
Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse (4/5): Wladimir und Estragon reden, harren aus, ohne dass in Warten auf Godot viel passiert, noch passieren müsste. Das existenzielle Drama dreht sich um nichts, um ein eigenes Zentrum der Besinnlichkeit und Vergeblichkeit, das sich jedoch so nicht einstellen will. In Heike Geißlers Die Woche passiert auch nichts. In diesem Roman, der kein Roman sein will, in diesem Theaterstück, das kein Theaterstück ist, warten die Protagonistinnen, die Ich-Erzählerin, die keine Erzählerin ist, und ihre Freundin oder Lebensgefährtin Constanze, auf den Ablauf, Fortlauf, Weiterlauf der Zeit. Sie warten beide, aber scheinbar einmal mehr auf Godot.
Ich bin im größten Glück auf der freien Fläche, inmitten des Schnees. Ich lege mich hin und mache einen Schneeengel, der nicht sonderlich gut gelingt. Ich rolle mich über den Asphalt, ich tue das konzentriert und ewig. Aneignung, wenn es schon zu spät ist, ruft Constanze, die plötzlich wieder da ist, die immer plötzlich wieder da ist und manchmal wirklich weg. Constanze rollt mit mir herum. Der Platz gehört mir, ruft sie. Der Platz gehört mir, rufe ich. Wir haben beide recht.
Heike Geißler aus: “Die Woche”
Inhaltsangabe:
Die Woche spielt hauptsächlich in Leipzig. Eine Handlung gibt es nicht. Die Woche vergeht. Sie vergeht langsamer als gewöhnlich, deckelt, dreht, verbiegt sich in sich selbst. Es gibt mehr Montage als geplant und üblich, sehr viele Demonstrationen auf dem Augustusplatz, Fahnen schwenkende Protestler, Bereitschaftspolizei, und immer wieder die Montage, die sich verdoppeln und verdreifachen.
Wir rufen das Ordnungsamt an, niemand hebt ab. Das kennen wir schon. Wir sprechen auf Band: Ich möchte mich beschweren. Diese Woche erlebt nun den vierten Montag in Folge. Auf welcher Grundlage geschieht das? Bitte informieren Sie mich. Ich bin unter folgender Nummer erreichbar.
Die Ich-Figur hat zwei Söhne, lebt mit dem Tod zusammen, der sich in ihrem Kühlschrank bedient. Vor ihrer Tür wird ein Karussell aufgebaut. Riesen laufen umher und sind laut. Investoren besichtigen die Wohnhäuser und drohen mit Mietenteignung. Dazwischen fällt ein Nachbar, Kaspar, immer wieder vom Dach, ohne sich zu verletzen, springt aus der Höhe hinab in die Tiefe und fliegt an dem Fenster der Ich-Figur vorbei, die die Initialen H.G. hat, prallt auf dem Boden auf und klopft sich, nachdem er sich wieder aufgerappelt hat, die Hose ab. Es gibt Reisen, nach Rom, Paris, nach Berlin, nach New York, Los Angeles. Alles ist kosmopolitisch, verworren, zerfasert, unübersichtlich geworden.
Wir gehen hier durch eine verlorene Zeit, wir gehen durch kolossal verschwendete Zeit, wir gehen durch Rauchschwaden und noch immer durch die Ode an die Freude. Wir halten uns die Ohren zu, und niemand, den wir treffen könnten, geht ans Telefon.
Die Ich-Figur, die für Constanze und sich, oder für eine ungewisse Menge spricht, deren Fürsprecherin sie ist, versteht die Welt nicht mehr. Ihr ist die Welt schlicht abhanden gekommen. Sie dreht sich um sich selbst, sorgt sich um ihre Kinder, um den Tod, um die Nachbarn, pendelt, arbeitet, verzettelt sich in einem politischen Panorama, in welchem sie keinen Ort mehr findet. Es gibt ein ungeborenes Kind, das geboren werden möchte, das die Ich-Figur aber nicht gebären will, und es gibt Seminarvorschläge von Constanze, Workshops mit Outlines, Programm und Tests, Versuche, die Welt zu verstehen, in ihr einen Platz zu finden. Der Roman beginnt insofern konsequenterweise mit:
Wir sind dumm, doof und dämlich. Wir sind zu nichts zu gebrauchen. Wir sind komplett out of order. Wir merken ja gar nichts.
Schreibstil:
Die Sprache von Die Woche erhebt keinen Anspruch auf Originalität. Sie unterscheidet sich kaum von der Alltagssprache, von kurzen schnellen Gesprächen im Café oder in der Kantine. Sie ist schnell, zackig, kurzlebig. Die Satzkonstruktionen beschränken sich auf Parataxen. Nur selten muss eine kompliziertere Satzstruktur herhalten. Der Inhalt fordert nicht mehr ein. Es sind Interjektionen, performative Aneinanderreihungen von Assoziationen, die die Sprachlosigkeit und Einfallslosigkeit zelebrieren. Ein hilfloses Kommentieren, mehr nicht, denn mehr bleibt schließlich, so die Ich-Figur, nicht übrig.
Wir rufen erst einmal nichts, aber dann rufen wir doch. Wir brüllen nichts Wirksames. Wir mäkeln nur rum, jeder Ruf eine Kritik, eine Anmerkung am Seitenrand: A für Ausdruck, I für Inhalt. Wie gesagt, wir rufen und riefen nicht um Hilfe. Wir brüllten dies und das.
Der Nichtstil hier reiht Widersprüchliches aneinander. Sie rufen und rufen nicht. Sie brüllen, aber man weiß nicht was. Die Entleerung der Sprache gelingt tatsächlich vollkommen. Wären nicht ein paar zeitgeschichtliche Kommentare über die DDR, die Wiedervereinigung, über die Montagsdemonstrationen und die Flüchtlingskrise, der Text würde nur aus Konjunktionen, Verweisen, Zitaten und Pronomen bestehen, die vorgeben, etwas zu bezeichnen, aber nichts zur Anschauung bringen. Die Abstraktheit als Weltentfremdung gipfelt in narrativer Ohnmacht. Die Literatur auf den Nullpunkt einer nicht eingegangenen Kommunikation:
Wir hätten hier gern eine überlebensgroße, machtvolle Erzählerin, die uns durch die Eingeweide einer Katastrophenwelt jagt und einer mehr oder weniger guten geplanten Katharsis übergibt.
Der Wunschtraum wird nicht erfüllt. Trotz Riesen, dem nahenden, darbenden Tod, der sich kleinreden lässt und die Weinreserven der Ich-Figur austrinkt, gibt es kein Drama, keine Tragödie, kein Epos und nicht mal einen Plot. Alles ist plötzlich, dann wieder ewig, dann ist Constanze da, dann nicht wirklich, dann wieder doch und dieses Mal richtig. Es ist klar, dass die Autorin hier bewusst die Ideenlosigkeit zur Gegenwart dokumentiert. Zur Gegenwart fällt ihr, wie Karl Kraus in Die Fackel schreibt, nicht viel ein.
Literarische Einbettung:
Es gibt viele unlyrische, absolut prosaische Texte, die jeden semantischen Überschwang vermeiden. Hier wäre beispielsweise Alain Robbe-Grillet in Eine blaue Villa in Hong Kong zu nennen, oder Oswald Wiener in Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman, der im Grunde nichts als aneinandergereihte Assoziationen darstellt, die nicht einmal von einer konsistenten Erzählfigur aufrechterhalten oder vorgetragen werden:
ich bemäkle dich! wohl wirst du jeden meiner sätze über dich widerlegen und ich werde dir beistimmen. unwidersprochen aber bleibt mein eindruck, nicht überzeugt: ich weiß wer du bist da kann ich gar nicht übers ziel hinausschiessen, was verbindet uns?
Oswald Wiener aus: “Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman”
Wieners Texte dienen und dienten oft als Improvisationsgrundlage von Performancetheaterstücken. Das Reden und Gegenreden, die Emanationen des freien Assoziierens erzeugen eine Stringenz von Hilflosigkeit, die Geißler in Die Woche ebenfalls demonstriert. Auch dieser Text scheint fürs Theater geschrieben worden zu sein, als Poetry Slam, oder als Monologtheater, das den Diskurs im stimmhaften Besprechen des Unbesprechbaren bestimmt und zugleich unterläuft. Der Text besitzt eine gewisse, unheimliche Tragik des abgebrochenen Versuches, ein Verstummen, das sich aber im Unterschied zu Elfriede Jelinek und Nathalie Sarraute nicht auf die Lektüre überträgt. Der Text bleibt zu fern, zu unpersönlich, zu distanziert. Er zerstört sich selbst nicht genug, nicht wie Jelinek in Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr oder Sarraute in sagen die Dummköpfe. Sarraute bleibt beispielsweise noch nahe genug am Erzählen:
Plötzlich Wörter, eine Strophe, eine einzige, sie schwebt, sie entfaltet sich, sie umhüllt mich, sie durchdringt mich … ein heißer Schwaden … Und unsere ganze Konstruktion, dieses geduldig zusammengeklebte Ding, fällt auseinander … die ineinandergesetzten Teile lösen sich und fallen hierher und dorthin … sie verschwinden … die Wörter überdecken sie … Mit all ihren Vokalen, ihren Konsonanten dehnen sie, öffnen sie, sehnen sie sich, saugen sie sich voll, blähen sie sich auf, breiten sie sich aus über endlose Weiten, über grenzenlose Glücksgefühle.
Nathalie Sarraute aus: “sagen die Dummköpfe”
Sarraute bleibt noch verbindlich in der Unverbindlichkeit. Sie sucht und versucht noch zu den Lesenden durchzudringen. Geißler hat mit dem Versuch scheinbar abgeschlossen und so lässt sich von ihr nicht sagen, was Sartre über Sarrautes im Vorwort zu Tropismen noch schreibt:
Das Beste an Nathalie Sarraute, das ist ihr zaudernder, zögernder, so redlicher, sich selbst korrigierender Stil, der sich dem Objekt mit den feinsten Vorsichtsmaßnahmen nähert, sich plötzlich gleichsam aus Scham oder aus Furchtsamkeit vor der Komplexität der Dinge entfernt und schließlich das Ungetüm in seiner ganzen Qualligkeit ausliefert, aber fast ohne es zu berühren, durch die magische Kraft eines Bildes.
Jean-Paul Sartre aus: Vorwort zu “Tropisme”
Eine solche Magie, ein solches Bild fehlt in Die Woche, leider. Der Text gehört gesprochen, getanzt, gesungen, als Akt und Intervention, als avantgardistisches Manöver inszeniert. Als Roman jedoch bleibt er nur stumm und bröckelt, bröselt, wie die Schriftstellerin selbst schreibt, lediglich dümpelnd vor sich hin.
Lieber Alexander, ein Off-topic-Kommentar: Trotz meines Abos erscheinen deine Beiträge nicht in meinem Reader, auf jeden Fall nicht zeitnah, und auch, wenn ich ein paar Stunden später zurückscrolle (ich lese meist auf dem Handy), sind sie nicht da.
Weißt du das – ich vermute, dass es anderen auch so geht? Weißt du vielleicht, ob es da irgendeine Abhilfe gibt? 🤔
Trübe Morgenkaffeegrüße 😏☁️☕🍪👍
Liebe Christiane, Danke für den Tipp. Das hört sich nicht gut für meinen kleinen Blog an. Ich weiß nicht, was ich da falsch mache. Ich schaue mal nach, aber vielleicht lässt sich da was finden. Danke, dass du es trotzdem auf meine Beiträge schaffst. Das freut mich. Schöne Feierabendgrüße! Und auf mehr Sonne 🙂
Was deinen Blog betrifft, habe ich die Benachrichtigung aktiv, wenn du was Neues rausbringst. Du bist nicht der Einzige mit diesem Problem, ich habe das oft mit Blogs, die nicht auf WP.com gehostet sind, aber die schiebt mir WordPress meist noch in den Reader. Hm.
Abendgrüße zurück! 😉🌅🍷🥗🌼👍