Eugen Ruge: „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“

Eine literarische Distanznahme … Spiegel Belletristik-Bestseller 19/2023 … Deutscher Buchpreis 2011

Die Antike besitzt eine von der Renaissance, in der sie im 14./15. Jahrhundert wiederentdeckt wurde, bis weit in die Literatur der Gegenwart hineinreichende Ausstrahlungskraft. Für die Zeit der alten Griechen sei Aristipp und einige seiner Zeitgenossen von Christoph Martin Wieland, Friedrich Hölderlins Hyperion oder Christa Wolfs Kassandra genannt. In Bezug auf Rom können Hermann Brochs Der Tod des Vergils, Thornton Wilders Die Iden des März oder Claude Simons Die Schlacht bei Pharsalos stehen. Derlei Beispiele gibt es viele. Mehr in Richtung Wortwitz und Ironie bearbeiten Ingomar von Kieseritzky in Die ungeheuerliche Ohrfeige oder Luciano De Crescenzo Geschichte der griechischen Philosophie das Thema der römisch-attischen Antike. Ein zu den letzteren sehr ähnlich geartetes Buch legt nun Eugen Ruge mit Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna vor:

Die sieben jungen Leute lungerten zwischen den Mauerresten herum und langweilten sich, stritten aus lauter Übermut darüber, ob Crescens, der Netzkämpfer, oder Samus mit dem Kurzschwert der Größere unter den Gladiatoren der Fortunatus-Schule sei; ob es Juden schwarzer Hautfarbe gebe; ob in Arabien fliegende Schlangen die Obstbäume bewachten, wie es Tonis versoffener Vater bei Herodot gelesen haben wollte – lauter Fragen also, die für ihr Fortkommen von ungeheurer Bedeutung waren und daher gewöhnlich auch nicht durch Argumente, sondern durch Prügelei entschieden wurden, wobei Josse streng überwachte, dass man sich nach den Regeln schlug.

Eugen Ruge aus: “Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna”
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Sigmund Freud: „Jenseits des Lustprinzips“

Einem neuen dynamischen Materiebegriff entgegen.

Einer der Schlüsseltexte der klassischen Psychoanalyse erschien 1921 und heißt Jenseits des Lustprinzips. In diesem Aufsatz führt Sigmund Freud zum ersten Mal den Todestrieb ein, der zu Zerwürfnissen innerhalb der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung führte. Die meisten Psychoanalytiker, bspw. Wilhelm Reich, versuchten weiterhin, Aggression als Reaktion auf sozial auferlegte Entsagung und Frustration zurückzuführen. Sigmund Freud bestand jedoch auf seiner Neuerung, zumal sie einen gesicherten Begriff für die von ihm beobachteten selbstzerstörerischen Tendenzen des Menschen liefert. Die Lektüre von Marie Kjos Fonns Roman Heroin Chic bot nun einen willkommenen Anlass, sich erneut und eingehender mit Freuds metaphysischen Spekulationen auseinanderzusetzen:

Irgend einmal wurden in unbelebter Materie durch eine noch ganz unvorstellbare Krafteinwirkung die Eigenschaften des Lebenden erweckt. Vielleicht war es ein Vorgang vorbildlich ähnlich jenem anderen, der in einer gewissen Schicht der lebenden Materie später das Bewußtsein entstehen ließ. Die damals entstandene Spannung in dem vorhin unbelebten Stoff trachtete darnach, sich abzugleichen; es war der erste Trieb gegeben, der, zum Leblosen zurückzukehren.

Sigmund Freud aus: “Jenseits des Lustprinzips
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Ina Kramer: „Im Farindelwald“

Utopisch auf Hermesflügeln des Erzählens.

Das phantastische Element gehörte von Anfang an zu den Mitteln der Literatur. Sagen und Anekdoten, Legenden und Abenteuer erlaubten, ja beförderten das Freischweifen der Imagination, das poetische Entriegeln und Tagträumen der Ernst Bloch‘schen utopischen Sinne. Es reicht an Ovids Metamorphosen, Homers Odyssee, an Dante Alighieris Göttliche Komödie oder Miguel de Cervantes Saavedras Don Quijote zu erinnern. Sie enthalten phantastische Elemente, die oftmals viel näher an Fantasy-Literatur neuerer Prägung wie J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe oder C.S. Lewis Die Chroniken von Narnia reichen, als üblicherweise angenommen wird. Auf eine gewisse Weise hat Fantasy viel mehr mit der klassischen Literatur gemein als Werke, die sich in ihrer direkten und sie auch zitierende Nachfolge sehen wie Siegfried Lenz Die Deutschstunde, Martin Walsers Ein fliehendes Pferd oder bspw. Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns, die allesamt dokumentarisch-prosaisch realistisch verfahren. Genre-behaftete Romanreihen, die üblicherweise nicht zur anspruchsvollen Literatur gezählt werden, warten deshalb unter Umständen mit Überraschungen auf. Ein Beispiel ist Ina Kramers Roman Im Farindelwald, der in der Reihe Das Schwarze Auge 1996 erschien:

Sie hörte die Träume des jungen Blaufalken, der am gestrigen Tag zum ersten Mal sein Nest verlassen hatte, sie hörte die Gedanken der alten Esche, aus dem ewigen Kreislauf der Jahreszeiten, aus Wachsen und Beharren gewoben. Sie spürte die Neugierde und Ungeduld des Bächleins und das Lied der unsichtbaren Wesen, die in ihm und an seinen Ufern wohnten, und sie atmete die ruhigen Atemzüge der Erde.

Ina Kramer aus: “Im Farindelwald”
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Das Debüt 2022: Meine Favoriten

Zum ersten Mal habe ich in diesem Jahr bei der Blogger Jury zum Buchpreis Das Debüt teilgenommen.

Die Shortlist umfasste dieses Mal fünf Bücher, die aus über 70 Einsendungen von dem Organisationsteam bestehend aus Dr. Bozena Anna Badura, Janine Hasse und Sarah Jäger ausgesucht worden sind. In die nähere Auswahl gekommen sind:

Bücher lassen sich schnell, flüchtig, intensiv, akribisch, besonnen oder hektisch und so weiter lesen. Sie lassen sich reihen, stapeln, vergleichen, singularisieren, bedauern, bejubeln und begrüßen. All dies gehört zum Sprachspiel der Literatur, dem Suchen, Schwadronieren, dem Hoffen, zwischen Genre pendelnd das neue Erwarten.

Wie dem einzeln Buch überhaupt gerecht werden, lautet die Frage, die mich stets, auf jeder neuen Seite eines Buches beschleicht. Wie lesen? Auf welche Weise den Rhythmus der Wörter betonen? Wie der Erzählposition nachspürend? Was erinnern? Was vergessen? Was hinzutun? Alles, was für mich Literatur auszeichnet, bleibt in dieser Schwebesituation, Gedanken zu ermöglichen, Einblicke zu gewähren, Begriffshorizonte zu erweitern, ohne etwas zu erzwingen – vielleicht, um Jürgen Habermas etwas abzuwandeln, das ungezwungen Zwingende des schönen Schreibens.

Zum Punkt, um überhaupt eine Liste tolldreist erstellen zu können, hangele ich mich über Kategorien zur Punktegabe. Ansonsten habe ich keine Chance, mich selbst zu überraschen. Ich wähle 5 Kategorien und vergebe jeweils die Punkte von 1 bis 5 mit Kurzerklärungen.

Die offensichtliche und erste Kategorie lautet:

Narration:

Hier geht ein, ob ein Text überraschende Wendungen besitzt, vergleichsweise, mir unbekannte Topiken einführt, eine Erzähldichte und Spannung aufbaut, das Lesetempo dirigiert, eine Art Fluss und Eigendynamik erzeugt, Witz und Esprit versprüht, also ob der Text ein guter Gesprächspartner ist oder wird oder sein möchte.  

  • 5 Punkte für: Ist hier das Jenseits, fragt Schwein – da die Reise zwischen den Welten, leicht und locker, jedwede Abstrusität auffängt und dennoch mitreißt und die Frage nach Sinn und Bedeutung der Geschichte vor Lesefreude nicht einmal aufzutauchen vermag.
  • 4 Punkte für: 153 Formen des Nichtseins – da die Ich-Erzählerin unnachgiebig mit sich und der Welt ins Gericht zieht und selbst völlig in sich Widersprüchliches ausagiert, das überrascht, bspw. der vorgestellte Wutausbruch gegen die faulen Zeugen Jehovas unter der Brücke.
  • 3 Punkte für: Liebe ist gewaltig – da Thilo, der Verlobte, eben doch nicht Überhand gewinnt, Juli Ehre Mut und Kraft findet, für sich einzustehen, und der Roman so überraschende Züge eines Entwicklungsromans erhält.
  • 2 Punkte für: Lektionen in dunkler Materie – da das zwischen den Welten hängen mit der Internationalen Raumstation eine gewisse Dramatik erhalten hat.
  • 1 Punkt für: Nordstadt – da vollständig auf jede Erklärung und Logik verzichtet, und das Leben zweier junger Menschen impressionistisch und alle Verkrampftheit wiedergegeben wird.

Das führt zur nächsten Kategorie, nämlich, abgesehen von der Erzählung, dem Inhalt, die Erzählweise:

Komposition:

D.h., inwiefern die Erzählung strukturell überrascht, Zeit veranschaulicht, über Wiederholungen, Konsistenz, über Zurückbindung, Einbindung von Motiven eine Geschlossenheit erzeugt, die sowohl Anfang wie Ende plausibel werden lässt, also das Gewebe und Gewebte, das Rahmende des Textes, samt Waben und Maserungen.

  • 5 Punkte für: Nordstadt – da der Roman einem Popsong gleicht, irgendwann zu schwingen und lachen und zu weinen beginnt, in Wiederholungen und Schlaufen ein Sesam-Öffne-Dich besingt, das in Rhythmik und Insistenz zu überzeugen versteht.
  • 4 Punkte für: 153 Formen des Nichtseins – da das Unwahrscheinliche tatsächlich entsteht und aus dem losen Verbund anfänglich beliebiger Assoziationen ein Ich-Erzähl emergiert, das einen völlig neu auf die Erzählgeschichte schauen lässt.
  • 3 Punkte für: Liebe ist gewaltig – da die Erzählposition plötzlich, völlig unerwartet wechselt (aus der ersten wird eine dritte Person), und dem Lesefluss einen Stoß frische Luft und Leichtigkeit gibt.
  • 2 Punkte für: Ist hier das Jenseits, fragt Schwein – da eine eigenartige Spannung zwischen Raum und Zeit und Anwesenheit gewoben wird, was insbesondere die seltsam changierende Figur von Gottes Schwester betrifft.
  • 1 Punkt für: Lektionen in dunkler Materie – da konsequent die Möglichkeiten und Überraschungen einer Episoden-Roman-Form genutzt werden, um Situationen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten zu können.

Die dritte Kategorie lautet:

Sprachgeschmeidigkeit:

Also vor allem, inwiefern der Sprache ihre Eigendynamik abgelauscht wird, Sätze nicht nur ein Ende finden, sondern auch ineinander übergehen, Bilder, Melodien, Poesie aus Wörtern entstehen, in der Imagination ein Potpourri an Sprachmöglichkeit oder gar Spracherweiterung dargestellt, also die Lust am Text vermehrt, erhöht, in vernetzten Wortwolken weitergegeben wird.

  • 5 Punkte für: Liebe ist gewaltig – da der dritte Teil tatsächlich eine Sogwirkung und Eigendynamik aufweist, die einen den Atem anhalten lässt.
  • 4 Punkte für: Ist hier das Jenseits, fragt Schwein – da die fehlenden Artikel für die Tiere, diese allesamt nahbar und sanft erscheinen lassen, die Sprache nirgendwo an irgendeiner Stelle erzwungen und gewaltsam erscheint, alles rundend und in sich greift.
  • 3 Punkte für: Nordstadt – da Schneeflocken, kleine Details, widerhakende Erlebnisse repetiert und so entschärft werden, dass eine gewisse, stilistische Nonchalance sich einstellt, die zu einem fröhlichen Schweifen einlädt.
  • 2 Punkte für: Lektionen in dunkler Materie – da nirgendwo die Bilder und dichten Szenerien und Ereignisse gestört oder verfremdet werden und der Eindruck von Gekünsteltheit entsteht.
  • 1 Punkt für: 153 Formen des Nichtseins – da die Selbstreflexion als kontinuierliches Mittel, nackte Ehrlichkeit erlaubt und ein Sich-Selbst-zur-Rede-Stellen niemals rhetorisch geglättet wird.

Und so zur vorletzten Kategorie, die beinahe als stillschweigende Summe und Synergieeffekt der vorherigen gelten könnte:

Literarizität:

Hiermit ist gemeint, dass sich ein gewisses, überraschendes, sich verbreiterndes Lesevergnügen einstellt, ein Abenteuer, eine Erweiterung, Entfaltung eines Eigenständigen im Fluss des Buchstaben- und Wortaneinanderreihens, ein Gefüge, das Torbogen gleich, sich gegenseitig stützt, da eine zentrale Idee, die Worte durchfließt und zusammenhält; etwa durch eine Nach-, Nah- und Fernwirkung des Geschriebenen im Erinnern, im Lesen, das sich rekursiv zurückbindet und nachhallende Bedeutungsebenen freigibt.

  • 5 Punkte für: 153 Formen des Nichtseins – da sich erst ganz am Ende die Stimmungslagen zu einem Ganzen zusammenfügen, die Schnipsel und Fragmente aus dem Internet, Zeitungen und Ebay aufeinander verweisen und als Labyrinth erweisen, aus dem das Erzähl-Ich zu entfliehen sucht.  
  • 4 Punkte für: Nordstadt – da sich der Songcharakter erst im letzten Drittel des Buches findet, in Schlaufen und Reihungen parataktisch verfährt und ein Lebensgefühl optimistischer Weite trotz klaffender Schweigespiralen vermittelt und dem Kann nicht-, Darf-nicht, Soll-nicht Paroli bietet.
  • 3 Punkte für: Ist hier das Jenseits, fragt Schwein – da aus der Tristesse in den Himmel, in das Jenseits und zurück ein literarischer Raum sich setzt, der nach dem Lesen weiterschwingt.
  • 2 Punkte für: Lektionen in dunkler Materie – da das Geschwistergespräch zum Ende das Weltall verbindet, den Schmerz, die Angst, die Kürze des Daseins veranschaulicht und auf ein Mehr hoffen lässt.
  • 1 Punkt für: Liebe ist gewaltig – da Juli ein unwahrscheinliches Gleichgewicht findet, das sie zurück in die Freundschaft zu Anikó führt, wo sie sich zum ersten Mal traut, von sich zu erzählen.

Insgesamt also ergibt sich, wie das im Leben nun einmal ist, ein gemischtes Bild voller Gleichartigkeiten, Besonderheiten, die das eine neben das andere stellt, ohne die Einzelheit antasten zu können. Jedes Buch hat sein eigenes Gefüge, seine eigene Stärke. Vor der unvermeidlichen Punktvergabe stellt sich die Punkteliste wie folgt dar:

  • 14 Punkte für: 153 Formen des Nichtseins  
  • 14 Punkte für: Ist hier das Jenseits, fragt Schwein
  • 13 Punkte für: Nordstadt  
  • 12 Punkte für: Liebe ist gewaltig  
  • 7 Punkte für: Lektionen in dunkler Materie  

Die ausgewählten Kategorien scheinen nur Lektionen in dunkler Materie unangemessen gewesen zu sein. Alle weiteren Titel können auf Punkte und Höchstzahl durch die unvermeidlich letzte Kategorie hoffen:

Persönliche Präferenz:

Diese Kategorie ist eindeutig, unverhohlen, moment- und augenblicksabhängig von der Lesart, die ich, wohl oder übel, mich veranlasst gesehen habe, beim jeweiligen Titel zu veranschlagen. Meine persönliche Präferenz, mit 5 zusätzlichen Punkten versehen, gilt:

153 Formen des Nichtseins von Slata Roschal, weil es mich überrascht und trotz massiver Zweifel im Laufe des Lesens mehr und mehr überzeugt hat, bis ich nicht umhin konnte, es als außergewöhnlich in jedem Sinne zu betrachten. So etwas habe ich schlicht noch nicht gelesen, so viel Ehrlichkeit, Wucht und Verletzlichkeit in einem.

Dem Organisationsteam von Das Debüt 2022 wurde also die folgende Punktevergabe mitgeteilt:

  • 3 Punkte für 153 Formen des Nichtseins,
  • 2 Punkte für Ist hier das Jenseits, fragt Schwein,
  • 1 Punkt für Nordstadt.

Gerecht geworden bin ich sicherlich keinem der Bücher, aber alle Bücher haben etwas für mich bereitgehalten, mit welchem ich nicht gerechnet habe und meine Freude und Lust auf Literatur nur bestärkt. Hierfür bedanke ich mich bei allem, den Autorinnen, dem Organisationsteam und den Mitlesenden!

Arno Geiger: „Das glückliche Geheimnis“

Künstler oder Nicht-Künstler sein … Spiegel Belletristik-Bestseller (07/2023)

Ein entscheidender Hinweis findet sich direkt auf der Titelseite von Arno Geigers neuestem Buch Das glückliche Geheimnis: Dort steht nur der Verlag und keine Gattungsbezeichnung. Es handelt sich also nicht um einen Roman oder um eine Erzählung. Und in der Tat, wiewohl das Buch in der Belletristik Bestseller-Liste geführt wird, ordnet es sich in die Reihe der Sachbücher/Autobiographien ein. Buecheratlas nennt es eine autobiographische Erzählung. „Der Autor schont sich ganz und gar nicht“, was „zu vielen aufschlussreichen Passagen“ führt. Für literaturoutdoors ist es “Seite um Seite ein Mitgerissenwerden in Neugierde und Spannung“, wobei feinerreinerbuchstoff es aufgrund seiner „Lebensweisheiten“ und Alltagsbetrachtungen „einem ruhigen, leisen, unaufgeregten und liebevollen Schatzkästchen“ gleichsetzt und leckerekekse unsicher bleibt,  „wie offen und wahrheitsgetreu diese Erzählungen und Berichte sind, aber unterhaltsam sind sie auf jeden Fall.“ Arno Geigers Das glückliche Geheimnis sperrt sich also gegen eindeutige Zuordnungen und dies hat viel mit der zugrundeliegenden Ambivalenz des Ich-Erzählers zu tun, der sein Doppelleben bloßlegt:  

In der Welt der Geheimnisse gibt es jetzt ein Geheimnis weniger. Ein glückliches Geheimnis ist gelüftet. Der dunkle Deckmantel meines Doppellebens liegt am Boden. Weil ich es so will. Und warum? Um zu versuchen, endlich der zu sein, der ich bin? Oder um mich endgültig abzusondern und zu sagen, ich gehöre nicht zu euch? Vermutlich ein bisschen von beidem. Auf alle Fälle erfordert es Überwindung, mich zu zeigen.

Arno Geiger aus: “Das glückliche Geheimnis”
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Claudia Schumacher: „Liebe ist gewaltig“ [Das Debüt 2022]

Das Cover von Claudia Schumachers Debütroman zeigt eine in Öl gemalte junge Frau. Sie liegt kopfüber und schaut aus dem Bild heraus und schaut in ihr Publikum. Sie schaut still und unbesorgt, ihre Wange hinhaltend. Neben den rotgeschminkten Lippen prangt der Romantitel Liebe ist gewaltig. Wie in der Danksagung zu finden ist, handelt es sich um einen Ausschnitt aus Xenia Hausners Gemälde Baywatch. Die warmen Farben, das friedliche Motiv und das Kopfüber-Stehen deuten auf eine tieferliegende, fast prästabilierte Harmonie hin. Nur der stoische Blick der Frau lässt einen Widerstand vermuten. In ihm liegt etwas Unbestechliches, etwas Nüchternes, Zeitloses, aber auch Hinnehmendes. Im Roman jedoch geht es gleich hart zur Sache:

Papa schlug Bruno mit der Faust ins Gesicht. Aufs Auge. Auf die Lippen. Bruno winselte vor Schmerz und vor Demütigung, presste dazwischen Sätze raus wie: Papa, ich hab‘ doch nichts gemacht, Papa, hör auf, Papa, ich wollte das nicht, Papa, Papa, bitte, bitte. Und irgendwann lag er auf dem Boden. Sein linkes Auge geschwollen. Blut am Mund. Papa kickte ihm brüllend gegen den Kopf. Mit Schuhen, die er sich extra dafür angezogen hatte.

Claudia Schumacher aus: “Liebe ist gewaltig”
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Noemi Somalvico: „Ist hier das Jenseits, fragt Schwein“ [Das Debüt 2022]

Farm der Tiere, nur friedlich … Shortlist des Bloggerpreises “Das Debüt 2022”

Sprechende Tiere tauchen gar nicht so selten in der Literatur auf, bspw. die sprechenden Hunde in Franz Werfels Stern der Ungeborenen oder in Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie oder als neuere Variante Bekenntnis des Affen von Shinagawa aus Haruki Murakamis Erste Person Singular. Als Träger der Haupthandlung, als Haupfiguren also, tauchen sie seltener auf. Allen voran wären da zu nennen: George Orwells Die Farm der Tiere, und Jack Londons Ruf der Wildnis oder Unten am Fluß von Richard Adams. Im Gegensatz zu den genannten Versionen existieren in Noemi Somalvicos Ist hier das Jenseits, fragt Schwein gar keine Menschen, nur Tiere und Götter:

Nacht ist nicht geworden. Deshalb gibt’s auch keinen Tagesanbruch, keine Morgenröte, keinen ersten Sonnenstrahl, der auf den Sand fällt, sodass dieser zu sirren beginnt. Wären da nicht die kleinen Insekten, die herumschwirren, man könnte meinen, bei dieser Landschaft handle es sich um ein begehbares Foto. […] Gott trottet im Abstand von etwa hundert Metern hinterher. Es ist keine Kunst, der Route von Dachs und Schwein zu folgen. Mit dem Koffer, den es wie einen Schlitten hinter sich herzieht, gräbt Schwein eine fette Linie in den Sand.

Noemi Somalvico aus: “Ist hier das Jenseits, fragt Schwein”
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Slata Roschal: „153 Formen des Nichtseins“ [Das Debüt 2022]

Im Kampf gegen Fremdbestimmung … Shortlist des Bloggerpreises “Das Debüt 2022

Es gibt Romane, die laut anklagen, krakeelen wie Hengameh Yaghoobifarahs Ministerium der Träume; oder jene, die larmoyant ihre soziale Existenz bedauern, indes sie von einem Leben in Saus und Braus träumen wie Kim de l’Horizon in Blutbuch. Es gibt auch solche, die mit Humor zur Sache gehen wie Tomer Gardi in Eine runde Sache oder verwundet und etwas gebrochen, aber perennierend und auf Kultur und Kunst hoffend wie Emine Sevgi Özdamar in Ein von Schatten begrenzter Raum. Bei aller Unterschiedenheit eint diese Schreibweisen, die mit den höchstdotiertesten deutschen Literaturpreisen versehen wurden, bspw. u.a. mit dem Büchner- oder den Deutscher oder Schweizer Literaturpreis, ein Ankämpfen gegen normierte, von außen aufgedrückte fremde Sprach- und Sprechweisen. Stiller, bescheidener, aber mit selbiger Stoßrichtung kommt Slata Roschals 153 Formen des Nichtseins daher:

Ich wollte mich als einen Teil der ansässigen Bevölkerung präsentieren, als einen Einheimischen, als einen Vertreter der ärmlichen, aber gebildeten, intellektuellen und aufsteigenden Mittelschicht. Mein Deutschsein war aber zu reflektiert, zu absichtlich, sobald ich das Pragmatische, die konkreten Ziele des Sprechens außer Acht ließ, wurde meine Sprache zu einer seltsamen Mischung, zu einer breit angelegten Performance, eigenartig und irritierend.

Slata Roschal aus: “153 Formen des Nichtseins”
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Jürgen Habermas: „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit“

Kaum ein Denker setzt so viel Hoffnung und Erwartung in die literarische, bürgerliche Öffentlichkeit wie Jürgen Habermas. Mit seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit räumte er 1962 dem räsonierenden Publikum die bedeutsame Stellung ein, zwischen Gesellschaft und Staat, also zwischen Bevölkerung und Regierung zu vermitteln. 60 Jahre später erscheint nun Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit, in welchem er diese Rolle, die der literarisch und philosophisch sich bildenden und  Sachverstand sich aneignenden Räsonierenden erneut bestimmt. Noch immer gilt für sie:

Sie [eine Demokratietheorie] muss den prinzipiellen Bedeutungsgehalt der historisch vorgefundenen und bewährten, also hinreichend stabilen Verfassungsordnungen explizit machen und die rechtfertigenden Gründe erklären, die der faktisch ausgeübten Herrschaft im Bewusstsein ihrer Bürger tatsächlich legitimierende Kraft verschaffen und daher auch deren Beteiligung sichern können.

Jürgen Habermas aus: “Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit”
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Mein Lesejahr 2022

Wie im letzten Jahr möchte auch dieses Mal kurz vor Neujahr mein Lesejahr Revue passieren lassen und mit meinem letzten Post des Jahres 2022 meine diesjährigen Lesehighlights nennen. Letztes Jahr unterschied ich in den Kategorien „Selbstironie“, „Selbstlosigkeit“ und „Selbstbewusstsein“ sowie ein „Jenseits der Bestseller-Listen“. Dieses Jahr möchte ich in „Vorwärts“ und „Rückwärts“ sowie in „Hoffnungsvoll“ und „Zeitlos“ unterscheiden, um die verschiedenen Erzählhaltungen zu kategorisieren: Jene, die nach vorn schauen, in eine ungewisse Zukunft, und die, die rückwärts schauen, in eine wiederentdeckte, sich aufdrängende Vergangenheit; solche, die die Zeit mittels dialektischer Bilder im Stillstand aufzulösen versuchen, und jene, die sich von der Zeit einfach nicht bange machen lassen wollen.

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