
Selten verirren sich Romane in die Bestsellerlisten, die auf Erklärungen, Begründungen, in sich geschlossene Erzähllogiken verzichten. Typischerweise läuft alles auf die Struktur des klassischen Kriminalromans hinaus: Es wird von einer Tat, einem Ereignis berichtet, und der Roman liefert dann Grund und Auflösung nach. So verstanden stellt der Roman nur einen sehr langen Text zum kurzen Aufmacher dar. Als Beispiel sei Jan Weilers Der Markisenmann genannt, in der nach und nach der Grund aufgerollt wird, weshalb der Vater seine Tochter seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen hat, oder Susanne Abels Was ich dir nie gesagt habe, wo eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung auf eine Lüge, ein Stillschweigen, ein Geheimnis zurückgeführt wird. Ralf Rothmanns Roman Die Nacht unterm Schnee handelt ebenfalls von einer Familientragödie, aber diese stellt nur den Rahmen für ein sprachliches Unterfangen der besonderen Art dar:
Kein Laut in der Nacht, auch kein entfernter Geschützlärm, an dem sie sich orientieren konnte. Soweit sie sah, verschneites Ackerland, von braunen Panzerspuren durchfurcht, und manchmal, wenn sie die fiebrig heißen Lider schloss, war das Fallen der größeren Schneeflocken in ihrer Nähe zu hören, ein unendlich zartes Geräusch, wie es entsteht, wenn jemand mit feuchten Fingerkuppen auf die Tischplatte klopft. Doch als wäre diese Stille lediglich ein Raum für den Unglauben derer gewesen, die den Soldaten in den Ställen ausgeliefert waren, ein Atemholen des Entsetzens, zerriss im nächsten Moment ein langgezogener Laut die Nacht.
Ralf Rothmann aus: “Die Nacht unterm Schnee”
Bei dem die Nacht zerreißenden Laut handelt es sich um das Schreien einer Frau, die von Soldaten der Roten Armee in den letzten Kriegsmonaten des Zweiten Weltkrieges brutal vergewaltigt wird. Rothmanns Roman berichtet von der Flucht eines Mädchen durch eine kalte Winternacht und den schrecklichen Ereignissen, die in dieser Ausnahmesituation ohne Recht und Gesetz stattfinden. Diese Ereignisse, die dem Roman seinen Namen geben, werden personal, aus der Distanz, dezent und doch eindringlich beschrieben. Der Erzähler bleibt im Hintergrund. Er ist nicht allwissend, sondern bleibt in der Verfolgerperspektive bei dem Mädchen, das sich später als Elisabeth Isbahner herausstellt, und registriert ihre alptraumartigen, aus jedem zivilisatorischen Zusammenhang herausgerissenen Erlebnisse:
Es war ein Gellen, das man erst nach zwei, drei hämmernden Herzschlägen als Menschenlaut wahrnahm, als tief aus der Not und dem Schmerz hervorgestoßenen Schrei einer Frau, der klang, als würde ihr das Innere im Leib umgedreht. Derart schrie man nur einmal im Leben, und vielleicht war der letzte Gedanke oder das letzte deutliche Gefühl dann die Verwunderung darüber, dass so ein Schrei überhaupt in einem war. Sie sprang auf und lief weiter. Der Schnee knarzte unter ihren Sohlen, und der Schal vor dem Mund wurde nass von ihrem Atem und den Tränen.
Die Szenen von Elisabeths Flucht wechseln sich im Roman ab mit Passagen, in denen ihre Ehe aus der Sicht von Luisa, einer Jugendfreundin von ihr, beschrieben wird. Luisa schreibt in der Ich-Perspektive mit besonderem Fokus auf Walter Urban, Elisabeths Ehemann, ein Kriegsrückkehrer, der als Melker auf einem nahegelegenen Bauernhof arbeitet. Luisa mag Walter, ist von Elisabeths untreuem und etwas zügellosen Verhalten irritiert, hilft den beiden oft aus und bekommt Höhen und Tiefen in deren Beziehung und später Eheleben mit. Anders als die Fluchtpassagen lesen sich die in der Ich-Perspektive erzählten persönlicher und involvierter. Luisa hält nicht hinterm Berg, wieviel sie für Walter empfindet, dem sie mit ihren Beschreibungen geradezu glorifiziert:
Wie alle Melker in dem sogenannten kriegswichtigen Betrieb war er [Walter] sehr muskulös. Er hatte starke dunkelblonde Haare, stets penibel zurückgekämmt, und grüne Augen, die im Schatten braun wirkten. Die markanten Jochbeine ließen seine Wangen auf eine elegante Weise hohl aussehen, es gab den Hauch einer Mulde an seinem Kinn, und der Mund mit dem Pigmentfleck über einem Winkel hatte einen nahezu weiblichen Schwung. Auch deswegen war man zunächst verblüfft, wenn man seine dunkle, samtig-sonore Stimme hörte. Ungeachtet seiner Jugend klang darin viel Erfahrung mit und eine Einsicht, die über den Alltagskram hinausging […]
Luisa bleibt lange Zeit in Walter vernarrt und lose mit seinem Leben über Elisabeth verbunden. Strukturell pendelt Rothmanns Roman zwischen Elisabeths Flucht aus Danzig und der Nachkriegszeit von Walter und ihr in Norddeutschland, zwischen dem personalen Erzählen und der Ich-Perspektive hin und her, zwischen den Andeutungen, was in Kriegszeiten geschah und wie das Leben der Beteiligten daraufhin weiterverlief. Die Geschehnisse des Romanes werden vom Leben der Ich-Erzählerin und dem von Wolf, dem Sohn von Elisabeth und Walter, der später über seine Mutter schreiben und zu diesem Zweck Briefe, Fotos, Erinnerungen von Luisa anfragen wird, eingebettet. Sie halten Kontakt. Unklar bleibt, aus wessen Feder die Passagen über Elisabeths Flucht stammen, ob von Wolf oder ob aus Luisas Einfühlungsvermögen herrührenv. Vieles, und das ist charakteristisch für ihn, wird in Rothmanns Roman nur angedeutet. Anderes findet jedoch sehr explizit Erwähnung:
Dem Gesichtsausdruck nach schien er sie für unverschämt oder undankbar zu halten, was sie annähernd verstehen konnte. Dennoch wollte sie der jäh veränderten Situation – er hatte sich ihre dünnen Zöpfe um die Faust gewickelt und die Tür zum Nebenraum mit einem Tritt geöffnet – einen Herzschlag lang nicht glauben, hielt sie einfach nicht für möglich. Erst als sie in dem ovalen Spiegel des Kleiderschranks einen Soldaten sah, der ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, an den schwarzen Haaren zum Bett zog, begann sie zu wimmern und umklammerte seine Hände. Er ließ sie aber nicht los, warf sie bäuchlings auf die Matratze und riss ihr die Trainingshose in die Knie, die Wollstrümpfe vom Halter. Knöpfe hüpften über die Dielen.
Nur Teile dessen, was Elisabeth widerfahren ist, wird erzählt. Walters Kriegserlebnisse finden dagegen kaum Erwähnung. Zuerst scheint es Luisa denn auch, als hätte sich der robuste Walter gar nicht verändert, als sei er vor, während und nach dem Krieg derselbe geblieben, aber nach genauerem Hinsehen vermag sie dann doch eine Wesensveränderung zu erkennen, als sie beispielsweise gemeinsam über den Rummel anlässlich des Abschlusses der Kieler Wochen spazieren:
Er zog ein Päckchen »Chesterfield« aus der Tasche und versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden, aber der starke Wind, der die Wolken aufs Meer trieb, blies wiederholt das Flämmchen aus. Erst als ich näher trat und meine Hände zusätzlich darumlegte, gelang es, und einmal mehr fiel mir auf, dass sich doch etwas verändert hatte an ihm seit dem Krieg: Wann immer er nach etwas Zarterem griff, nach einem Hemdknopf, einem Geldschein oder eben einem Streichholz, zitterten seine Finger.
Der Roman Die Nacht unterm Schnee lebt von dieser anfänglichen, rein gesetzten Konstellation. Was während des Krieges geschah, findet am Rande und wenn, dann nur angedeutet Erwähnung, niemals aber aus dem Mund von Elisabeth und Walter selbst. Sie bleiben stumm. Sie harren der Dinge. Sie geben ihr Bestes, aber scheitern auf Schritt und Tritt dabei, ihr Leben in ruhigeres Fahrwasser zu geleiten. Es will nicht gelingen und auch nicht wirklich zwischen ihnen funktionieren. Die Liebesbeziehung von ihnen bleibt Luisa ein Rätsel. Es wird nicht erzählt, wie sie zusammengekommen sind, wie es dazu kam, dass sie zusammenblieben, wieso sie sich trotz aller Missverständnisse nicht voneinander trennten, denn Walter liebt das Landleben, Elisabeth möchte aber in der Stadt wohnen, Walter liebt die Zurückgezogenheit, Elisabeth den Trubel, die Ablenkung, Partys und Abenteuer. Von außen passen sie einfach nicht zusammen.
Dabei fehlte mir natürlich die leiseste Vorstellung davon, was zwischen den Zeilen ihrer offenbaren Geschichte hervorschien, ebenso wenig wie ich damals wusste, was Walter vor 1945 erlebt und erlitten hatte. Wahrscheinlich sind Menschen, die einmal im Krieg waren, lebenslang im Krieg, und die einmal fliehen mussten, sind für immer wurzellos. Beiden war das Schweigen über diese Zeit gemeinsam, womöglich sogar voreinander, und was Außenstehende oder gar sie selbst für Liebe hielten, konnte auch der ähnliche Verletzungsgrad sein und die daraus folgende Furcht, weiter allein durchs Leben zu müssen mit dem heillosen, noch im Schlaf und im Traum sich fortsetzenden Schmerz.
Trotz aller Probleme und Misslichkeiten bleibt die Ehe zwischen Walter und Elisabeth bestehen. Elisabeth bekommt zwei Kinder, und sie müssen sich gemeinsam irgendwie über Wasser halten. Sie schaffen es kaum und vermögen sich auch nicht wirklich gegenseitig Halt zu geben. Luisa begleitet sie sehenden Auges, gibt ihr Bestes, aus Freundschaft zu Elisabeth, aus unerwiderter Liebe zu Walter und aus Fürsorglichkeit zu deren Sohn Wolf, aber vergebens. Das Leben meint es nicht gut mit ihnen. Bei Luisas letztem Besuch versucht sie nochmals Walter für sich zu gewinnen, ihn mit einer Nacht- und Nebelaktion aus dem Abwärtsstrudel herauszuziehen:
»Dann komm halt mit.« Sogleich erschrak ich vor den Worten, denn was laut nach beschwingtem Übermut geklungen hätte, nach einem augenzwinkernden Witz, klang leise ungeheuerlich – als hätte man alle Regeln der Vernunft oder auch nur der Wahrscheinlichkeit vergessen, jede Pflicht und Verantwortung wem auch immer gegenüber, jedes Gestern und Morgen, und ich strich mir eine Locke hinters Ohr. »Komm einfach mit«, wiederholte ich lauter und plötzlich mit jeder Faser bereit, alles Bisherige aufzugeben und die kaum fühlbare Grenze zwischen einem Leben und einem Schicksal zu überschreiten. »Jetzt gleich! Wir fahren über den Brenner nach Italien.«
Ihr Vorschlag verpufft aber. Walter will seine Familie nicht zurücklassen. Trotz aller Probleme mit Elisabeth, trotz ihrer Untreue, Unzuverlässigkeit fühlt er sich ihr und ihren Kindern gegenüber, bei denen er sich nicht sicher sein kann, ob es seine eigenen sind, verpflichtet. Kaum noch gleicht er seinem jüngeren Selbst. Das Leben in der Stadt und als Bergwerkarbeiter hat ihn gebrochen. Abgemagert, geschwächt, grauhaarig vermag er das Steuer nicht mehr umzureißen. Von Anfang an, so scheint es, ist für ihn und Elisabeth alles zu spät gewesen, und so lehnt Walter Luisas Angebot ab, mit ihm durchzubrennen:
»Fahr vorsichtig«, sagte er heiser und schob im Hinausgehen seinen Stuhl an den Tisch, »und schau mal wieder vorbei!« Die Treppe knarrte, die Haustür fiel ins Schloss, und wenige Minuten später sah ich ihn vom Balkon, wo ich den Rest aus seiner Tasse trank, mit anderen Bergleuten der Frühschicht zur Zeche radeln. Die verchromten Klammern an seinen Hosenbeinen blitzten bei jedem Tritt, und je weiter er sich entfernte, desto länger projizierte die aufgehende Sonne seinen Schatten über das Feld.
Die erzählerische Strategie von Die Nacht unterm Schnee geht auf, weil jede Begründung vermieden, jede Logik ausgelassen, von jeder Erklärung abgesehen wird. Etwas bindet Walter an Elisabeth, und möglicherweise ist es dasselbe, was Elisabeth bei Walter bleiben lässt. Es findet keine Psychologisierung statt. Kein Trauma wird exploriert. Keine anfechtbaren Verhaltensmuster werden konstruiert. Gerade diese Lücke, die im Text stehenbleibt, erlaubt ein Gruseln, das Entstehen einer unheimliche Dimension und gibt dem Schrecken des Krieges einen eigenen Raum, um sich im Leseerlebnis zu entfalten. Etwas bedrückt. Etwas lastet auf Walter und Elisabeth. Etwas lässt sie nicht mehr aus den Fängen, und Rothmanns Roman fängt diesen Schrecken ein, indem er nur die Symptome, nur die Phänomenologie der Ereignisse zu Sprache kommen lässt. Rothmann setzt damit um, was Walter Benjamin in seinem Aufsatz Der Erzähler – Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows aus dem Jahr 1936 vom Erzählen selbst fordert:
Jeder Morgen unterrichtet uns über die Neuigkeiten des Erdkreises. Und doch sind wir an merkwürdigen Geschichten arm. Das kommt, weil uns keine Begebenheit mehr erreicht, die nicht mit Erklärungen schon durchsetzt wäre. Mit andern Worten: beinah nichts mehr, was geschieht, kommt der Erzählung, beinah alles der Information zugute. Es ist nämlich schon die halbe Kunst des Erzählens, eine Geschichte, indem man sie wiedergibt, von Erklärungen freizuhalten.
Walter Benjamin aus: “Der Erzähler” (GS Band II.2)
Rothmann vermag dies durch die Zeitsprünge und Perspektivwechsel, durch die Rückschau und erzählerische Distanz Luisas zu bewerkstelligen. Die Ereignisse bleiben fremd und gerade aber deshalb als Ereignis bestehen. Bestimmte, alles verändernde Augenblicke lassen sich, so grell, wie sie sind, eben nicht unverfremdet abbilden. Sie verlieren an Intensität und Besonderheit, werden sie in das Licht des Erzählens und die Normalität der Beschreibungswirklichkeit gezerrt. Benjamin schlägt deshalb vor, dem Donner, nicht dem Blitz nachzugehen und schreibt in Das Passagenwerk:
In den Gebieten, mit denen wir es zu tun haben, gibt es Erkenntnis nur blitzhaft. Der Text ist der langnachrollende Donner. [Abschnitt N 1, 1]
Walter Benjamin aus: “Erkenntnistheoretisches” (GS Band V.1)
Die Gebiete hier befassen sich mit der Erfahrung von Krieg und Gewalt. Die Nacht unterm Schnee gehört zu den Antikriegsromanen, die wie Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues den Krieg nicht zu normalisieren versuchen. Gleich einem Wolfgang Borchert in seinem Theaterstück Draußen vor der Tür oder in vielen seiner Erzählungen wie Die Stimmen sind da in der Luft – in der Nacht fangen sie den Schrecken indirekt ein, indem sie nüchtern, beengend, prosaisch um ein gesellschaftliches Außen herum schreiben, also absichtlich auf jede Erklärung verzichten. Jeder Zusammenhang erscheint angesichts des Krieges als Beschönigung, und so bleibt dem Schreiben lediglich übrig, einzig von den Auswirkungen und nicht mehr von den Ursachen zu berichten:
»Das Wasser wurde klar und wollte mir durch seine lichtgrüne Farbe sogar wärmer vorkommen«, sagte er [Richard, Luisas Ehemann]. »Schuhe, Brillen und faserige Fleischfetzen schwebten über dem Grund mit den Perlmuttsplittern hier und da, aber ich hatte nicht mehr viel Atemkraft, musste bald wieder auftauchen. Die Silhouetten der breitbeinig dastehenden Schützen vor mir zerflossen in der Abendsonne, und als ich endlich Schritt fassen konnte auf dem weichen Sand, hatte ich das absurde Gefühl, aus einem bösen Traum in die rettende Wirklichkeit zu treten. Und mitten im befreiten Luftholen trafen mich die Kugeln, beide gleichzeitig, und ich sank ins Wasser zurück.«
Wolf und Luisa haben den Krieg nur indirekt miterlebt. Sie berichten von ihm aus zweiter Hand, aber auf eine Weise, die nachwirkt. Die Nacht unterm Schnee besitzt viele Stellen, die im Gedächtnis bleiben, die sich geradezu einbrennen. Das Verhängnis rollt über die Individuen hinweg. Die Missverständnisse häufen sich. Die Verzweiflung bleibt. Am Ende, ohne dass es explizit gesagt werden muss, bleibt die Erkenntnis, dass Krieg das Schlimmste ist und alles mit sich in den Abgrund reißt, egal wie kräftig, lebensfroh, wie stabil und gutmütig der Mensch wie beispielsweise Walter auch vorher gewesen ist. Hieß es von ihm noch Ende der 1940er Jahre:
Die ernste Ruhe, die er ausstrahlte, gab ihm eine fraglose Autorität, und die war wohl auch nötig bei der Arbeit mit den Tieren. Keiner der behäbigen Bullen, tonnenschwer, lässt sich ungeduldig am Nasenring ziehen, die Kühe verhalten die Milch, sobald man sie schneller melken will, als ein Kalb trinkt, und Hühner erzeugen Federstürme, tritt man hektisch an ihre Gelege. Nie sprach er viel, er hörte lieber zu, und ich hatte den Eindruck, dass er stets nach wenigen Worten ahnte, was man ihm sagen wollte. Jedenfalls nickte er oft, ehe man den Satz beendet hatte, ein stummes »Ich versteh schon!«, wobei er einem aufmerksam in die Augen sah.
So änderten seine Lebensbedingungen schlagartig sein Aussehen und seine Lebendigkeit, als er durch Verwicklungen am Bauernhof, Streitigkeiten mit dem Besitzer und den allgemeinen Problemen durch die Automatisierung in der Landwirtschaft vom Melker-Beruf zum Bergwerk in das Ruhrgebiet wechseln musste. Nach wenigen Jahren fiel er den Umständen selbst- und fremdverursacht zum Opfer:
Gerade einmal sechzig Jahre alt war er [Walter wegen diverser Verletzungen und Brüche, die er sich unter Tage zugezogen hat] geworden, habe den Tod aber nicht gefürchtet, im Gegenteil. Jede Behandlung und auch die Operation verweigernd, sei er nach wie vor in den Keller zu seinem Schnapsversteck unter den Kohlen gestiegen, um sich allein zu betrinken, und auf seinem Grabstein, so Wolf, habe er sich eine kleine Grubenlampe aus Messing gewünscht.
Rothmanns Roman nimmt Gotthold Ephraim Lessings Laokoon beim Wort und beschreibt das Schreckliche durch das Alltägliche, durch die sich langsam ergebenden Lücken, fehlenden Erfahrungen, Fehlstellen im Trubel und Rummel des Zwischenmenschlichen. Elisabeth und Walter Isbahner werden mit jedem Satz des Romanes wirklicher. Sie leben in den Zwischenräumen der Einbildungskraft und kämpfen und leiden und hoffen, sich ein kleines Stück vom langersehnten Glück zu sichern. Am Ende des Romanes sterben sie und reißen so paradox, wie es klingt, eine Lücke in die Lücke und hinterlassen den Schmerz eines ungelebten Lebens und das nachhallende Echo eines unmenschlichen, alles verheerenden Krieges.
tl; dr … eine Kurzrezension findet sich hier.
Eine weitere Rezension ist auf Zeichen&Zeiten erschienen.
Hier ist es tatsächlich sinnvoll, die beiden Vorgänger zu lesen, die eine wenig mehr Hintergründe liefern. Bin schon gespannt auf diesen dritten Roman. Viele Grüße!
Ich werde auf jeden Fall die ersten beiden Teile lesen. Der Hintergrund ist auch hier da gewesen, als Eindruck, Atmosphäre. Ich bin sehr überrascht, wie sehr mich der Roman in seinen Bann gezogen hat. Er hat auch viel hinterlassen. Ich freue mich auf deine Leseeindrücke!