
Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse (1/5): Einer Erfahrung ein historisches Bild zu verleihen und jenes aus dem Fluss der Zeit herauszubrechen, gehört zu den erstaunlichsten Wirkungsweisen eines Romans. Die Verwandlung von Kontinuität in Diskontinuität erlaubt es, rückläufig wieder anzuschließen und Kommunikationspotentiale zu erschließen, die sonst anderweitig vor sich hinschlummern müssten, ohne ihren Erfahrungsgehalt entfalten zu können. Katerina Poladjan hat den 80ern Jahren der kurz vor ihrem Ende stehenden Sowjetunion ein Kleinod entrissen und in „Zukunftsmusik“ zu einer Allegorie auf Veränderung verwandelt. Der Roman glänzt und schimmert und funkelt.
Die Sonne stand tief über dem Wasser des schwarzen Flusses, auf der anderen Seite leuchtete die Fabrik von elektrischem Schein umkränzt, davor das abschüssige Ufer. Es war warm wie an einem Sommerabend, und doch lagen zwischen den Hügeln auf den Rasenflächen Schneereste. Im Osten das Wäldchen, ein dunkler Schattenriss, und ungewöhnlich kleine Kirschbäume blühten in voller Pracht unter einem wolkenlosen Himmel.
Katerina Poladjan aus: “Zukunftsmusik”
Inhaltsangabe (ohne Spoiler):
Der Handlungsrahmen von „Zukunftsmusik“ wird von einer Gemeinschaftswohnung nahe einer Radarstation „Tausend Werst oder Meilen oder Kilometer östlich von Moskau entfernt“ gebildet. In dieser Kommunalka befinden sich mehrere Parteien. Eine ausgezeichnete Hauptfigur gibt es nicht. Am ehesten kommt ihr Janka nahe, eine junge Mutter, die gerne singt und trotzig ist und auf eine Musikerkarriere hofft. Um aus dem grauen Alltagstrott entfliehen zu können, gibt sie ein selbstorganisiertes Konzert, ein Kwartirnik, zu dem sogar ein berühmter Künstler erscheinen soll. Wie in diese Karrierepläne ihre Tochter Kroschka hineinpasst, die von ihrem Ehemann verlassene und etwas einsame Mutter Maria und die verwitwete, fürsorglich besorgte Großmutter Warwara, weiß sie selbst nicht richtig.
Woran erinnern Sie sich, Janka? Lassen Sie mich überlegen – ich erinnere mich an ein Leben, das ich nie gelebt habe und von dem ich hoffe, dass es noch vor mir liegt. Wenn Sie vor einem Publikum singen, was empfinden Sie? Es ist wie ein Traum. Sind Sie auf der Bühne Sie selbst? Was soll das sein, ich selbst. Woher kommt die zerstörerische Kraft in Ihren Liedern? Ich schöpfe meine Kreativität aus der Zerstörung, ich räume mit dem Gefühlsdreck auf.
Von den anderen Mitparteien spielt hauptsächlich noch Matwej, der an einer Humanzentrifuge forscht und Dinge sammelt, eine größere Rolle und dessen Kater Gagarin. Matwej steht als Funktionär und überzeugte Parteisoldat zwischen allen Fronten und besteht kleinlich auf selbe Tischlängen und Einhaltung der Trauer am Todestag Konstantin Tschernenkos, obwohl er selbst sein Hühnchen mit dem System zu rupfen hat und sein eigenes Päckchen im Stillen trägt.
Ich [Matwej] stand in der offenen Waggontür, nun steig schon aus, brüllte einer, der nächtelang neben mir im Gang gelegen hatte. Und ich stieg aus, und es schneite und die Laternen leuchteten gelb, und der weiße Wind fegte durch die Straßen, und ich stand auf dem Bahnsteig und dachte, was ich denn dort sollte, was sollte ich denn irgendwo?
Schreibstil:
Katerina Poladjans fusioniert in „Zukunftsmusik“ direkte und indirekte Rede ununterscheidbar ineinander. Die Sätze fließen zusammen, auseinander. Je aus den verschiedenen, an der Situation beteiligten Figuren wird berichtet, erzählt, sehr individuell, mit Erinnerungseinschüben, Fragmenten der je eigenen Geschichte, die nach und nach ein sentimentales, tapferes, aber auch um Trost bemühtes Leben nachzeichnen. Die Schicksalsschläge der Mitbewohner kommen grell zur Geltung gerade wegen des Blitzlichtcharakters, Verrat, Lüge, Flucht, unverhohlene Annexionen, Vertreibungen aus dem gewohnten Umfeld wegen Kleinlichkeiten oder Pech oder aus dem Zufall heraus. Die eingestreuten Aperçus umgarnen sanft den nur rudimentär existierenden Handlungsstrang, dass Janka eine Gitarre für das Kwartirnik benötigt. Die Erzählweise verliert sich nicht in Details. Sie hüpft mutig und fröhlich von Szene zu Szene, vor allem, weil die Figuren so selbstbestimmt und vorlaut durch die Welt gehen, stets auf die Einhaltung einer Mindesthöflichkeit und eines Mindestabstands bedacht:
Kein Gestirn, keine Sonne hatte das Recht, so weit in die Umlaufbahn der anderen einzudringen, dass es zu den unabsehbaren Folgen kam, die sich nun in der schrecklichen Unordnung seiner [Matwejs] Gedanken [angesichts von Marias Morgenrocksaum] ausdrückten.
Der nur knapp zweihundert Seiten lange Roman verdichtet alles. Nichts ist zu viel, nichts zu wenig ausgeführt. Alle Gespräche, Beschreibungen, alle Dinge, die erwähnt werden, Neben- und Kreuz- und Parallelhandlungsstränge finden stets zusammen und unterstützen die Atmosphäre einer Welt, die kurz vor dem Zusammenbruch steht. Alles wird sich für die Beteiligten nach dem Tod von Tschernenko ändern, und „Zukunftsmusik“ handelt von diesen kurzen, wenigen, ruhigen Momenten davor. Neologismen treten nicht auf. Übermäßige, überbordende Lyrizität wird vermieden. Naturalismus existiert genauso wenig wie Surrealismus. Die Würfel sind gefallen. Das Ergebnis aber noch nicht abgelesen. Alle befinden sich in einem Limbo. Maria arbeitet im Naturkundemuseum und Matwej sammelt Gegenstande aller Art, etikettiert und kategorisiert sie.
All diese Objekte [sagt Maria zu Matwej] sind wie stehen gebliebene Gedanken, die Zeit läuft hier anders.
Die Gegenstände, nicht nur die Matwejs, bilden das geheime Zentrum des Romanes. Da wäre die Gitarre, die Janka benötigt, da wäre der gelbe Siebzehner Bus, der von allen Mitparteien benutzt und gesehen wird, da wären die obszönen Zeichnungen des Direktors des Naturkundemuseums, Kroschkas kleines Gummikrokodil, Marias Büstenhalter, den Warwara sich gerne ausborgt, und die getrocknete Heuschrecke, die Matwej aus der Datscha von Maria mitgenommen hat. Zwischen ihnen spielt sich die ganze Welt ab, oder, wie Maria es ausdrückt:
Vielleicht haben all diese Gegenstände und Objekte den Menschen erst zum Menschen gemacht, sagte Maria, weil der Mensch anhand der Objekte die Welt bewältigte.
Literarische Einbettung:
„Zukunftsmusik“ erinnert stark an Romane wie „Der Tangospieler“ und „Der fremde Freund“ von Christoph Hein, nur mit weniger Melancholie, mit weniger Selbstmitleid. Stanislaw Lems „Solaris“ besitzt eine ähnliche Atmosphäre, jenes Zusteuern auf ein Ereignis, das nicht mehr gestoppt werden kann, diese Ruhe vor dem Sturm, wo nicht mehr die Illusion von irgendeiner Kontrolle existiert, wo alle nur noch wechselwirkend um Schadensbegrenzung bemüht sind. „Der Kristallwelt“ von J.G. Ballard und Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ drehen sich ebenfalls um ein Geheimnis, um eine Leerstelle, die alles unterminieren und mit sich reißen wird. Aber im Gegensatz zu den pessimistischen Untertönen dieser Romane besitzt „Zukunftsmusik“ eine naive, fröhliche Unbekümmertheit.
In der Cafeteria der technischen Fakultät nahm Janka einen Teller Buchweizengrütze vom Buffet, dazu einen Becher Milch und Kompott. Mit ihrem Tablett setzte sie sich an einen freien Tisch. Es machte ihr Spaß, so zu tun, als gehöre sie dazu.
Mag die Szenerie noch so trist erscheinen, die Figuren sind es nicht. Sie sind voller Leben, voller Hoffnung und Erwartungsfreude. Jede der Figuren ist robust und auf seine Weise mit sich im Reinen. Von Kleinlichkeiten keine Spur. Sie stehen alle über allem und lassen sich nicht mehr provozieren, wenn sie’s je zugelassen hätten. Die Welt vor dem Zusammenbruch eignet nur als Hintergrund. Im Vordergrund steht die lebendige Wechselseitigkeit der Gespräche, Gefühle, der Pläne und Träume, die sich nicht um das Große und Ganze scheren, sondern das dramatische und gelungene im Einzelereignis anstreben:
In Gedanken versunken vertrödelte Maria Nikolajewna ihren Heimweg, sie nahm den Umweg durch den Erholungspark und malte sich aus, dass sie sich ein Kostüm nähen lassen würde, einen schmalen Rock mit zwei Falten, dazu ein taillierts Jäckchen, am liebsten in kräftigem Rot. Ihre Mutter würde sich ärgern. Diese Farbe steht dir nicht, du siehst aus wie eine riesige Kirsche. Sie sah sich in diesem Kostüm bei der nächsten Betriebsversammlung auftauchen: Ich brauche Ferien, meine Herrschaften, ich möchte nach Abchasien.
Figuren wie Maria, Warwara und Janka findet man eher selten in der Literatur, Figuren, die keinen Streit suchen und trotzdem konsequent ihren eigenen Weg gehen. Zazie aus „Zazie in der Metro“ von Raymond Queneau wäre ein Beispiel, oder Doris Lessing in „Das goldene Notizbuch“, das die Stimmung von „Zukunftsmusik“ sehr gut im Gespräch zwischen Molly, Anna und Richard auffängt. Richard sagt:
»Ja, ich weiß, ihr verachtet mich, aber warum? Du bist eine Schauspielerin mit mäßigem Erfolg, und Anna hat einmal ein Buch geschrieben, das ist aber auch alles.«
Doris Lessing aus: “Das goldene Notizbuch” (aus dem Englischen von Iris Wagner)
Mollys Hände kamen instinktiv wieder nach vorn und berührten sich nachlässig mit den Fingern auf Mollys Knien, als sie sagte: »Was für ein Langweiler du bist, Richard.«
Richard sah sie an und runzelte die Stirn.
»Das hat nichts damit zu tun«, sagte Molly.
»In der Tat.«
»Das kommt daher, weil wir nicht nachgegeben haben«, sagte Molly ernst.
»Wobei?«
»Wenn du es nicht weißt, können wir es dir nicht sagen.«
In „Zukunftsmusik“ können sich alle alles sagen, weil es nicht viel zu verbergen gibt außer die kleinen Episoden der Intimität. Sie sitzen alle im selben Boot und gehen nicht nur Streitigkeiten komplett aus dem Weg. Sie entstehen schlicht aus der Grundkonstellation heraus nicht. Hiermit ist nicht eine Idealisierung der Kommunalka gemeint, kein eineindeutiges Bekennen zu einem höheren Ideal. Mit Grundkonstellation von „Zukunftsmusik“ ist die vollendete Illusionslosigkeit heraus gemeint, die fast alle Diskussion im Vorhinein ersticken. Wer den Schein nur ansatzweise wahrt, wird in Ruhe gelassen.
Wie vulgär, auf der Straße zu rauchen, Bürgerin. Ein Milizionär hatte sich vor ihr [Maria] aufgebaut. Scher dich zum Teufel, siehst du denn nicht, wie ich leide bei der Vorstellung, dass man das Kind in einer Stunde zum kollektiven Scheißen zwingen wird? Gönnst du mir nicht die Zigarette, die mich ein wenig benebelt? Stattdessen sagte Maria Nikolajewna: Sicher, Genosse Milizionär, ich habe mich selbst vergessen.
Die oberflächliche Geste reicht allen. Es wurde gesagt. Es wurde geantwortet. Es kann weitergehen. Der Alltag verläuft so lange friedlich, wie man sich für die anderen an die Regeln hält, also so, dass ein hierfür abgestellter Funktionär davon nichts berichten muss. Dies ist ein Zeichen für ein friedliches Zusammenleben oder eben für ein System, das nicht mehr an sich glaubt und kurz vor dem Zusammenbruch steht. Diese Seltsamkeit begleitet die Lektüre von Polajdans Roman, eine Ambivalenz zwischen Frieden und Freiheit durch Absolution, respektive Resignation. Beides kennzeichnet die Stimmung von „Zukunftsmusik“. Der Optimismus der völlig Desillusionierten, denn woran sollten sie noch verzweifeln, wenn sie das Schlimmste akzeptiert haben, und das Glück der Glücklosen, die es vermögen, allem Unerwarteten größte Aufmerksamkeit zu schenken. Poladjan schließt an die Erzählungen „Wege der Liebe“ von Alexandra Kollontai an, in der sie von Wassilissa Malygina schreibt:
Ans Ende des Briefes hat sie ihre genaue Adresse gesetzt. Beide Briefe legte sie ins Kuvert, befeuchtete den Umschlag mit der Zunge und klebte zu. Und plötzlich sagte ihr Gefühl, – nicht der Verstand: Jetzt ist das Ende da. Das Ende? Aber wo ist der Schmerz?
Alexandra Kollontai aus: “Wege der Liebe” (aus dem Russischen von Etta Federn-Kohlhaas)
Der Schmerz ist nicht mehr da.
Wo ist denn die Schlange, der Quälgeist?
Die Schlange ist nicht da.
Wo ist die Wehmut? – Die betäubende, nagende Wehmut. Auch die Wehmut ist nicht mehr da. […] Ihr Herz ist still. Friedlich. Wie im Garten nach dem Sturm.
Und genau so liest sich „Zukunftsmusik“ wie eine Ruhe vor dem oder nach dem Sturm.
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