Werner Bräunig: „Rummelplatz“

Rummelplatz
… den aufrechten Gang einüben … Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse 2007

Der einzige, jedoch nicht fertiggestellte Roman Werner Bräunigs, Rummelplatz, erschien erst 2007, also lange nach dem Ende der DDR und somit auch nach seinem Tod. Er verschied nämlich bereits mit nur 42 Jahren am 14. August 1976. Rummelplatz ein Fragment zu nennen, wäre dennoch irreführend. Es lassen sich aus den Manuskripten in sich geschlossene Versionen kompilieren. Oft wird Rummelplatz dennoch nur im Zusammenhang mit der Kulturpolitik der DDR genannt, als Beispiel, wie der Staatsapparat vom 18. Dezember 1965 an, freie Meinungsäußerung und einen kritischen Kulturbetrieb bewusst und explizit immer mehr zu unterbinden versucht hat. Im Folgenden nun aber eine detaillierte literarische Begegnung. Bräunigs Rummelplatz als Roman und nicht als Symptom gelesen. Er beginnt mit dem Satz:

Die Nacht des zwölften zum dreizehnten Oktober schwieg in den deutschen Wäldern; ein milder Wind schlich über die Äcker, schlurfte durch die finsteren Städte des Jahres vier nach Hitler, kroch im Morgengrauen ostwärts über die Elbe, stieg über die Erzgebirgskämme, zupfte an den Transparenten, die schlaff in den Ruinen Magdeburgs hingen, ging behutsam durch die Buchenwälder des Ettersberges hinab zum Standbild der beiden großen Denker und den Häusern der noch größeren Vergesser, kräuselte den Staub der Braunkohlengruben, legte sich einen Augenblick in das riesige Fahnentuch vor der Berliner Universität Unter den Linden, rieselte über die märkischen Sandebenen und verlor sich schließlich in den Niederungen östlich der Oder.

Werner Bräunig aus: “Rummelplatz”

Der nächste Satz lautet nun direkt, die ganze Stimmung und Färbung des Romans vorwegnehmend:

Es war eine kühle Nacht, und die Menschen in den schlecht geheizten Wohnungen fröstelten.

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Annika Büsing: „Nordstadt“ [Das Debüt 2022]

Die Stimmen zu Annika Büsings Debütroman Nordstadt konstatieren einhellig, um es mit literaturundfeuilleton zu sagen: „eine flotte, unverblümte Sprache, die der prävalent vorherrschenden Gewalt voranschreitet.“ Büsing thematisiert prekäre soziale Konstellationen und Bedingungen, in denen sich ihre Figuren, ohne einen Ausweg zu sehen, wiederfinden. Hierfür setzt sie als „das sich wiederholende Element die Ironie“ ein, wie es aufklappen fasst, und literaturgefluester betont, dass die Sprache „manchmal ein wenig altmodisch“ wirkt und „manche eindrucksvolle Metaphern“ mehrmals zitiert werden. Wiederholungen und Thema ergeben einen eigenen „Sound“, denn Büsing „scheut sich nicht, Begehren in Worte zu fassen und entwickelt für ihre Heldin einen unangepassten, manchmal rotzigen und bisweilen sehr dem Mündlichen abgelauschten Ton“, wie auf buch-haltungen steht. Büsings Protagonistin nimmt tatsächlich kein Blatt vor den Mund:

Ich wurde schon alles Mögliche gefragt: Hast du einen Freund? Stehst du auf blasen? Hast du eine Schwester? Sind deine Brüste echt? (Wobei die Frage wirklich bescheuert ist! Meine Titten sehen nicht aus wie gemacht. Und sie sind auch nicht so groß wie gemachte Titten. Ich behaupte einfach mal, wer meine Titten nicht von gemachten Titten unterscheiden kann, der hat noch nicht viele Titten gesehen.) Könntest du das weiße Shirt mal mitbringen, wenn wir ficken?

Annika Büsing aus: “Nordstadt”
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Annie Ernaux: „Das andere Mädchen“

Annie Ernaux: „Das andere Mädchen“
Von einem Leben, das aufhörte zu leben … Spiegel Belletristik-Bestseller 43/2022.

Gespenster existieren auf unterschiedliche Arten und Weisen. Unabgeschlossene Prozesse, nicht verheilte Wunden und Schmerzen sind solche Möglichkeiten. Sie hallen nach. Das Echo einer unbewältigten Vergangenheit durchzieht die Gedanken, unterminiert das Gemüt, schillert und wabert durch die Sinnbildungen hindurch. Annie Ernaux schreibt in Das andere Mädchen von einem solchen Gespenst, das einer verstorbenen, von den Eltern verschwiegenen Schwester, und verdichtet und drängt eine Erinnerungsspur bis aufs äußerste und kürzeste wortkarg gedrängt:

Ich kann ihre Erzählung nicht Wort für Wort wiedergeben, nur den Inhalt und einige Sätze, die die Jahre bis heute überdauert haben, Sätze, die wie eine kalte, lautlose Flamme über mein Kinderleben hinwegfuhr, während ich weiter neben meiner Mutter herumsprang und mich drehte, mit gesenktem Kopf, um bloß keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Annie Ernaux aus: “Das andere Mädchen”
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Ralf Rothmann: „Die Nacht unterm Schnee“

Ralf Rothmann "Die Nacht unterm Schnee"
Vom Krieg und anderen Schrecken … Spiegel Belletristik-Bestseller (33/2022)

Selten verirren sich Romane in die Bestsellerlisten, die auf Erklärungen, Begründungen, in sich geschlossene Erzähllogiken verzichten. Typischerweise läuft alles auf die Struktur des klassischen Kriminalromans hinaus: Es wird von einer Tat, einem Ereignis berichtet, und der Roman liefert dann Grund und Auflösung nach. So verstanden stellt der Roman nur einen sehr langen Text zum kurzen Aufmacher dar. Als Beispiel sei Jan Weilers Der Markisenmann genannt, in der nach und nach der Grund aufgerollt wird, weshalb der Vater seine Tochter seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen hat, oder Susanne Abels Was ich dir nie gesagt habe, wo eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung auf eine Lüge, ein Stillschweigen, ein Geheimnis zurückgeführt wird. Ralf Rothmanns Roman Die Nacht unterm Schnee handelt ebenfalls von einer Familientragödie, aber diese stellt nur den Rahmen für ein sprachliches Unterfangen der besonderen Art dar:

Kein Laut in der Nacht, auch kein entfernter Geschützlärm, an dem sie sich orientieren konnte. Soweit sie sah, verschneites Ackerland, von braunen Panzerspuren durchfurcht, und manchmal, wenn sie die fiebrig heißen Lider schloss, war das Fallen der größeren Schneeflocken in ihrer Nähe zu hören, ein unendlich zartes Geräusch, wie es entsteht, wenn jemand mit feuchten Fingerkuppen auf die Tischplatte klopft. Doch als wäre diese Stille lediglich ein Raum für den Unglauben derer gewesen, die den Soldaten in den Ställen ausgeliefert waren, ein Atemholen des Entsetzens, zerriss im nächsten Moment ein langgezogener Laut die Nacht.

Ralf Rothmann aus: “Die Nacht unterm Schnee”
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Elfriede Jelinek: „Die Kinder der Toten“ (i: Inhalt)

Elfriede Jelinek: "Die Kinder der Toten"
Im toten Winkel der Geschichte … Nobelpreis für Literatur 2004.

Alle Bücher bestehen aus einem Buchdeckel und bedruckten Seiten. Sie genügen alle der Linearität der Sprache und bauen Wort für Wort eine Kommunikationswelt auf. Die Zeitlichkeit stellt sich von alleine ein. Das so eben gelesene Wort verknüpft sich mit anderen, weit zurückliegenden Worten, taucht unversehens auf und erzeugt immer wieder einen ungeahnten Sinn an Ort und Stelle. Stets holt sich das Lesen selbst ein, im steten Werden und Vergehen, Vergessen und Erinnern, und in der Art und Weise, wie dieses geschieht, unterscheiden sich die Bücher voneinander, nämlich darin, wie sie Kommunikation anstreben. Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten gibt sich widerborstig. Die Kommunikation biegt sich auf sich selbst zurück. Bevor ich also die Lektüre ihres opus magnum Revue passieren lassen kann, hier ein Klärungsversuch darüber, was auf den 667 Seiten eigentlich beschrieben wird. Von einer Orientierung spendenden Erzählinstanz kann nämlich kaum die Rede sein:

Also nein, das Feuer denkt nicht einen Augenblick lang nach! Seine spielerisch an allem und jedem zupfende Flut leckt jetzt aus der geöffneten Tür, was einst Fleisch war, verschwindet, und Buchstaben kriechen auf mich zu. Das Haus aus Sprache ist mir leider zusammengekracht. Die Sprache ist ja auch gleichzeitig schwungvoll und produktiv wie verhüllend, ähnlich dem Feuer, das diesen Schädel ausgespien hat, den Frau Frenzel da herumträgt […]

Elfriede Jelinek aus: “Die Kinder der Toten”
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Stefanie vor Schulte – Junge mit schwarzem Hahn

Von eigensinniger Tapferkeit in einer Welt des Grauens … auf der Shortlist des Bloggerdebütpreis

Selten tauchen Romane in der Gegenwart auf, die vom ersten Wort an, Eigensinn und Eigengesetzlichkeit beanspruchen. Sie wehren sich des Vergleichs und sprengen eine eigenartige Form von Zeitlichkeit. Stefanie vor Schultes Roman „Junge mit schwarzem Hahn“ gehört zu diesen Werken. Äußerlich eine Art Märchen, inhaltlich eine Fabel auf Widerständigkeit, rhythmisch eine Parabel aufs Erzählen, und doch sonderbar romantisch in seiner poetischen Vermittlung des Hässlichen mit dem Schönen.

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Susanne Abel: “Stay away from Gretchen”

Susanne Abel "Stay away from Gretchen"
Dokument eines Traumas … Spiegel Belletristik-Bestseller 35/2021

Das, neben Juli Zehs „Über Menschen“, die Bestseller-Listen in diesem Jahr dominierende Buch „Stay away from Gretchen – Eine unmögliche Liebe“ von Susanne Abel liest sich zwiespältig. Unbedarft und unvoreingenommen handelt es sich um einen Roman. Um was sonst?! Es wird die Liebesgeschichte zwischen Greta und Robert erzählt, sie, eine weiße deutsche, Adolf Hitler anhimmelnde Vertriebene, er ein schwarzer US-amerikanischer, Jazztrompete spielender Soldat stationiert in Heidelberg, wo sie sich im Nachkriegsdeutschland kennenlernen und ineinander verlieben. Beide arm, mittellos und weitestgehend den gesellschaftlichen Mächten ausgeliefert, die es nicht gut mit ihnen meinen, ein Romeo-und-Julia-Plot, wie er im Buche steht. Liest man aber genauer, so drängen sich ungewollt eine Menge von Fragen auf, kreisende, nicht enden-wollende Gedanken darüber, was eigentlich ein Buch von einem Roman unterscheidet, wann ein Text Literatur, wann ein Bericht eine Erzählung, wann etwas Fiktion, wann Protokoll, wann Dokumentation ist und wird. „Stay away from Gretchen“, so zeigt sich, schwebt windschief zwischen allen Kategorien und gehört weder in die eine noch in die andere. Es ist fast im guten wie im schlechten lebendige, zwischen Gelingen und Scheitern pendelnde Kommunikation – ein Anwesenheitsbericht.

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Leïla Slimani: “Das Land der Anderen”

Der Versuch einer Verarbeitung der Vergangenheit … (Spiegel Belletristik-Bestseller 23/2021)

Leïla Slimani beschreibt in ihrem Roman „Das Land der Anderen“ Ereignisse rund um eine Familie in Marokko kurz nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. Es ist schwierig, in diesem polyphonen Roman Hauptfiguren zu sondieren. Auf dem ersten Blick fällt diese Rolle Mathilde und Amine zu. Mathilde stammt aus dem elsässischen Frankreich, und Amine aus Meknès in Marokko. Sie verlieben sich ineinander, heiraten und ziehen gemeinsam nach Marokko. Zuerst wohnen sie bei Amines Mutter, wo auch sein Bruder und seine Schwester leben. Bald schon siedeln sie über zum Farmland des Erbes, bekommen Nachwuchs, und Amine beschließt, Olivenbaumzüchter zu werden. Die Ereignisse in Marokko beginnen sich zu überschlagen und das Buch endet dort, wo die Unabhängigkeitsbestrebungen beginnen oder ihren Abschluss finden.  

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Constantin Schreiber: “Die Kandidatin”

Wortsalat eines Augenblicksgedächtnisses … (Spiegel Belletristik-Bestseller 18/21)

In „Die Kandidatin“ von Constantin Schreiber wird eine Zukunftsvision der Bundesrepublik Deutschland im Gewande ihrer Gegenwart entworfen. Weit entfernt davon visionär zu sein, werden mit neuen Namen alte Sachverhalte in noch ältere Schläuche gegossen, und herauskommt eine Rhapsodie aneinander gereihter Wörter, die eher an einen Raptext erinnern als an einen Roman. Die Geschichte lässt sich nur als Szenerie wiedergeben: Eine muslimische Kanzlerkandidatin steht kurz vor ihrer Wahl und tritt vehement für das feministische Recht ein, einen Hijab tragen zu dürfen. Sie wird gefeiert und bekämpft. Sie reist nach China, ein Attentat auf sie findet statt, und am Ende läuft sie Gefahr, alles wegen eines schmutzigen kleinen Geheimnisses zu verlieren. Was in dem Roman über die Kanzlerkandidatin Sabah Hussein gesagt wird, gilt vor allem für den Roman selbst:

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Iris Hanika: “Echos Kammern”

Selbstbefreiende Mythen und von anderen Irrungen und Wirrungen … (Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmessenpreis 2021)

Iris Hanikas Roman handelt von zwei Frauen und zwei Städten, von Sophonisbe und Roxana, Dichterin und Ratgeberschreiberin, und von Berlin und New York, Kreuzberg und Manhattan. Es geht um Sinn, Enttäuschung, Liebe, Karriere, Beruf und Freundschaften. Es geht ums Reisen, um Partys, um Apple-Computer und das „Ingwer-Net“, um Gentrifizierung von Innenstädten, um Veränderungen und den gleichbleibenden Wechseln; vor allem jedoch geht es um den Versuch, seinen Platz in der Welt zu finden, um seinen Beobachtungsstandort zu kennzeichnen, ja, mittels eines solchen, eine Sprache zu finden und zu etablieren, auf dass die Dinge nicht sofort beliebig erscheinen, bar jeder Bedeutung des Inhalts beraubt und entleert werden.

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