Sigmund Freud: „Jenseits des Lustprinzips“

Einem neuen dynamischen Materiebegriff entgegen.

Einer der Schlüsseltexte der klassischen Psychoanalyse erschien 1921 und heißt Jenseits des Lustprinzips. In diesem Aufsatz führt Sigmund Freud zum ersten Mal den Todestrieb ein, der zu Zerwürfnissen innerhalb der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung führte. Die meisten Psychoanalytiker, bspw. Wilhelm Reich, versuchten weiterhin, Aggression als Reaktion auf sozial auferlegte Entsagung und Frustration zurückzuführen. Sigmund Freud bestand jedoch auf seiner Neuerung, zumal sie einen gesicherten Begriff für die von ihm beobachteten selbstzerstörerischen Tendenzen des Menschen liefert. Die Lektüre von Marie Kjos Fonns Roman Heroin Chic bot nun einen willkommenen Anlass, sich erneut und eingehender mit Freuds metaphysischen Spekulationen auseinanderzusetzen:

Irgend einmal wurden in unbelebter Materie durch eine noch ganz unvorstellbare Krafteinwirkung die Eigenschaften des Lebenden erweckt. Vielleicht war es ein Vorgang vorbildlich ähnlich jenem anderen, der in einer gewissen Schicht der lebenden Materie später das Bewußtsein entstehen ließ. Die damals entstandene Spannung in dem vorhin unbelebten Stoff trachtete darnach, sich abzugleichen; es war der erste Trieb gegeben, der, zum Leblosen zurückzukehren.

Sigmund Freud aus: “Jenseits des Lustprinzips
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Ina Kramer: „Im Farindelwald“

Utopisch auf Hermesflügeln des Erzählens.

Das phantastische Element gehörte von Anfang an zu den Mitteln der Literatur. Sagen und Anekdoten, Legenden und Abenteuer erlaubten, ja beförderten das Freischweifen der Imagination, das poetische Entriegeln und Tagträumen der Ernst Bloch‘schen utopischen Sinne. Es reicht an Ovids Metamorphosen, Homers Odyssee, an Dante Alighieris Göttliche Komödie oder Miguel de Cervantes Saavedras Don Quijote zu erinnern. Sie enthalten phantastische Elemente, die oftmals viel näher an Fantasy-Literatur neuerer Prägung wie J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe oder C.S. Lewis Die Chroniken von Narnia reichen, als üblicherweise angenommen wird. Auf eine gewisse Weise hat Fantasy viel mehr mit der klassischen Literatur gemein als Werke, die sich in ihrer direkten und sie auch zitierende Nachfolge sehen wie Siegfried Lenz Die Deutschstunde, Martin Walsers Ein fliehendes Pferd oder bspw. Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns, die allesamt dokumentarisch-prosaisch realistisch verfahren. Genre-behaftete Romanreihen, die üblicherweise nicht zur anspruchsvollen Literatur gezählt werden, warten deshalb unter Umständen mit Überraschungen auf. Ein Beispiel ist Ina Kramers Roman Im Farindelwald, der in der Reihe Das Schwarze Auge 1996 erschien:

Sie hörte die Träume des jungen Blaufalken, der am gestrigen Tag zum ersten Mal sein Nest verlassen hatte, sie hörte die Gedanken der alten Esche, aus dem ewigen Kreislauf der Jahreszeiten, aus Wachsen und Beharren gewoben. Sie spürte die Neugierde und Ungeduld des Bächleins und das Lied der unsichtbaren Wesen, die in ihm und an seinen Ufern wohnten, und sie atmete die ruhigen Atemzüge der Erde.

Ina Kramer aus: “Im Farindelwald”
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Susanne Abel: „Was ich nie gesagt habe“

Eine Reise durchs kulturelle Unbewusste … Spiegel Belletristik-Bestseller (27/2022)

Gibt es eine in sich runde Form, die aus konsequenter Formlosigkeit besteht? Ein Erzählen, das so naturalistisch daher kommt, dass der leiseste Anspruch an Wortwahl, Satzkomplexität, an überraschenden grammatikalischen Strukturen ins Leere geht? Tatsächlich gibt es diese Form des nüchternen, fast aus dem Leben gegriffenen Erzählens, eine Art Protokoll des Seelenlebens, ein Traum, ein Trauma frei von der Leber weg geschrieben. Ein Beispiel dafür ist Susanne Abels Gretchen-Reihe, in der Greta „Gretchen“ Schönaich und Konrad „Conny“ Monderath einen Neuanfang inmitten der Katastrophe suchen und versuchen:

Wie jeden Sonntag schlenderten sie den Berg hinauf. Rechts und links breiteten sich Wiesen aus, auf denen erstes zartes Grün sprießte, das eingerahmt war von Sträuchern, deren Knospen sich von den Sonnenstrahlen ins Leben küssen ließen. Es roch nach Neuanfang und Aufbruch. Conny wusste, heute musste er es ihr sagen. Sie bogen auf den Philosophenweg ein, und er steuerte gezielt das Philosophengärtchen an. »Sollen wir uns da hinten auf diese Bank setzen?« »Welche?«, fragte Greta. »Die unter der Buche.«

Susanne Abel aus: “Was ich nie gesagt habe”
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Kalenderwoche 21: Lesebericht.

Zwischen Utopie und Dystopie: Celan.

Zu schnell gelesen und dann auch noch zu langsam geschrieben, oder zu viel und zu wenig, je nach dem. Ich komme mit meinen Rezensionen nicht hinterher. Viele Assoziationen liegen und fliegen umher, suchen nach Verbindung und Verknüpfung, Zitate durchstöbernd, um zumindest eine Halbordnung zu bewerkstelligen. Im Arbeitstrott leider schwer zu bewerkstelligen, und dann schießt noch der neue Uwe Tellkamp-Roman dazwischen, lenkt von Sibylle Berg ab, und lässt noch gerade das David Wonschewski-Leseerlebnis zu Wort kommen. Bei all dem Gezank lockte mich letztlich der geruhsame Ernst Bloch in seine ruhige Ecke, wo er vom Abenteuer Leben schwadronierte, ein leises, langsames, schönes Reden um den heißen Brei, das manche Glück nennen.

Der Archetyp: Höchstes Gut ist der lnvarianzinhalt des glücklichsten Staunens, sein Besitz wäre der, welcher verwandelt im Augenblick und eben als dieser Augenblick, zu seinem völlig gelösten Dass.

Ernst Boch aus: “Das Prinzip Hoffnung”
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Friederike Mayröcker: “da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete”

Ein ewigwährender literarischer Frühling … nominiert für den Preis der Leipziger Buchchmesse 2021

Friederike Mayröcker legt mit „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ einen erstaunlichen, überraschenden, in seiner Breite und Tiefe einzigartigen Text vor. Zusammenfassend lässt es sich als poetisches Tagebuch begreifen. Es beginnt am 22.9.2017 und hört am 03.11.2019 auf. In unterschiedlichen Längen und Formaten reflektiert Mayröcker ihr Dasein, das Leben zwischen öffentlich und privat, zwischen berühmten Kollegen und unbekannten Freuden, in intimen Momenten und schmerzhaften Augenblicken. Der Text unterläuft die Einordnung Prosa und Lyrik, und deshalb nennt es die Autorin „ein Proem“ – diese Zwischenform erlaubt eine ungeahnte Freiheit, die abschrecken oder anziehen kann.

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