Kalenderwoche 16: Lesebericht.

Kommunikativ lesen.

Ich habe mich entschlossen, einen wöchentlichen Lesebericht über meine gekauften, angelesenen und beendeten Bücher zu verfassen, um einerseits selbst einen Überblick zu behalten, andererseits bereits vorhandene Leseeindrücke zu geben, und zuletzt und möglicherweise insbesondere, um durch etwaige Kommentare, Vorschläge, Widersprüche, Anmerkungen und Assoziationen zum Mehrlesen und Anderslesen und Neulesen inspiriert zu werden. Manche Bücher lesen sich kommunikativ einfacher als in selbstgewählter Klausur.

Folgende Bücher gekauft:

Fatma Aydemir: Dschinns – mein dieswöchiges Buch der Wahl aus der Spiegel Bestseller-Liste. Buchbesprechung gibt es hier und ein Auszug weiter unten.

Michael Crichton: Im Kreis der Welt – insbesondere wegen der Geschichte mit dem Kaktus. Crichton fährt ins Lucerne Valley zu einem Selbsterfahrungsseminar und lernt mit einem Kaktus zu kommunizieren. Die Stelle ist mir Jahrzehnte im Gedächtnis geblieben.

»Es tut mir leid, dass ich dich angebrüllt hab.« Der Kaktus schwieg. Förmlich um Verzeihung bitten wollte ich ihn nun auch wieder nicht. So weit kam es noch, dass sich ein erwachsener Mann bei einem Kaktus entschuldigte. Andererseits würde er möglicherweise wieder sprechen, wenn ich mich entschuldigte. Ich hätte wirklich gern gewusst, was er zu sagen hatte.

André Breton: L’amour fou
André Breton: Nadja – damals als Bibliotheksexemplar gelesen und im Gedächtnis behalten. Fürs Weiterbearbeiten und Zitieren und erneut Lesen antiquarisch gekauft. Breton eitel und selbstverliebt wie immer, unterzieht sich selbst einer Vivisektion und amourösen Psychoanalyse.

Sie [die Menschen] hinken auf trügerischen Erinnerungen, denen sie gar als Ursache einen unvordenklichen Sündenfall unterschieben, um sich nicht allzu schuldig zu fühlen. Und doch enthält für einen jeden die Verheißung jeder künftigen Stunde das ganze Geheimnis des Lebens, das auf die Gelegenheit wartet, sich eines Tages in einem anderen Wesen zu offenbaren.

Norbert Wiener: The human use of human beings – Cybernetics and society – ein sehr missverständlicher Titel einer kybernetischen Untersuchung aus dem Jahre 1954, wie Massengesellschaften funktionieren, eine systemtheoretische Beschreibung derselben möglich wird. Grundlage für Niklas Luhmann und Gotthard Günther und Humberto Maturana.

As entropy increases, the universe, and all closed systems in the universe, tend naturally to deteriorate and lose their distinctiveness, to move from the least to the most probable state, from a state of organization and differentiation in which distinctions and forms exist, to a state of chaos and sameness.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Band 1: In Swanns Welt. Da ich den ersten Band der Reihe in meinen Bücherregalen nicht mehr finde, musste er nachgekauft werden. Dass die Gesamtausgabe Bertold Brecht gleich aussieht und einen ersten Band noch hat, war ein schwacher Trost.

Gotthard Günther Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik III – Beschäftigung mit Günther steht noch aus, aber das Buch hat ein vielversprechendes Inhaltsverzeichnis, das ein Denken zeigt, das über die reellen Zahlen (überabzählbare Mengen) und binäre Logik (tertium non datur) nicht nur semantisch, sondern formal hinausgeht.

Das metaphysische Identitätstheorem, auf dem sich bisher die spirituelle Geschichte des Menschen aufbaut, lässt also einen bis dato unbewältigten Reflexionsüberschuss zurück, der als motorischer Antrieb wirkt, in eine neue Epoche der menschlichen Existenz überzugehen.

In folgenden Büchern gelesen:

Fatma Aydemir: Dschinns (beendet). Längere Buchbesprechung folgt. Ein ungewöhnlich leicht zu lesendes, rhythmisches, syntagmatisch ansprechendes Buch, das nicht hakelt und stottert und die Sätze nur mit Hilfsverben zu Ende gestrickt bekommt. Der erste Satz hat bereits überzeugt:

HÜSEYIN … WEISST DU, wer du bist, Hüseyin, wenn du die glänzenden Konturen deines Gesichts im Glas der Balkontür erkennst? Wenn du die Tür öffnest, auf den Balkon trittst und dir warme Luft übers Gesicht streicht und die untergehende Sonne zwischen den Dächern der Wohnblocks von Zeytinburnu leuchtet wie eine gigantische Apfelsine? Du reibst dir die Augen. Vielleicht, denkst du, vielleicht war jede Hürde und jeder Zwiespalt in diesem Leben nur dazu da, um irgendwann hier oben zu stehen und zu wissen: Ich habe mir das verdient. Mit dem Schweiß meiner Stirn.

Werner Bräunig: Rummelplatz – ein außergewöhnliches Buch, das ich von Satz zu Satz langsamer lese, weil ich nicht will, dass es endet. Sehr viel Peter Weiss Ästhetik des Widerstandes, und überraschenderweise auch Ayn Rand Atlas Shrugged. Ein Nachkriegszeitroman, der keiner Ambivalenz, Widersprüchlichkeit, aber auch Hoffnung aus dem Weg geht.    

Gewiß: sie [Irene] dachte an ihn, manchmal in verklärendem Imperfekt, manchmal im nüchtern-drängenden Präsens. Aber die Gegenwart beschwor den Vergleich herauf, und wieviel Jungmädchenromantik auch immer wieder aufbrechen mochte, zuletzt blieb doch stets die Realität des Hier und Jetzt, das Licht des neuentdeckten, bunt-fröhlichen Lebens ringsum – darin er, Martin, einen gar so düsteren, gar so nekromantischen Schatten warf.

Kurt Klagenfurt: Technologische Zivilisation und transklassische Logik – Vorbereitungen darauf, mich mit Gotthard Günthers Begriff der Polykontexturalität eingehender zu beschäftigen. Kurt Klagenfurt ist ein Synonym, hinter dem sich ein Forscherverbund interdisziplinär arbeitender Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verbirgt.

Gotthard Günther: Die amerikanische Apokalypse – aus dem Nachlass herausgegeben und eingeleitet von Kurt Klagenfurt. Ein Gegenentwurf zu Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“, in welchem Günther die ontologischen Voraussetzungen der Argumente untergräbt und hin zu einer neuen, ungeahnten Zivilisationsperspektive öffnet, zwar noch mit veralteten Begriffen und Semantiken, aber durchaus voller Hoffnung. Insbesondere erkennt er die Zirkelschlüsse der herkömmlichen Wissenschaften:

Die Voraussetzungen der Fragestellung selbst können in der Antwort nicht mit beantwortet sein. Solche Voraussetzungen aber sind Raum und Zeit. Wenn Raum und Zeit nun Voraussetzungen der Fragestellung sind, dann sind sie gemäß einem unverbrüchlichen logischen Gesetz auch Voraussetzungen aller möglichen Antworten, die auf die besagte Frage gegeben werden können.“

Ob ich Spengler irgendwann lese, mir die Zeit nehme, insbesondere nach diesem Buch ist äußerst fraglich.

Ich freue mich über Bemerkungen, Anmerkungen, Kommentare aller Art.

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