Isabel Allende: „Violeta“

Ein in der Weltgeschichte … Spiegel Belletristik-Bestseller (32/2022)

Familienchroniken werden in der Literatur oft beschrieben. Der Aufstieg und Fall, die Tragödien und Komödien miteinander verwandter Menschen bilden ein eigenes Universum, ein soziales System, eine Welt für sich. Die Familie fungiert in diesen Romanen wie eine Monade der Gesellschaft, fensterlos, ganz im Sinne von Gottlieb Wilhelm Leibniz, als fraktaler Teil des Ganzen, ein Ganzes für sich, das das Ganze spiegelt und repräsentiert. Es gibt viele Beispiele für diese Art von Roman, wie im letzten Jahr Jonathan Franzens Crossroads, in welchem eine Pfarrersfamilie durch dick und dünn mit- und gegeneinander geht, um sich selbst und anderen auf die Schliche zu kommen. Paradigmatisch für all diese Werke steht möglicherweise Thomas Manns Roman Die Buddenbrooks – Verfall einer Familie. Isabel Allende hat mit ihrem neuesten Roman Violeta, aus dem Spanischen von Svenja Becker übersetzt, eine Art Inversion von Die Buddenbrooks vorgelegt. Der Roman beginnt und endet nicht mit dem Zerfall einer unternehmerischen Großfamilie im Chile der 1930er Jahre:

Zwei Tage nach dem Sturz der Regierung bekam Arsenio del Valle den Gnadenstoß, als man ihn anwies, das große Haus der Kamelien zu verlassen, in dem er und alle seine Kinder geboren worden waren. Man gab ihm eine Woche, um es zu räumen. Außerdem wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wegen Betrugs und Steuerhinterziehung, wie es sein Sohn José Antonio seit langem befürchtet hatte.
Niemand hörte den Schuss in unserem riesigen Haus mit seinen vielen Räumen, wo die Rohre rauschten, das trockene Holz knarzte, die Mäuse verborgen in den Wänden scharrten und die Bewohner ihren Alltagsgeschäften nachgingen. Erst am nächsten Morgen fand ich meinen Vater, als ich in die Bibliothek ging, um ihm eine Tasse Kaffee zu bringen, wie ich es öfter tat, seit die Dienstmädchen entlassen worden waren.

Isabel Allende aus: „Violeta“

In Allendes neuestem Roman wird die Geschichte der Familie del Valle erzählt. Violeta, die Tochter von Arsenio, die ihren Vater tot in der Bibliothek findet, schreibt ihrem Enkel Camilo Briefe, um ihn einerseits an seine Herkunft zu erinnern, andererseits von seinem vielleicht zu strengen Lebensweg abzubringen, aber auch um sich und die Gegenwart in Zusammenhang der Familiengeschichte lesen zu können, denn mit dem Tod des Patriarchen bewegte sich die Familie rundum Violeta immer mehr einem Chaos zu. In Die Buddenbrooks läuft dagegen alles auf den Sturz und Tod des Familienoberhauptes zu. Fast ganz am Ende des Buches fällt der Senator und Chef des Familienunternehmens Thomas Buddenbrook den Nachwirkungen einer Zahnbehandlung zum Opfer, als er eine Straße zu überqueren gedenkt:

Als er etwa die Mitte desselben [des Fahrdamms] erreicht hatte, geschah ihm folgendes. Es war genau, als würde sein Gehirn ergriffen und von einer unwiderstehlichen Kraft mit wachsender, fürchterlich wachsender Geschwindigkeit in großen, kleineren und immer kleineren konzentrischen Kreisen herumgeschwungen und schließlich mit einer unmäßigen, brutalen und erbarmungslosen Wucht gegen den steinharten Mittelpunkt dieser Kreise geschmettert … Er vollführte eine halbe Drehung und schlug mit ausgestreckten Armen vornüber auf das nasse Pflaster.

Thomas Mann aus: „Die Buddenbrooks“

Im Gegensatz aber zu Franzens Crossroads und Manns Die Buddenbrooks handelt es sich in Allendes Roman um eine ausgewiesene, personale Erzählerin. Die Erzählinstanz fliegt nicht über den Dingen. Sie ist keine anonyme Kamera, die in die Szenen hineinzoomt und wieder hinauszoomt. Die Erzählzeit bleibt zugleich die Lebenszeit von Violeta, und nur auf den ersten Seiten berichtet sie von Dingen, die sie eigentlich nicht wissen kann, die ihr aber glaubhaft von Familienmitgliedern berichtet worden sind. Das personale Erzählen bindet die Ereignisse zurück auf eine Familienüberlieferung, die sich in der zur Zeit des Erzählens 100jährigen Violeta verdichtet und erhalten hat. In ihren Erinnerungen, in der Reue und Freude über die Vergangenheit lässt sie nochmals alles, von ihrer Geburt 1920 an bis zu ihrem letzten Lebensjahr 2020, Revue passieren, um die Verantwortung für die aus allen Fugen geratenen Familienverhältnisse mit einem letzten Kraftakt auf ihren Enkel zu übertragen:

Mein geliebter Camilo, mit diesen Seiten möchte ich Dir ein Zeugnis hinterlassen, weil ich mir vorstelle, dass Dich in ferner Zukunft, wenn Du alt bist und an mich denkst, Dein Gedächtnis womöglich im Stich lässt, denn Du bist so zerstreut, und mit den Jahren wird das nicht besser. Mein Leben ist es wert, erzählt zu werden, was weniger an meinen tugendhaften als an meinen sündigen Taten liegt, von denen Du viele nicht ahnst. Hier erzähle ich Dir von ihnen. Du wirst sehen, mein Leben ist ein Roman. […] Diese Zusammenfassung soll meine ausufernde Korrespondenz ersetzen. Ich liebe Dich mehr als irgendwen sonst auf der Welt
Violeta
Santa Clara, September 2020

Wert ist die Geschichte, erzählt zu werden, unter anderem dadurch, dass viele der wichtigsten Ereignisse, die zwischen 1920 und 2020 die Welt ereilen, narrativ von Violeta eingebunden werden. Wie es der Zufall nämlich so will, steht jede wichtige Figur in dem 400 Seiten langen Roman für eine bestimmte, jeweils weltgeschichtsschreibende Episode: Das Leben ihres Großvaters Arseniso ist eng verknüpft mit der Weltwirtschaftskrise 1929; ihr Hausmädchen Miss Josephine Taylor mit den sozialen Befreiungskämpfen und der Frauenbewegung; ihr erster Ehemann Fabian Schmidt-Engler mit den deutschen in Sachen Forschung und Medizin begangenen Kriegsverbrechen; ihr Geliebter und Vater ihrer zwei Kinder Julián Bravo mit der Kubanischen Revolution 1959 und dem Putsch in Chile 1973; ihr Sohn Juan Martín mit der Studentenbewegung der 1968er; und ihre Tochter Nieves mit den Hippies und den Drogenproblemen, um nur einige zu nennen. Zudem wurde Violeta während der Spanischen Grippe-Pandemie 1920 geboren und schreibt die Zeilen an ihren Enkel Camilo während der grassierenden Corona-Pandemie:

Die Welt ist zum Stillstand gekommen, die Menschheit in Quarantäne. Merkwürdig, diese Symmetrie, dass ich in einer Pandemie geboren bin und in einer weiteren sterben werde. Im Fernsehen habe ich gesehen, dass die Straßen der Städte wie leergefegt sind, zwischen den Wolkenkratzern in New York wohnt das Echo, und um die Denkmäler von Paris gaukeln Schmetterlinge. Ich kann keinen Besuch empfangen, und das erlaubt es mir, mich allmählich und in Frieden zu verabschieden. Überall ist die Geschäftigkeit eingestellt, und es herrscht Angst, nur hier auf Santa Clara ist alles wie immer: Die Tiere und die Pflanzen wissen nichts von dem Virus, die Luft ist rein, und es ist so still, dass ich von meinem Bett aus die Grillen am weit entfernten See hören kann.

Violetas Leben besteht aus vielen Höhen und Tiefen, die aber selten in aller Deutlichkeit mitgeteilt werden. Der Ton bleibt distanziert. Allendes Violeta ist deshalb kein typischer Briefroman wie Friedrich Hölderlins Hyperion oder Cecelia Ahern Für immer vielleicht. Es hat nicht den Charakter einer Beichte oder den von einem Bekenntnis. Viel zu selten wird nämlich Camilo angesprochen und die direkte Korrespondenz zum Anlass genommen, um über den Lauf der Dinge zu reflektieren. Die Intimität fehlt völlig. Vielmehr bleibt das Briefeschreiben ein bloßer Rahmen, und über weite Teile berichtet Violeta auf klassische Weise über die bürgerlichen Zustände und Umstände ihres Lebens, wie Simone de Beauvoir in ihrem Roman Die Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, um nur ein Beispiel zu nennen:

Mama zerstampfte Pralinen in einem Mörser, sie mischte die körnig-pudrige Substanz mit einer gelben Creme; das Rosa der süßen Füllungen stufte sich in erlesenen Tönungen darin ab: Ich tauchte meinen Löffel in etwas wie Abendröte. An den Abenden, an denen meine Eltern Gäste hatten, vervielfältigten die Spiegel im Salon das Glitzern eines kristallenen Lüsters. Mama setzte sich an den Flügel, eine Dame im Tüllkleid spielte Geige und ein Vetter Cello.

Simone de Beauvoir aus: „Die Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“

Bei Allende lesen sich die Veranstaltungen ähnlich luxuriös, voller köstlicher Speisen und Abendunterhaltungen, die in dieser Zeit und Schicht neben der obligatorischen klassischen Musik auch aus Zauberkünsten bestanden zu haben schienen:

Das »Kaffeetrinken« der Nichte bestand jedenfalls aus einer Unmenge verschiedener Kuchen, heißer Schokolade in Karaffen aus Silber, Eiscreme und Likören in Gläsern aus böhmischem Kristall, und für Stimmung sorgten einige junge Frauen mit Streichinstrumenten und ein Magier, der Seidentücher erbrach und den Damen verdutzte Tauben aus den Dekolletés zog.

In Thomas Manns Die Buddenbrooks ergibt sich ein kongruentes Bild. Hier jedoch wird strikt zwischen dem Essen und dem Musikgenuss geschieden und beides getrennt abgehalten:

Die Konsulin, Frau Permaneder, Christian, Klothilde, Herr und Frau Konsul Kröger, Herr und Frau Direktor Weinschenk, sowie die Damen Buddenbrook aus der Breiten Straße und Fräulein Weichbrodt hatten zur Feier von Hannos Geburtstag um vier Uhr beim Senator und seiner Frau zu Mittag gegessen; nun saßen sie im Salon und blickten lauschend auf das Kind, das in seinem Matrosenanzug am Flügel saß, und auf die fremdartige und elegante Erscheinung Gerdas, die zuerst auf der g-Saite eine prachtvolle Kantilene entwickelte und dann, mit unfehlbarer Virtuosität, eine Flut von perlenden und schäumenden Kadenzen entfesselte. Der Silberdraht am Griff ihres Bogens blitzte im Licht der Gasflammen.

Thomas Mann aus: „Die Buddenbrooks“

Isabel Allendes Roman bettet sich nahtlos in die Geschichtsschreibung des gehobenen Bürgertums ein, nur nicht als Beschreibung eines Verfalls wie bei Simone de Beauvoir, deren beste Freundin Zaza an den Verhältnissen untergeht, oder Thomas Mann, der das Werden und Vergehen im Schopenhauerischen Sinne zelebriert und die Familie Buddenbrooks an der eigenen Anämie zerbrechen lässt. Bei Allende geht es stattdessen darum, was nach dem Verfall mit einer Familie passiert. Violeta berichtet im lakonischen Ton von den Umständen. Illusionslos gibt sie sich dem Schicksal hin und beschreibt ihren Lebensweg als erfolgreiche Geschäftsfrau, Geliebte eines Mafia-Kampfpiloten und als besorgte, aber hilflose Mutter, die bereits sehr früh die Hoffnung aufgibt, auf ihre Kinder positiv einwirken zu können. Sie kann es nicht. Insbesondere ihre Tochter verliert sie völlig aus dem Blick:

Auf seinen Fotos sah man Nieves in lumpenartigen, mit kleinen Spiegeln verzierten Sachen und Blumen im Haar, mit einer Handvoll Jugendlicher gegen den Vietnamkrieg demonstrieren, im Lotussitz zu Füßen eines zotteligen Gurus sitzen oder in einem Stadtpark Balladen singen und um eine kleine Spende bitten. Sie schlief in WGs, auf der Straße, in einem schrottreifen Auto, eine Nacht hier, die nächste Nacht dort, ein Nomadendasein, wie es unter Jugendlichen damals nicht selten war. Sie überließ sich dem Reiz zielloser Freiheit, der Liebe für einen Tag und dem Rausch des Nichtstuns.

Das Verhältnis zwischen Violeta und Nieve erzeugt die intensivsten Momente in dem Roman. Die Hilflosigkeit, die eigene Tochter ins Unglück abgleiten zu sehen und nichts tun zu können, passt zu der distanzierten, von weit weg beschreibenden Erzählstimme, die keinen Weg zu ihrer Tochter, die keinen Weg ins erzählerische Geschehen zu finden vermag. Sie bleibt an der Oberfläche stehen. Die Schachfiguren ziehen ihre Züge. Violeta steht mittendrin und schaut zu, versucht das Beste aus dem Tragischen zu schaffen, was ihr hier und da, aber beileibe nicht immer gelingt. Im Grunde nämlich läuft nie irgendetwas nach Plan. Violeta steht zwischen den Kämpfen. Sie plädiert für den Individualismus, aber gerät deshalb zwischen die Räder. Ihr Lebensgefährte und ihr Sohn verfeinden sich. Mord und Totschlag, Krankheit und Tod geben sich in der Familie del Valle die Klinke in die Hand:

Ich fühlte mich innerlich ausgeleert, war nur noch ein blutiger Hohlraum, die Luft gelangte nicht hinein, die Knochen waren wächsern, die Seele auf der Flucht. Und die Erde drehte sich weiter, als wäre nichts geschehen. Aufstehen, einen Schritt tun und einen zweiten, die Stimme suchen und antworten, ich habe den Verstand nicht verloren, trinke Wasser, der Mund ist voller Sand, die Augen brennen, und mein Kind ist starr, eisig, aus Alabaster geschnitzt, meine Tochter, die nie wieder »Mama« zu mir sagen wird, die eine ungeheuerliche Spur ihres Daseins in meinem Leben hinterlässt, die Erinnerung an ihr Lachen, an ihre Anmut, an ihre Rebellion, an ihr Martyrium.

Violeta gibt aber nicht auf, versucht es immer wieder, gibt nicht kleinbei und hört nicht auf, noch bis ins hohe Alter hinein auf ihre Mitmenschen und Familie einzuwirken. Die Vergeblichkeit ihrer Bemühung schillert jedoch durch die Zeilen hindurch. Der neuen Unordnung lässt sich kein Einhalt gebieten. Zufall reiht sich an Zufall. Alles stürzt ins Ungewisse, vor allem für die Generation ihres Enkels:

Es war nicht das erste Mal, dass der Rektor Dich einer Teufelei bezichtigte. Er hatte mir schon früher damit gedroht, Dich der Schule zu verweisen, als Du auf das Maskottchen des Internats, eine Schildkröte, gekackt hattest und als Du wie eine Spinne an der Fassade der Zentralbank hinaufgeklettert bist, Dich dort an die Fahnenstange gehängt hast und die Feuerwehr Dich retten musste. Aber diesmal war es viel ernster.

In Isabel Allendes Roman Violeta spricht ein Bürgertum, das mit sich und der Welt abgeschlossen hat. Es ist zwar noch reich, aber es besitzt kaum noch Vergnügungen an irgendetwas. Die Kinder drehen durch. Die Ehen zerbrechen. Religion, Politik und Kunst haben ihren Zauber verloren. Allende beschreibt Zustände einer industrialisierten Spätmoderne, die Herbert Marcuse in den 1960ern und 1970ern sozialphilosophisch mit den Begriffen von Freuds Psychoanalyse des Lust- und Todestriebes untersuchte und auf den Begriff der repressiven Entsublimierung gebracht hat. Er begründete diesen Begriff, den Sigmund Freud zu seiner Zeit noch nicht in Betracht zog, da dieser von Gleichgewichtsprozessen ausging. Marcuse sieht jedoch die Möglichkeit von Resonanzkatastrophen:

Die Vorstellung kontrollierter Entsublimierung würde die Möglichkeit einschließen, daß gleichzeitig unterdrückte Sexualität und Aggressivität freigesetzt werden, eine Möglichkeit, die mit Freuds Begriff des festen Quantums an Triebenergie unvereinbar scheint, die zur Verteilung auf die beiden Primärtriebe verfügbar ist. Nach Freud würde die Stärkung der Sexualität (Libido) notwendig eine Schwächung der Aggressivität nach sich ziehen und umgekehrt. Wäre jedoch die gesellschaftlich erlaubte und ermutigte Freisetzung der Libido die von partieller und lokalisierter Sexualität, so liefe sie faktisch darauf hinaus, die erotische Energie zu komprimieren, und diese Entsublimierung wäre mit dem Anwachsen unsublimierter wie sublimierter Formen der Aggressivität vereinbar. Letztere greift in der gegenwärtigen Industriegesellschaft um sich.

Herbert Marcuse aus: „Der eindimensionale Mensch“

In Allendes Roman ballt und konzentriert sich dieser Übergang in der Figur Julián Bravos, Violetas untreuen Geliebten und Vater ihrer zwei Kinder. Violeta verfällt seiner Ausstrahlung auf den ersten Blick. In ihm ballen sich Freiheit, Gewalt, Eros und Thanatos, Disziplin und Zügellosigkeit und erzeugen eine so explosive Mischung, dass Violeta es nicht vermochte, sich von Bravo fernzuhalten:

Mit einem Fuß auf dem Boden saß er auf der Brüstung der Terrasse, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein Glas Whisky, gekleidet in eine khakifarbenen Hose und ein kurzärmliges weißes Hemd, das seinen Oberkörper und seine athletischen Arme gut zur Geltung brachte. Er strahlte etwas Sexuelles und Gefährliches aus, das war für mich schon aus etlichen Metern Entfernung deutlich spürbar. Anders kann ich das nicht sagen. Diese unwiderstehliche männliche Energie, die für Julián in seinen jungen Jahren typisch war, verließ ihn bis zu seinem Tod über vierzig Jahre später nie ganz. Unfähig, mich irgendwie zu rühren, nahm ich auf der Stelle mit einer Mischung aus Entsetzen und drängender Vorfreude hin, dass sich mein Leben hier und jetzt unwiderruflich wendete.

Violeta weiß selbstverständlich, dass Bravo gefährlich, unzuverlässig und auch kriminell ist, und geht trotz aller Bedenken eine langjährige Beziehung mit ihm ein. Diese Beziehung, die für das Festhalten an überkommenen Rollenbildern und Traditionen steht, die Distanz und Akzeptanz, das unentschiedene Oszillieren zwischen Konservatismus und Reformismus, wird Violeta und ihren Verwandten letztendlich zum Verhängnis. Was bleibt, ist der permanente Wechsel zwischen Aktionismus und Resignation, und genau zwischen diesen beiden Polen pendelt die hundertjährige Geschichte Violetas hin und her. Im Gegensatz zu Franzens Crossroads nimmt sie keine Tiefenpsychologie ins Visier. Noch allegorisiert sie wie Thomas Mann in Die Buddenbrooks eine Kulturphilosophie des Nihilismus, oder politisiert sie das Private wie Simone de Beauvoir in Die Memoiren einer Tochter aus gutem Hause. Sie geht einen sehr eigenen Weg, den der Nonchalance der unfreiwillig Beteiligten, die mit einem Dschungel aus Gefühlen, Begehrlichkeiten, Illusionen und Ängsten konfrontiert wird:

Die Luft roch nach feuchter Erde, nach den würzigen Blättern der heimischen Bäume, nach den Pilzen, die an ihren Stämmen wuchsen. Hier und da schimmerte hoch oben zwischen den Zweigen das Rot und Weiß blühender Schlingpflanzen. Den ganzen Tag hindurch hatte er [der französische Missionar und Aktivist Albert Benoît] das Lärmen der Vögel gehört, den Schrei des Adlers, das Rascheln von Tieren im Unterholz, aber mit Einbruch der Dunkelheit schwieg die Welt.

Es ist still geworden um die Moderne herum. Die Episoden reihen sich. Die Sprache strebt parataktisch ihrem eigenen Ende entgegen. Die Flucht nach vorn aber misslingt. Violeta berichtet von einem Ende der Geschichte, das kein Ende ist. Das Chaos, der Dschungel, bricht über sie ein. Weder die Handlungsweisen ihrer Kinder, noch die ihrer Lebensgefährten oder Enkel ergeben noch Sinn. Es lassen sich weder Zusammenhalt noch Zusammenklang zwischen den Ereignissen finden. Alles fließt, aber in unkontrollierte Richtungen. Was bleibt, ist die Hoffnung auf die Zukunft, auf das Neue und Unvorhersehbare, die Hoffnung auf ihren Enkel, den sie mit Geschichten aus der Vergangenheit überhäuft, auf dass dieser aus ihr lernen kann, denn die Vergangenheit ließ viel zu viel zu wünschen übrig. Doch von genau dieser Vergangenheit handelt einzig ihr Roman.

tl;dr … eine Kurzrezension findet sich hier.

10 Antworten auf „Isabel Allende: „Violeta““

  1. arcimboldis_world – based in Zürich - Switzerland – ADRIAN THOMAS MAI - That‘s ME! #operalover #theatre_junkie #lets_wok #i_love_cooking #addicted_to_literature #world_traveller
    arcimboldis_world sagt:

    Hello lieber Alexander – hat es Dir denn nun gefallen oder nicht? 🙂 herzlichst am Sonntag aus Zürich, A.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Wie soll ich das sagen – das Buch hat mich vielleicht auf dem falschen Fuß erwischt. Ich habe eine Kurzrezension vergessen zu verlinken. (Ganz am Ende der Lesebesprechung, ich hab’s nun nachgeholt.) Ich ende die Einschätzung mit:

      „Komplexität scheint Allendes Sache nicht zu sein. Sie nimmt die Geschichte zwar direkt bei den Hörnern, wird von ihr jedoch unkontrolliert mitgerissen. Am Ende bleibt nicht viel mehr zurück als eine große Hilflosigkeit und Hoffnung, es mag nicht alles vergebens gewesen sein. Hierfür hätte es aber nicht 400 Seiten Fließtext bedurft.“

      Ich weiß nicht genau, für welches Publikum sie Violeta geschrieben hat. Die, die etwas über Geschichte wissen, werden Details vermissen. Die, die nichts über Geschichte wissen, werden vielleicht erstaunt sein, aber möglicherweise nichts herausziehen können. Ich fand es sehr schade, dass die Ich-Erzählerin als Figur nicht stärker herausgearbeitet wurde. Aber zur Mitte des Buches steht die Beziehung zur Tochter in den Vordergrund, und dort liest sich das wirklich gut geschriebene Buch auch äußerst spannend und mitreißend. Ich bin selbst etwas ratlos, aber wenn du mich so direkt fragst, so unumwunden, dann nein, es hat mir nicht gefallen 🙂 Viele Grüße aus Berlin.

  2. arcimboldis_world – based in Zürich - Switzerland – ADRIAN THOMAS MAI - That‘s ME! #operalover #theatre_junkie #lets_wok #i_love_cooking #addicted_to_literature #world_traveller
    arcimboldis_world sagt:

    Hm, nicht jeder Autor wird eben mit dem Alter besser. Mir haben die frühen Romane von ihr ganz gut gefallen, ihre grossen Weltbestseller und ich hatte eben überlegt, ob ich mal wieder was von ihr lesen soll. Aber ich lass das nun lieber….. Danke für Deine Anmerkungen und einen wunderbaren Sonntag wünscht Dir Adrian aus Zürich.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen. Das Buch liest sich formidabel. Wer ein bisschen Familiendrama und Familiengeschichte lesen möchte, gar nicht gewollt mit der Weltgeschichte in Zusammenhang gebracht, wird vielleicht viele vergnügliche Stunden mit dem Buch haben. Mich hat es nicht überzeugt – es blieb mir zu distanziert, am Ende, denke ich. Ich grüße ganz herzlich und wünsche einen guten Start in die Woche!!

      1. arcimboldis_world – based in Zürich - Switzerland – ADRIAN THOMAS MAI - That‘s ME! #operalover #theatre_junkie #lets_wok #i_love_cooking #addicted_to_literature #world_traveller
        arcimboldis_world sagt:

        Hahaha – ich habe auch manchmal ein schlechtes Gewissen, wenn ich ein Buch überhaupt nicht mochte und das auch so geschrieben habe – ich nehme da ja kein Blatt vor den Mund. Aber so ist das nun mal. Ich bin ja dafür auch ganz euphorisch, wenn ich ein Buch toll finde. Das ist in Ordnung. Das ist authentisch. Neverending Sommergrüsse aus Zürich.

      2. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
        Alexander Carmele sagt:

        Sehe ich genauso! Einen schönen Start ins Wochenende!! Und Danke nochmals für diese Goncourt-Brüder-Rezension. Das hat mich sehr interessiert.

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