
Das Abarbeiten an den eigenen Eltern steht hoch im Kurs. Annie Ernaux, die diesjährige Nobelpreisträgerin für Literatur, hat hieraus ihr Œuvre entwickelt, bspw. in Das andere Mädchen oder Das Ereignis. Daniela Dröschers Ich-Erzählerin reflektiert über ihr Verhältnis zur Mutter in Lügen über meine Mutter und die Schiffskapitänin aus Marie Te Navarro in Über die See über das zu ihrem ebenfalls einst seefahrenden, nun kürzlich verstorbenen Vater. Eine völlig zerfahrene Familiensituation in 1960er Jahren Norwegens beschreibt Toril Brekke in Ein rostiger Klang von Freiheit und Fatma Aydemir in Dschinns für Deutschland Ende der 1990er Jahre. Diese sehr unterschiedlichen Beispiele besitzen neben dem Thema Eltern eine stilistisch figurative Gemeinsamkeit: Für Humor ist kein Platz. Tatjana Gromačas Ich-Erzählerin lässt sich in Die göttlichen Kindchen dagegen trotz grassierenden Bürgerkrieges und Familienzwists in Kroatien nicht den Mut nehmen und plaudert munter drauf los:
„Tatjana Gromača: „Die göttlichen Kindchen““ weiterlesenIn der kleinen Stadt, aus der Vater und Mutter kamen, nahmen die Menschen Antidepressiva. Alle nahmen unterschiedliche Betäubungsmittel, um alles akzeptieren zu können, was sie akzeptieren mussten, um sich über alles hinwegzusetzen, worüber man sich hinwegsetzen musste, um alles zu vergessen, was sie zu vergessen versuchten, um schließlich gleichgültige und passive Beobachter der Geschichte des allgemeinen Siechtums und des allgemeinen Wahnsinns in einer kleinen, pastoralen Umgebung zu werden.
Tatjana Gromača aus: “Die göttlichen Kindchen”