Ina Kramer: „Im Farindelwald“

Im Farindelwald
Utopisch auf Hermesflügeln des Erzählens.

Das phantastische Element gehörte von Anfang an zu den Mitteln der Literatur. Sagen und Anekdoten, Legenden und Abenteuer erlaubten, ja beförderten das Freischweifen der Imagination, das poetische Entriegeln und Tagträumen der Ernst Bloch‘schen utopischen Sinne. Es reicht an Ovids Metamorphosen, Homers Odyssee, an Dante Alighieris Göttliche Komödie oder Miguel de Cervantes Saavedras Don Quijote zu erinnern. Sie enthalten phantastische Elemente, die oftmals viel näher an Fantasy-Literatur neuerer Prägung wie J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe oder C.S. Lewis Die Chroniken von Narnia reichen, als üblicherweise angenommen wird. Auf eine gewisse Weise hat Fantasy viel mehr mit der klassischen Literatur gemein als Werke, die sich in ihrer direkten und sie auch zitierende Nachfolge sehen wie Siegfried Lenz Die Deutschstunde, Martin Walsers Ein fliehendes Pferd oder bspw. Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns, die allesamt dokumentarisch-prosaisch realistisch verfahren. Genre-behaftete Romanreihen, die üblicherweise nicht zur anspruchsvollen Literatur gezählt werden, warten deshalb unter Umständen mit Überraschungen auf. Ein Beispiel ist Ina Kramers Roman Im Farindelwald, der in der Reihe Das Schwarze Auge 1996 erschien:

Sie hörte die Träume des jungen Blaufalken, der am gestrigen Tag zum ersten Mal sein Nest verlassen hatte, sie hörte die Gedanken der alten Esche, aus dem ewigen Kreislauf der Jahreszeiten, aus Wachsen und Beharren gewoben. Sie spürte die Neugierde und Ungeduld des Bächleins und das Lied der unsichtbaren Wesen, die in ihm und an seinen Ufern wohnten, und sie atmete die ruhigen Atemzüge der Erde.

Ina Kramer aus: “Im Farindelwald”
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Susanna Clarke: “Piranesi”

Ein moderner Kafka zwischen allen Stühlen.

Die Strahlen der untergehenden Sonne schienen durch die Fenster, fielen auf die Oberfläche der Fluten und flossen wie Wellen aus goldenem Licht über die Decke der Treppe und die Gesichter der Statuen. Als die Nacht anbrach, lauschte ich den Liedern, die Der Mond und Die Sterne sangen, und ich sang mit. — Die Welt fühlte sich vollständig und intakt an, und ich, ihr Kind, füge mich nahtlos in sie ein. Nirgendwo gibt es irgendeinen Einschnitt, an dem ich eine Erinnerung nicht greifen kann, ein Verständnis sich mir entzieht. Der einzige Teil meines Daseins, in dem ich einen Bruch empfinde, ist dieses letzte Gespräch mit dem Anderen.“

“Piranesi” – Susanna Clarke

„Piranesi“ ist seltsam, und im seltsamen Dickicht sein eigenes Rätsel. Wie die Rätsel der Ägypter auch Rätsel für die Ägypter selbst waren, so verstrickt sich das Lesen in die eigene Hilflosigkeit. Die öden Gänge, das fahle Licht, die dahinplätschernden Tage des Ich-Erzählers, der sein Ich nicht kennt, kennen kann, oder dem er zu entfliehen sucht, erzeugen einen unheimlichen naturalistischen Sprachbezug, der selbst noch in der Übersetzung das Gruseln lehrt: nämlich das der Sprachlosigkeit, wenn Sprache zerfällt, bruchstückhaft dahinschwindet, die Inkohärenz der Gedanken unaufhaltsam voranschreitet und Namen zu Begriffen, Begriffe Namen werden, die nur in den Augen eines Anderen an Konturen gewinnen, von Augenblick zu Augenblick aber zu schwinden drohen.

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