Der einzige, jedoch nicht fertiggestellte Roman Werner Bräunigs, Rummelplatz, erschien erst 2007, also lange nach dem Ende der DDR und somit auch nach seinem Tod. Er verschied nämlich bereits mit nur 42 Jahren am 14. August 1976. Rummelplatz ein Fragment zu nennen, wäre dennoch irreführend. Es lassen sich aus den Manuskripten in sich geschlossene Versionen kompilieren. Oft wird Rummelplatz dennoch nur im Zusammenhang mit der Kulturpolitik der DDR genannt, als Beispiel, wie der Staatsapparat vom 18. Dezember 1965 an, freie Meinungsäußerung und einen kritischen Kulturbetrieb bewusst und explizit immer mehr zu unterbinden versucht hat. Im Folgenden nun aber eine detaillierte literarische Begegnung. Bräunigs Rummelplatz als Roman und nicht als Symptom gelesen. Er beginnt mit dem Satz:
Die Nacht des zwölften zum dreizehnten Oktober schwieg in den deutschen Wäldern; ein milder Wind schlich über die Äcker, schlurfte durch die finsteren Städte des Jahres vier nach Hitler, kroch im Morgengrauen ostwärts über die Elbe, stieg über die Erzgebirgskämme, zupfte an den Transparenten, die schlaff in den Ruinen Magdeburgs hingen, ging behutsam durch die Buchenwälder des Ettersberges hinab zum Standbild der beiden großen Denker und den Häusern der noch größeren Vergesser, kräuselte den Staub der Braunkohlengruben, legte sich einen Augenblick in das riesige Fahnentuch vor der Berliner Universität Unter den Linden, rieselte über die märkischen Sandebenen und verlor sich schließlich in den Niederungen östlich der Oder.
Werner Bräunig aus: “Rummelplatz”
Der nächste Satz lautet nun direkt, die ganze Stimmung und Färbung des Romans vorwegnehmend:
Es war eine kühle Nacht, und die Menschen in den schlecht geheizten Wohnungen fröstelten.
Inhalt/Plot:
In Rummelplatz dreht sich alles um das fiktive erzgebirgische Dorf Bermsthal und den dort angesiedelten Bergbaubetrieb der Wismut-AG. Die Hauptfigur heißt Hermann Fischer. Er ist von Beruf Steiger und hat eine Tochter namens Ruth. Als Aufsichtsperson im Bergbau zeichnet er sich verantwortlich für die ihm unterstellten Bergbauarbeiter, zu denen die neuangekommenen Arbeitskräfte, Christian Kleinschmidt, ein Akademikerkind, das eigentlich studieren will, und Peter Loose, aus sozial-prekären Verhältnissen, der zur Gewalttätigkeit, Spielsucht und Verantwortungslosigkeit neigt, gehören. Diese vier Figuren spannen nun das Hauptgerüst des langen und vielschichtigen Romans auf. Ihr Werdegang zwischen der Staatsgründung der DDR und dem 17. Juni 1953 wird jeweils in eigenen Kapiteln und Abschnitten nachgezeichnet.
Und nur manchmal, wenn der Alkohol [Peters] Blut schneller durch die Adern jagte und die Bilder ihn bedrängten in schroffem Wechsel, dann brach etwas auf in ihm, brach hervor aus dem Innersten und gab Ruhe erst dann, wenn er es mit immer schärferen Schnäpsen betäubte, wenn er das Bewußtsein ertränkte in Fünfundvierzigprozentigem. Einst hatte er davon geträumt, ein kühner Forscher und Entdecker zu werden, Heldentaten zu vollbringen und Abenteuer zu bestehen, in die Stratosphäre vorzudringen und auf den Grund des Meeres wie Piccard, Afrikaforscher wollte er werden, Jagdflieger, U-Boot-Kommandant, Mount-Everest-Bezwinger.
Jede einzelne Figur hat ihre eigenen Träume. Hermann Fischer will eine sichere Zukunft für seine Tochter, nachdem seine Frau Anna, Ruths Mutter, während seiner Inhaftierung als politischer Gefangener an Tuberkulose und Überarbeitung starb. Peter Loose will, wie das Zitat zeigte, Abenteurer, Weltenbummler, Reisender werden. Christian möchte studieren, sich den freien Künsten widmen; und Ruth Fischer träumt von Selbständigkeit und Gleichberechtigung als weibliche Maschinistin und Vorarbeiterin. Sie träumen auch von Liebe, Verständnis, Frieden, von einer besseren, nun aber in Trümmern vor ihnen liegenden Welt:
Hunger, Seuchen, Ruinen, Flüchtlingstrecks. Sanglos, klanglos traten da die Helden ab über Nacht […] Übrig blieb eine Welt ohne Glanz und Schminke, und ohne Hoffnung auch. Es pfiff nun eine Tonart, die hieß: Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen, eine gar einleuchtende Melodei, und am lautesten betete sie, wer sich noch nie nach Arbeit gedrängt hatte und auch fürderhin mit zwei linken Händen durchs Leben zu kommen gedachte.
In dieser Welt herrschen Not, Intrige, Verrat. Es gibt von allem zu wenig. Zu wenig Fachwissen, zu wenig Erfahrung, zu wenige Rohstoffe, zu wenig Zeit und Kraft. Rohre bersten. Stollen brechen ein. Normen werden nicht erfüllt. Nötige Ersatzteile können nicht geliefert werden. Zusätzlich zu all diesen Problemen gibt es den Ost-West-Konflikt, den Kalten Krieg, das ideologische Wettrennen, das Misstrauen, die Konkurrenz, welcher Teil Deutschlands zuerst den Aufschwung schafft. Vor diesem Hintergrund agieren und sprechen Bräunigs Figuren des Romans. Sie diskutieren, teilen Ängste, lernen sich kennen, verlieben, entfremden sich. Einen wirklichen Plot, im Sinne einer narrativen Handlungsführung, gibt es jedoch nicht.
Wie Leopold Bloom in James Joyce’ Ulysses einfach durch Dublin geht, der Ich-Erzähler von Die Ästhetik des Widerstandes seine Reisen und Erlebnisse beschreibt, oder Ulrich in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften mit seinen Freunden und Bekannten über seine Zeit und Existenz räsoniert, so gehen die Figuren in Werner Bräunigs Rummelplatz einfach ihrer Wege. Sie passen sich an, begehren auf, stoßen sowohl auf Beistand wie auf Widerstand. Thema, nicht Plot, von Bräunigs Roman ist die schaffende, arbeitende Durchdringung der Wirklichkeit, das Formen, Durchformen des Materiellen:
[Christian] begriff die Mechanik seines Körpers, begriff den Wechsel von Ruhe und Anstrengung, den Austausch von Spannung und Reserve. Er verlagerte die Belastung systematisch und verausgabte sich nicht. Er ordnete sich einem Rhythmus ein, den er nicht erfunden hatte, der in ihm war, oder zwischen ihm und dem Berg und der Maschine.
Er arbeitete.
Hätte er sein Gesicht sehen können, er hätte ihm weder die Erregung geglaubt noch die Gelöstheit. Er hätte die Konzentration nicht geglaubt, die Spannung nicht, und schon gar nicht die Freude. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht, der Hemdrücken war durchnäßt, er arbeitete, als könne er nie müde werden und als gäbe es keine Erschöpfung. Er fühlte sich imstande, den Berg zu besiegen, fertig zu werden mit dieser Arbeit und mit jeder; in der tiefsten Anspannung fühlte er sich entspannt.
Die dunkle Schwester von Werner Bräunig heißt Ayn Rand. Beide schreiben sich aus dem sozialistischen Realismus heraus, ohne ihre Wurzeln verleugnen zu können. Sie schreiben mit dem Materiellen, am Materiellen, um zu der, wie Christa Wolf es in ihrem Vorwort zu Rummelplatz sagt, wirklichkeitsgesättigten Prosa zu gelangen. Heißt die Figur bei Ayn Rand in Atlas Shrugged Dagny Taggard, so bei Bräunig in Rummelplatz Ruth Fischer:
Im Kreis der Freunde, inmitten dieser Landschaft wäre Ruth der Gedanke, daß es sich überhaupt um Arbeit handle, beinahe schon absurd erschienen. Es war Vergnügen und Selbstbestätigung, auferlegt in der Freiwilligkeit eines gemeinsamen Planes, den niemand angeordnet, den alle in gleichem Anteil entworfen hatten, war Austragungsort überschüssiger Kraft und Phantasie.
Thema und Zugang gleichen sich bei Bräunig und Rand teilweise bis ins kleinste Detail, jedoch unterscheiden sich stark, sobald Ayn Rand essayistisch und kulturpolitisch wird. Bräunig gleitet an keiner Stelle in Parolen und expressi verbi Provokationen ab.
Bevor ich nun zur Analyse der Form übergehe, möchte ich noch eine detaillierte Inhaltsangabe geben, da eine literarische Würdigung des kompositorischen Aspektes von Bräunigs Schreiben oft fehlt. Beispielsweise bespricht der Wikipedia-Artikel von Rummelplatz nicht das Buch, sondern eigenartigerweise nur die Reaktion auf dasselbe. Gleiches gilt für die meisten Rezensionen und Lesebesprechungen. Hier nun eine längliche, auch zum Überspringen geeignete, Zusammenfassung des in 3 Teilen und 20 Kapiteln unterteilten Romans:
Detaillierte Inhaltsgabe
- Christian Kleinschmidt, Sohn eines Professors, kommt in der Wismut-AG an, um dort auf einen Studienplatz zu warten. Er lernt Peter Loose kennen, dessen Vater als SS-Mann in einem englischen Kriegsgefangenlanger gestorben ist.
- Hermann Fischer, Steiger der Wismut-AG, weist Christian und Peter Arbeit zu; kehrt dann nach Hause zu seiner Tochter Ruth Fischer, mit der er nach dem Tuberkulose-Tod seiner Frau Anna, Ruths Mutter, alleine lebt.
- Nickel verlässt während einer politischen Kundgebung Ost-Berlin mit dem Zug.
- Peter, Christian und andere feiern auf dem Rummelplatz. Peter versucht den Überschlagschaukelrekord einzustellen und trifft sich mit Kellnerin Ingrids, die von der Tripperburg berichtet (Ende Teil I).
- Christian lebt sich in der Wismut ein. Fischer erinnert sich an sein Leben, an Anna, seine Kriegsgefangenschaft.
- Der neue Personalchef Nickel fängt in der Papierfabrik an, in der Ruth arbeitet. Irene Hollenkamp, Kusine von Christian, lebt in Westdeutschland und beginnt eine Affäre mit dem Journalisten Martin Lewin.
- Paul Zacharias, Kreissekretär, spaziert durch Leipzig. Christian besucht seinen Vater, Professor Reinhardt Kleinschmidt, und seine Schulfreunde, die alle studieren und von denen er sich durch die Bergarbeit mittlerweile sehr entfremdet fühlt.
- Nickel diskutiert mit Dr. Louis Jungandres, dem Produktionsleiter, über die Möglichkeit weiblicher Maschinenführungskräfte. Jungandres ist einverstanden. Peter trifft Ruth auf dem Waldweg. Peter prügelt sich mit jemandem und verliert Geld beim Kartenspiel.
- Peter besucht seine Mutter in Chemnitz und hat träumt, seinen Halbbruder Ullrich beschützen zu müssen.
- Irene trifft Hilmar Servatius im Herrenhaus der von Cramms zum Neptun-Fest. Christian, Peter, Nickel, Fischer fahren im Zug nach Berlin zum Parteitag. Ruth lässt die Papiermaschine leerlaufen und verursacht einen Produktionsausfall. Auf dem Nachhauseweg reflektiert sie über ihre und die Zukunft anderer Frauen.
- Fischer schlägt Polotnikow, dem Schachtleiter, Christian als Brigadier vor. Christian zögert aber, fährt zunächst nach Leipzig, seinen Vater im Krankenhaus besuchen, übernimmt dann aber in der Wismut Verantwortung.
- Irene entfremdet sich von Lewin. Ruth trifft Nickel während ihres Urlaubs an der Ostsee und werden ein Paar.
- Christian und Peter übererfüllen die Norm mit ihrer Brigade. Peter wird krankenhausreif geschlagen. Polotnikow fährt nach Moskau und sinniert über Wissenschaft.
- Die Papierfabrik-Leitung flieht in den Westen. Nickel und Jungandres schaffen es, dass die Produktion nicht zum Erliegen kommt. Jungandres erinnert sich. Nickel wird zu einem vierwöchigen Lehrgang abberufen. Ruth und er entfremden sich.
- Peter wird nach sechs Monaten aus dem Krankenhaus entlassen. Nicht mehr bergbautauglich lernt er auf Fahrer um. Christians Studium beginnt. Peter und Christian verabschieden sich. (Ende Teil II).
- Irene geht abgeklärt in die Verlobung mit Hilmar. Lewin reflektiert unterdessen über sein Leben, die Politik und den Journalismus und überlegt, Deutschland auf Dauer den Rücken zuzukehren.
- Ruth lehnt die Beförderung in die Kreisleitung ab. Sie will weiter in der Papierfabrik arbeiten. Peter lernt Margit Radochla kennen. Sie kommen zusammen, gehen auf ein Parkfest. Es kommt zu Ausschreitungen, und Peter wird festgenommen.
- Peter wird zu vier Jahren Haft verurteilt. Stalin stirbt. Das Leben geht weiter. Zacharias statt Fischer einen Besuch ab.
- Christian fährt zurück nach Bermsthal, zur Wismut, um seinen Arbeitsdienst in den Semesterferien abzuleisten. Er hört von Peters Inhaftierung, lernt Margit kennen und trifft Fischer. Dieser lädt ihn zu sich nach Hause ein. Ruth und Christian verlieben sich.
- Fischer und Christian fahren am 17. Juni 1953 nach Halle, um der Kreisleitung Pläne zur Stollenstabilisierung vorzulegen. Aufstände brechen aus. Fischer stellt sich am Händel-Denkmal auf einen Sockel und versucht die aufgebrachten Arbeiter zu beruhigen, Reminiszenzen ans Dritte Reich überkommen ihn, bricht zusammen und stirbt.
Stil/Sprache/Form:
Die Erzählposition, die Bräunig gewählt hat, wechselt zwischen einem personalen und auktorialen Erzählen. Sie lässt sich auf die einzelnen Gedanken der Figuren ein, aber stellt ebenfalls für diese nicht einsehbare, größere Zusammenhänge her, bspw., wenn es heißt: „hätte Christian sein Gesicht sehen können“ oder wenn die Landschaft rundum die Wismut-AG beschrieben wird, ohne dass ein konkreter Beobachter eingeführt worden wäre, der, bspw., aus einem Flugzeug heraus die Wälder und Flüsse, die Durchmischung der Siedlungen und Fabriken zu sehen vermöge. Es gibt den konkreten, aber auch allgemeinen, hoffnungsvollen, aber auch didaktischen Beobachter, der Fragen stellt, Schlüsse zieht und auch direkt sein Publikum anspricht:
Die Händel-Stadt Halle, Chemie-Stadt, rote Stadt, wie viele sagen, bekam einiges zu sehen an diesem Tag, das war nicht eben rot, das kann nun kaum noch bestritten werden. Diese Straßen, die eng waren wie gewisse Zeitläufte, die krumm waren und bucklig wie Vorurteile, diese Häuser, darin die Luft stockte und die Vergänglichkeit überdauerte, und die Hinterhöfe, wo die Grashalme nichts von Wiesen wußten und das gestapelte Brennholz nichts mehr vom Wald. Und die Leute, die da gehen, die haltet an, die fragt, was sie sehen. Einen zerfließenden Himmel, und einen Rauch, Schreie darin, Tierlaute, steigt aber nichts auf und sinkt nichts nieder, auch den Wind trefft ihr nicht mehr, der hat seinen Namen verlernt und zieht umher und zieht dorthin, wo kein Irregehn mehr ist, weil es keine Wege mehr gibt, sehn das die Leute?
Der Wechsel der Beschreibungsebenen durchdringt den ganzen Text. Oft beginnen Absätze mit Beobachtungen, mit Szenen, in denen von einem Er, einer Sie die Rede ist, die erst ein paar Seiten später benamst wird. Die Figur selbst trägt Allgemeines wie Besonderes mit sich, und Bräunig stilisiert diesen Aspekt durch ein Erzählen in Schwebe. Seine Präzision strebt nicht Einfachheit an, wo Komplexität herrscht. Er überlässt sich dem Strom, geht mit den Worten und schreibt seinem Gesamteindruck entgegen. Kurze und auch lange Episoden werden ineinandergeschoben. Erinnerungen und Beobachtungen schichten sich übereinander, durchdringen sich. Bräunig sammelt Material, verarbeitet es, und verhindert so eine bloße abstrakte Repräsentation oder einen entleerten Schematismus. Sein Schreiben hat zur Antithese die sinnfreie Organisation. Es dreht sich nicht, wie bspw. die Bürokratie, rein um sich selbst:
Manche von den Leuten, die mit ihren freien Stunden nichts anzufangen wissen, haben aus ihrer persönlichen Not eine gesellschaftliche Tugend gemacht; sie organisieren. Sie organisieren nicht etwa um eines Ergebnisses willen, nicht etwa zu dem Zweck, daß etwas Neues entstünde, nein; sie organisieren, damit organisiert ist. Es ist das einzige Perpetuum mobile, das je tatsächlich funktioniert hat: aus ihrer inneren Leere heraus organisieren sie ihre innere Leere weg. Sie drehen sich, und das befriedigt sie.
Bräunigs Stil zeichnet sich durch explizite Metaphern, versuchte Allegorien und freigiebig zugelassenen Pathos aus. Er würdigt den ganzen Menschen, alle Stärken und Schwächen, alle Möglichkeiten und Wirklichkeiten. Aus diesem Wirrwarr gibt es kein anderes Entkommen, als sich dem Sog des Beschreibens zu überlassen:
Und sie saßen noch lange so, sprachen wenig, die Tauben draußen gurrten schon lange nicht mehr. Ein Falter kam herein durch das geöffnete Fenster, flog die Lampe an, stieß seinen harten Brustpanzer am Schirm und taumelte zurück und flog das Licht von neuem an, das war ein Geräusch, das sie alle aufsehen ließ. Er kam immer wieder und prallte mit immer erregteren Flügelschlägen gegen das Glas – es war etwas Verzweifeltes in diesen vergeblichen Flügen. Erst als er sich ermattet und zitternd am Lampenbügel niederließ, war ihm zu helfen. Da nahm ihn Christian herab, vorsichtig, um die Flügel nicht zu berühren, die sofort wieder erregt schlugen, als er den Leib faßte, hob ihn herab und ließ ihn frei vor dem Fenster. Und Ruth war mit herübergekommen, sie zog die Gardine vor und ließ die Jalousie herab, es wäre wohl auch sonst ohne Sinn gewesen. Aber das ist nun nichts Besonderes.
Neben den stark deskriptiven Sequenzen arbeitet Bräunig mit einer kontrastierenden Figurenkonstellation, insbesondere in Bezug auf den Ost-West-Konflikt. Neben den Geschehnissen rund um die Wismut-AG gibt es vier Kapitel, in denen das Leben und die Liebesbeziehungen in Westdeutschland thematisch werden. Die Figuren in diesen Kapiteln, der Journalist Martin Lewin, Christianes Kusine Irene Hollkamp, und Hilmar Servatius, dienen in letzter Instanz als Gegenentwürfe zu Peter, Ruth und Christian. Bräunig bildet jedoch nicht schlicht eine Antithese. Die Figuren werden auf beiden Seiten der Elbe entwickelt. Es gibt Ähnlichkeiten, gleichgeartete Zweifel, nur eben andere, in einzelnen Momenten, das Leben in eine gewisse Richtung führenden Entscheidungen. Bräunig setzt hier literarisch um, was Walter Benjamin als Essenz der historisch-materialistischen Geschichtsschreibung bezeichnet hat:
Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt.
Walter Benjamin: “Über den Begriff der Geschichte” [These VI]
Irenes und Ruths Liebesleben läuft sehr parallel, Martin Lewin ähnelt in vielem Nickel, beide kritisch, engagiert und ängstlich. Ruth aber reflektiert über die Liebe, über das, was ihr wichtig ist, denkt über ihre Eltern, das Vertrauen, das gemeinsame Leben nach, über das, was sie sich wünscht. Irene dagegen lässt sich treiben, in Situationen bringen, nimmt an, akzeptiert, und lässt sich am Ende mittels Intrigen und Ränkespielen, die ihre Freundinnen und Familie aushecken, mit Hilmar Servatius verkuppeln. Sie interveniert im Augenblick der Gefahr eben nicht.
[Irene] wußte, daß sie in der Zeit mit Martin Lewin immer gewartet hatte, immer gehofft, auf nichts Bestimmtes, gewiß, aber dennoch gewartet. Jetzt erwartete sie nichts. Wenn Hilmar kam, war es gut, kam er nicht, war es nicht schlimm. […] Er war gleichbleibend aufmerksam gleichbleibend korrekt, gleichbleibend zärtlich. Aber vielleicht hatte er recht? Vielleicht war es überall so, und sie bildete sich alles nur ein? Schließlich war sie nicht mehr siebzehn.
Für Ruth gestaltet sich der Lebensweg anders. Sie gibt sich nicht für Nickel auf, noch gibt sie seinem Drängen nach, die Beförderung in die örtliche Kreisleitung zu akzeptieren. Sie will arbeiten, wachsen, sich entfalten:
Sie liebte [Nickel], und sie ahnte, daß die Liebe nichts vom Himmel Gefallenes, Ewiges ist, sondern daß sie erhalten werden muß und immer neu erworben. Sie kann nur wirklich leben, solange der Mensch in ihr wächst.
Gerade diese Einstellung und die späteren Reflexionen von Ruth gehen noch tiefer auf diesen Aspekt ein, erlauben ihr, sich von Nickel, der stets ein ruhiges, beschauliches Leben angestrebt hat, am Ende zu trennen und einen gleichgesinnten Partner in Christian zu finden. Die herkömmliche, bereits in der DDR verlautbarte Kritik an Bräunigs Kontrastmontage übersieht diesen Aspekt der Entscheidung, der den schematischen Charakter der Komposition unterläuft, indem nämlich aus ähnlichem Beginn ein gänzlich anderes Ende resultiert.
Kommunikativ-literarisches Resümee:
Die Quadratur des sozialistisch-realistischen Schreibens besteht aus Ayn Rands Atlas Shrugged, Werner Bräunigs Rummelplatz, Peter Weiss‘ Die Ästhetik des Widerstandes und Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand. Mit diesen Romanen als Eckpfeilern lassen sich die chronologisch, narrativ verfahrenden anderen Romane dieser Gattung analysieren und vergleichen. Romane gehen über die bloße Berichterstattung hinweg. Sie versuchen den Zeitgeist einzufangen, das Scheitern, das Überwinden, die Angst, den Mut zu erfassen, alles, was die Menschen, die Individuen in einer Situation gespürt und beschäftigt hat.
Die Glocken läuteten immer noch, ohne Ende, ohne Ende schwang sich der Vogelschwarm Klangschwarm Angstschwarm ins Blaue hinauf und fiel traurig zurück, und wenigstens die Straße, sah Franziska, hatte der Frieden verzaubert und jedes Haus mit Weiß bedeckt und Brüstungen und Fenstersimse beschneit. Linkerhand umging die kommaförmigen Schützenlöcher, Franziska, an seiner Hand, überhüpfte sie mit geschlossenen Füßen, sie wollte die Angst nicht hochkommen lassen: diese lakenbeflaggte Straße, Vaters feuchte Hand, der runde Stein war seitab ins Gras geschnellt, ein schlechtes Vorzeichen.
Brigitte Reimann aus: “Franziska Linkerhand”
Geschichte wird, wie in Ralf Rothmanns Die Nacht unterm Schnee, in den Details spürbar, in den winzigen Zwischenräumen, die sich durchs freie Beschreiben ergeben. Marcel Prousts mémoire involontaire in Verbindung mit Nikolai Alexejewitsch Ostrowskis Wie der Stahl gehärtet wurde, die Härte von Ayn Rands Polemik, kombiniert mit Reimanns Sensibilität fürs Fast-Unsichtbare, zwischen all diesen Möglichkeiten webt Werner Bräunigs Rummelplatz die Schicksale seiner Figuren:
Und vielleicht, daß eine Erinnerung war über Jahre zurück, nachts oder eines späten Abends: Es wird beginnen in meines Vaters Haus –vielleicht. Als Hermann Fischer die beiden Blätter sorgsam in einer Mappe verwahrte, als [Ruth und Christian] sich ansahen im Einverständnis getaner und wohlgeratener Arbeit und ihre stille Freude bemerkten, da war wohl doch etwas anderes noch, und sie hätten es fast schon benennen können. Aber wie heißt das, was uns so betrifft? Etwas, das noch so leis ist und kaum entstanden, soll man wohl nicht gleich mit Worten belegen. Es ist genug, wenn man es spürt.
In diesen Sätzen klingen die zartesten Anfänge einer glücklichen Beziehung an. Ruth und Christian, beide Fischer verbunden, Ruth geläutert von der Versuchung in der Parteihierarchie aufzusteigen, Christian davon, im Elfenbeinturm zu leben, finden sich und zwar nachdem sie den besagten Falter gerettet und in die Freiheit entlassen haben. Darstellen, ohne zu entblößen, beschreiben, ohne zu verfälschen, im Privaten das Öffentliche sehen, ohne es zu versuchen, darin also besteht Werner Bräunigs Stil in Rummelplatz. Es trägt die Wunden und Erfolge einer Zeit, in der alles in Trümmern lag, aber manche sich weigerten, aufzugeben.
tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.
Nächste Woche am 2. Mai 2023 auf Kommunikatives Lesen:
Julia Schochs aktueller Roman Das Liebespaar des Jahrhunderts.
Eine Kurzversion der Besprechung findet sich vorab bereits hier.
Wieder eine so kluge, umfassende Kritik, die jedem Feuilleton zur Zierde gereichte! Dabei gingen Buch und Autor komplett an mir vorbei – was offenbar ein Fehler ist. Ich werde es nachholen – intuitiv würde ich sagen, es korrespondiert nicht nur mit Reimann, die ich sehr schätze, sondern auch mit den Romanen von Wolfgang Hilbig?
Liebe Birgit, Danke für deine freundlichen Worte!! Werner Bräunig ist auch an mir völlig vorübergegangen – ich bin durch den Blog von Xeniana auf ihn aufmerksam geworden. Es ist tatsächlich eine sehr besondere Lektüre. In zwei Wochen bespreche ich Brigitte Reimann hier (Franziska Linkerhand), und ich gebe dir völlig recht, dass die beiden auf sehr untergründige und literarische Weise kommunizieren und interagieren. Es ist sehr spannend, Reimann und Bräunig parallel zu lesen. Wolfgang Hilbig kenne ich nicht (nur dem Namen nach), aber das werde ich nachholen! Vielen Dank für die Anknüpfungsvorschläge, denen ich gerne nachgehe! Eine weiterhin, hoffentlich bald sehr sonnige Woche wünschend, und viele Grüße!
Imponierende Buchbesprechung! :star: :star: :star:
Während mir Musils Ulrich und Leopold Bloom durchaus ein Begriff sind, kenne ich dieses Buch hier überhaupt nur durch Xenianas Einträge ein wenig, obwohl am Rande des Erzgebirges vor vielen Jahren mal geboren …
Dankeschön für die spitzenartige Präsentation!
LG vom Lu
Lieber Lu, Danke, dass dich die Besprechung neugierig werden lassen oder die Neugier, die Xeniana geweckt hat, vertiefen konnte. Werner Bräunigs “Rummelplatz” bietet sehr viel. Ich werde es bestimmt demnächst noch einmal lesen, aber die Figuren, der Mut, dieser Freiheitswunsch, die Wucht, all dies kommt in seinem Prosastil sehr zu Geltung und ich wünschte, es gäbe noch andere Romane. Xeniana hat mir aber “Gewöhnliche Leute” zukommen lassen, Bräunigs Erzählungen, von denen ich demnächst berichten werde! Vielen Dank für die Sterne 🙂 und hoffentlich eine weiterhin gute, schöne Woche!! Viele Grüße!
Herzlichen Dank dir für deine Worte *freu*
Liebe Morgengrüße vom Lu
Lieber Alexander, ich wünschte Werner Bräunig hätte Rezensionen wie die diese zu seinem “Rummelplatz” lesen können. Mir fehlen die Worte. Immer wieder profitiere ich besonders von dem In Beziehung setzen zu an deren Werken.
Ich gebe Birgit Böllinger Recht. Deine Rezensionen wären eine solche Bereicherung für Print Medien wie Zeit oder FAZ.
Danke für das Erwähnen.
Bräunigs “Rummelplatz” gehört zu den großen Entdeckungen für mich. Ich nehme es zur Hand und freue mich. Ich lese “Gewöhnliche Leute” und bin fröhlich, aber auch sentimental, dass er nicht mehr hat schreiben können. Ich danke dir sehr! Fürs Aufmerksam-Machen, fürs In-Erinnerung-Rufen. Danke für die netten Worte – ich versuche immer die Werke als Kommunikation zu lesen, bei Bräunig und Reimann ergab sich das von ganz alleine 🙂 Ich hoffe, du hast ein geruhsames Wochenende!
Lieber Alexander, ich habe Rummelplatz heute beendet. Verstanden habe ich viele Zusammenhänge und Handlungsstränge erst durch deine Rezension.
Es ist so gut, dass der Roman 31 Jahre nah Bräunigs Tod doch noch das Licht der Welt erblickte. Und es stimmt-im pathetischen ähnelt es Atlas Shrugged. Ein guter Hinweis auf die dunkle Schwester.
Was bleibt, wenn ei Arbeiter stirbt? Wenn so etwas wie der Rummelplatz bleibt, ist das eine wirkliche Bereicherung? Die Träume, die Realität, die Sensibilität, der Sprachklang- all das hat mich in seinen Bann gezogen und die Geschichte der DDR näher gebracht.
Danke für diese Würdigung des Romans!
Liebe Xeniana! Danke für die netten Worte. Bräunig liegt mir am Herzen. Ich lese seine Erzählungen, die du mir zukommen lassen hast, und werde dazu auch einen Lesebericht schreiben. Alles liegt verdichtet in seiner Sprache, in der Rhythmik, die Hoffnung, die Enttäuschung, der Widerstand, die Inspiration, der Mut … ich werde das Buch wieder lesen und immer wieder gerne zitieren und anführen. Solche Texte leben mit dem Gelesen-Werden stets von Neuem auf und verlieren, so tief rührt er an die Dinge, nicht an Aktualität. Viele Grüße in den sonnigen Sonntag!! Und nochmals Danke, denn nur dich habe ich überhaupt von diesem Roman erfahren, dein Zwiegespräch mit dem erinnerten Vater!