Viele Grüße!!

  1. Zu: Ingeborg Bachmann
    Erklär mir, Liebe

    Die Liebe die nur schmerzhaft streift
    die Innenwand berührt durch Deine Augen
    Du lässt nicht los in Deiner Wiederkehr
    lebendiger innerer Umarmung

    in meinen Armen die Du im Traum begrüsst
    bringe ich Dich auf die dunkle Seite
    am Portal zum Eingang meiner Kindheit vor die Kirche

    die Sterne sind dieselben noch
    unter dem dunklen Dach des Himmels leuchten sie
    wie damals noch

    rede mir bitte nicht nochmals
    von Deinem vertrauten Gott
    kein Mensch brannte mir so tief
    in mein Gemüt wie Du

    das draussen woher Du wie aus dem Nichts
    in meinem Innern der Gedanken
    Deine Wohnstatt baust verlässt und wiederkehrst

    ich weiss ich werde Dich an Leib und Seele
    ich habe Dich nicht berührt
    ich werde auch ohne Dich zugrunde gehen

    ich mag den Vergleich von Bildern nicht
    keiner soll mir Liebe erklären nicht
    ich weiss wie sie trügt und lügt
    niemand kann sie begreifen leben und erklären

    was ich weine wie ich mein Haupt
    seit meiner Kindheit meine Augen vor meine Füsse bohre
    damit ich vom Bild der Frau
    die wie Du ein Auge auf mich geworfen
    damit nicht vergebens auf eine Antwort
    auf meine Haut der Sinne warte

    erkläre mir im Traum nicht
    vom weben und gedeihen
    dem auf und ab
    in mir ist eine
    ich bin nicht der Schöpfer
    meiner eigenen Welt
    in der ich innen und aussen
    eine Nebenrolle spiele

    kein Stein kein Ding
    kein anderer
    kann mein allein
    mich erweichen
    und mir wissen
    nicht mal Du
    die ich so vermisse

    rede mit nicht von Wasser und der Welle
    die alles fügt bis hin in die letze Meeresstille
    ich folge und suche nach dem Sinn im Traum
    der die Geschichten nicht auslässt
    zwischen Seele Dir und mir
    die Liebe tut nichts liebes
    wenn wir es nicht wacker tun

  2. Die Sprache ist solange ein Ding, bis es in uns selbst, Wort für Wort wiederbelebt wird. Der Menschenfreund der mit seiner Sprachgewalt den Argus Stall ausmisten will. Der Grund alles Gesagten liegt in der Seele selbst. Die Seele selbst, sie selbst heilt jeden, auch jene Gestalten, die sich den Sinn von sein, über das wirkliche Leben in allem überheben. Kein Wort, kann unser Leben vom Keim auf führen und lenken. Das Leben in allem ist das Geschenk unserer Mütter. Die Männer mit ihrer reinen autonomen keuschen Vernunft, bringen der Verstrickungen der Nabelschnur zur Welt, der Innenwelt, von Seele und Geist, keine menschenwürdige, der Allgemeinheit keine nachhaltige, für eine jedem selbst eine begehbare Lösung.
    Ich bin in keinen Spiegel getreten, ich bin nur mein Abbild im Spiegel. Ich kann Zukunft erahnen, ich war nie einig und werde mit mir nie einig werden können. Ich blinzle nicht in den Spiegel, ich war immer für die Frau, die Frau in mir hat mich gelebt, es war mir von grösster Bedeutung.

    Ich mag kein ein lyrisches Ich, ich muss mir die Welt von ausssen, mir Verstrickungen aufdrängen lassen. Genauso wie die Erinnerungen und Träume der Seele, die mir sagt was ich in meiner kurzen Zeit mir bin. Zur Einsicht, ob in gehobelter Sprache oder nicht, in Widersprüchen, die ich tagtäglich gegen meine Gedankenwelt, ob ich will oder nicht zu deuten habe, zum besser wissen, nicht für andere für mich selbst.

Kommentar verfassenAntwort abbrechen

Die mobile Version verlassen
%%footer%%