Helga Schubert: „Der heutige Tag“

Selbstsuche unter Belastung, Liebe und Freiheitswunsch … Spiegel Belletristik-Bestseller (05/2023)

Tod und Krankheit kommen auf diese oder jene Weise fast in allen Romanen vor. Selten jedoch stehen sie völlig im Zentrum des beschriebenen Geschehens. Sie fungieren eher als Rahmen, als Randbegleitung, als eine Form der conditio humana, ein Schatten, der akzeptiert wird, ohne ihn völlig integrieren zu können. Derlei Versuche werden dennoch manchmal erneut unternommen. Hermann Brochs Roman Der Tod des Vergil und Arnold Metzgers philosophisches Hauptwerk Freiheit und Tod gehen dem Verschwinden dieser einer ganzen Welt nach, die mit Krankheit und Tod eines Menschen einhergehen. Helga Schubert geht mit ihrem neuesten Buch Der heutige Tag einen Mittelweg. Weder literarisch-poetisch noch theologisch-philosophisch erzählt die Ich-Erzählerin von ihrem Alltag, der hauptsächlich daraus besteht, eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung für ihren todkranken Ehemann Derden zu leisten:

Ich brachte Derden etwas zu trinken, leerte den Urinbeutel, der am Bett hing, sagte, dass ich nebenan noch schreibe und immer kommen würde, wenn er klopft, schaltete die Nachttischlampe aus, setzte mich auf seine Bettkante, zog das Deckbett über seine schmaler gewordenen Schultern, streichelte seinen Kopf, küsste seine Schläfen, seine Augenlider, er hatte sie schon beruhigt geschlossen, dann ging ich die zwei Stufen zurück zu meinem Arbeitsplatz.

Helga Schubert aus: „Der heutige Tag“
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Marie Gamillscheg: „Aufruhr der Meerestiere“

die Flucht vor sich selbst … Longlist für den Deutschen Buchpreis 2022

Ordnung und Evolution dienen Marie Gamillschegs Roman Aufruhr der Meerestiere als Aufhänger, um nach einem anschlussfähigen Narrativ dem eigenen Leben gegenüber zu suchen. Ordnung und Evolution schließen sich weder aus noch ein. Sie folgen aufeinander, spielen gegeneinander und miteinander, aber lassen sich schwerlich auf Kausalzusammenhänge reduzieren. Sie gleichen mehr Trägern eines polyphonen Handlungsgefüges, als Raum-Zeit-Differenten, und eignen sich so sehr für ein modernes Erzählen, das Wege aus Selbst- und Fremdzuschreibungen sucht. Hierzu gehören aus der Gegenwartsliteratur Kim de l’Horizons Blutbuch, Bernardine Evaristos Mädchen, Frau etc. oder Antje Rávik Strubels Blaue Frau. Bei Gamillscheg forscht eine Zoologin, Luise, über die Meerwalnuss, eine Art der Rippenquallen, die ihr eine ganz andere biologische Existenz vor Augen führt:

woraus nur zu schließen ist … was wiederum zeigt … die Rippenquallen einen ganz eigenen Zweig in der Evolution bilden, der sich noch vor den Schwämmen von allen anderen Tierstämmen abgespaltet hat, eine Art Schwesterngruppe zu allen anderen Lebewesen sozusagen, und dies wiederum zeigt, dass sich die Zelltypen für Muskel und das Nervensystem während der Evolution mehrfach entwickelt haben, was wiederum heißt, dass man sich endgültig von der Vorstellung einer linearen Entwicklung verabschieden muss, dass sich also alles stets vom Einfachen zum Komplexeren und immer weiterentwickelt …

Marie Gamillscheg aus: „Aufruhr der Meerestiere“
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Elke Engelhardt: „Sansibar oder andere gebrochene Versprechen“

… von einer Lyrik des sanften Zwischenklanges.

Der Gedichtband Sansibar von Elke Engelhardt tastet die Welt im Unmerklichen ab. Sein lyrisches Ich ist nicht laut. Es ist leise. Es macht nicht aufmerksam auf sich. Es bleibt in sich, ruhend. Sein Name „Sansibar“ spielt mit der Ferne, dem Fremden, die verheißungsvollen Weiten irgendwo im Indischen Ozean, an der Ostküste Afrikas, auf einer kleinen Insel unter sternenvoller Nacht. Doch der Titel und der Klang der Gedichte nehmen das Versprechen zurück. Sie sind gebrochen. Sie führen übers Weite ins Nahe, gebogen, zu sich zurück. Nicht die Weite, das Nahe verdichtet sich in den Gedichten, tritt aus dem Trott hinaus in die Welt:

Die Verlassenheit in den Zügen
Die leeren Blicke in den Straßen
Du trittst aus der Tür
in eine verlorene Landschaft
mit einer Haltung aus Kleingeld
nach dem sich niemand bückt

Elke Engelhardt aus: „Sansibar oder andere gebrochene Versprechen“
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