Franz Kafka: „Der Prozess“

Dr. Jekyll und Mr. Hyde im Zeitalter der Bohème …

Interpretationsmodelle (3): Im Rahmen der Reihe Interpretationsmodelle, von denen es bereits einen ersten Teil mit Theodor W. Adornos Skoteinos und einen zweiten mit Jacques Derrida Gesetzeskraft gibt, veranschauliche ich dieses Mal anhand Franz Kafkas Der Prozess, inwieweit sich Interpretationen wertfrei darin unterscheiden lassen, wie sehr sie dem Textganzen und nicht nur gewissen Teilaspekten entsprechen.  Deutungen und Inhalt eines Romanes lassen sich ja selbstredend nach Belieben konstruieren, genauso wie Wertungen, Urteile, Eindrücke und Impressionen. Dies gilt selbst dann, wenn Interpretationen die Textgesamtheit berücksichtigen, aber erst recht im Falle einer dezisionistischen Textstellenauswahl. Als Beispiel dient hier Jacques Derridas dekonstruktivistisches Verfahren beim Besprechen von Walter Benjamins Text Zur Kritik der Gewalt. Noch deutlicher aber lässt sich dies an den Interpretation bezüglich Kafkas Der Prozess veranschaulichen:

»Sie dürfen nicht weggehen, Sie sind ja verhaftet.«
»Es sieht so aus«, sagte K.
»Und warum denn?« fragte er dann. »Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das zu sagen. Gehen Sie in Ihr Zimmer und warten Sie. Das Verfahren ist nun einmal eingeleitet, und Sie werden alles zur richtigen Zeit erfahren. Ich gehe über meinen Auftrag hinaus, wenn ich Ihnen so freundschaftlich zurede. Aber ich hoffe, es hört es niemand sonst als Franz, und der ist selbst gegen alle Vorschrift freundlich zu Ihnen. Wenn Sie auch weiterhin so viel Glück haben wie bei der Bestimmung Ihrer Wächter, dann können Sie zuversichtlich sein.«

Franz Kafka aus: “Der Prozess”
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Kalenderwoche 46-47. Lesebericht.

Wegen Wintersmüdigkeit, Angeschlagenheit und einer allgemeinen Denkträgheit gibt es nicht viel zu berichten. Hauptsächlich beschäftigte ich mich in den letzten zwei Wochen mit Elfriede Jelineks Angabe der Person. Im Laufe der Lektüre kristallisierte sich heraus, dass vieles in Jelineks neuestem Roman auf Franz Kafkas Der Prozess verwies. Zu meinem Schrecken stellte ich aber fest, dass die Kafka-Lektüre nun schon Jahrzehnte zurückliegt und ich mich kaum noch an Details erinnerte. Nur schemenhaft geisterten die Szenen in meinem Gedächtnis herum. Erschwerend kam hinzu, dass in meinem Exemplar von Der Prozess gar keine Anstreichungen und Anmerkungen zu finden gewesen sind. Mir blieb also aus Konsistenzgründen gar nichts anderes übrig, als den Roman erneut zu lesen, um meinen Eindruck, dass dieser eng mit Jelineks neustem Roman verknüpft ist, auch am Text begründen zu können. Also las ich Der Prozess [Max Brod-Ausgabe] erneut, was, je genauer ich las, zu immer mehr Verwirrung Anlass gab, die nur kurz von narrativen Stellen wie dieser unterbrochen wurde:

An einem Wintervormittag – draußen fiel Schnee im trüben Licht – saß K., trotz der frühen Stunde schon äußerst müde, in seinem Büro. Um sich wenigstens vor den unteren Beamten zu schützen, hatte er dem Diener den Auftrag gegeben, niemanden von ihnen einzulassen, da er mit einer größeren Arbeit beschäftigt sei. Aber statt zu arbeiten, drehte er sich in seinem Sessel, verschob langsam einige Gegenstände auf dem Tisch, ließ dann aber, ohne es zu wissen, den ganzen Arm ausgestreckt auf der Tischplatte liegen und blieb mit gesenktem Kopf unbeweglich sitzen.

Franz Kafka aus: “Der Prozess”
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Elfriede Jelinek: „Angabe der Person“

Kommunikativ schweigen und doch schreiben …

Die Texte von Elfriede Jelinek changieren stets zwischen den Sprachwelten. Sie setzen sich aus Zitaten, Pastiches, aus den verschiedensten Quellen zusammen. Die Schreibende nimmt alles auf, hört Radio, sieht fern, liest Zeitung, Bücher, Theaterstücke, um sich Stichwörter geben zu lassen, mithilfe derer sie improvisierend, paraphrasierend den Rahmen ihrer Gesamtkonzeption füllt. Die Massenmedien taugen als Delphisches Orakel und fungieren wie das Soufflieren im Theater. Konsequenterweise verwirklicht ein solches Schreiben keine hermetische, zeitenthobene Form. Alles bleibt und wird Kommentar. Ob dieser sich als Theaterstück, Blogbeitrag oder Roman realisiert, erscheint nebensächlich. Elfriede Jelinek bricht also kein Schweigen, wenn sie nach 22-jähriger Abstinenz wieder einmal einen verlagsvertriebenen Roman vorlegt, denn auch ohne Roman gab es in dieser Zeit viel von ihr zu hören und zu lesen, bspw. im Theater oder auf ihrem Blog. In Angabe der Person greift sie nun nach langer Zeit wieder zur Prosaform:

Der eine Satz weiß nicht, was der andre zu bedeuten hat, sie hören nicht auf mich, sie hören nicht, was ich sage, sie fühlen nicht, was ich höre, die blöden Sätze, nein, umgekehrt, sie hören nicht, was ich fühle, sie sagen etwas, sie sagen etwas dagegen, doch was sie von mir wollen, das sagen sie nicht, das wissen sie.

Elfriede Jelinek aus: “Angabe der Person”
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