Peter Handke: „Die Ballade des letzten Gastes“

Die Ballade des letzten Gastes
Die Ballade des letzten Gastes … ein etwas anderer Erlenkönig

In Peter Handkes Die Ballade des letzten Gastes kehrt ein verlorener Sohn heim. Das Thema der Rückkehr, die Odyssee, die ihren Abschluss findet und einen Neuanfang erlaubt, verknüpft Handkes Text, der nicht als Roman ausgewiesen ist, mit Birgit Birnbachers Wovon wir leben und mit Thomas Hettches Sinkende Sterne, der ebenfalls explizit auf Homer eingeht. Handkes Ballade beginnt mit dem Motto:

… Wohin nur könnte ich hinab-hinaus-voranflüchten?
[bei Johann Heinrich Voß übersetzt als: „Wo entflieh ich alsdann?“]

Homer aus: „Odyssee“ [20/43]

Inhalt/Plot:

Handkes Die Ballade des letzten Gastes beginnt mit dem Kapitel „Über den Tod eines Fremden“. Der Protagonist, wie sich später herausstellt, namens Gregor Werfer, erhält per SMS die Nachricht, dass sein Bruder Hans im Rahmen seiner Tätigkeit in der Fremdenlegion durch einen Kopfschuss ums Leben gekommen ist. Die Nachricht erreicht Gregor, während er sich auf dem Weg zu seinen Eltern befindet. Er lebt weit weg von ihnen, hat keine eigene Familie und besucht seine Schwester und seine Eltern jährlich:

Er war, seit langem, ohne Frau, hatte auch keine Kinder, lebte und betätigte sich seit Menschengedenken – dem eigenen – auf einem anderen Kontinent, sprich »Erdteil«, oder, nach seinem eigenen Sprachgebrauch, »Teil der Erde«. (Auf oder in welchem, möge ein jeder sich selber vorstellen.)

Peter Handke aus: „Die Ballade des letzten Gastes“

Die Nachricht schockiert ihn. Er beginnt sich an seinen Bruder zu erinnern, bspw. wie dieser als Kind in die Brennessel stürzte, wie sie miteinander spielten. Gedankenverloren verirrt er sich in den Straßen seiner Heimat, hin und her gerissen an seine eigene und die Kindheit des Bruders denkend, wie dieser Handwerker, gelernter Bauarbeiter wurde, wie er selbst Ein-Mann-Expeditionen überall auf der Welt als Chronist durchführte, um schließlich doch anzukommen. Als er an der Tür klopft, sieht er eine Willkommens-Girlande über der Tür:

Von der Begrüßung des Langerwarteten sei hier erwähnt nur ein Schrei, ein einziger, aber was für einer. Wer ihn ausstieß, das war die Schwester, im Arm den fetten Säugling, welcher, so geweckt, ebenso laut mitschrie.

Gregors Familie heißt ihn willkommen und weiht ihn auch gleich in die Pläne ein, Taufpate für den Säugling zu werden. Am Esstisch, nach Eröffnung der Taufpatenschaft, tritt schnell eine wissbegierige Stille ein. Seine Eltern wie seine Schwester erwarten stillschweigend, denn Fragen werden in dem Haus per väterliches Dekret nicht gestellt, einen Bericht vom Bruder, dem Verschollenen, da Gregor als einziger zu ihm einen wie auch immer losen Kontakt gehalten hat. Gregor aber bringt es nicht übers Herz, vom Tod des Bruders zu erzählen, auch sitzt ihm der Schock noch zu tief in allen Knochen:

Dem Chronisten, dem in diesem Spezialfall falschen (rechtschaffen falschen), kam es nun, wie er Stunden zuvor – war das nicht schon Tage her? – auf die Nachricht vom Tod des Bruders seinen Weg fortgesetzt hatte, Straße um Straße […] später, stehengeblieben vor dem Rot einer Ampel, den Überseesack auf dem Rücken, überrascht wurde, mit seinen zwei Händen, welche ohne ein Zutun seinerseits sich ihm auf das Gesicht legten. Lange, einige Grüne-Ampel-Perioden lang, hatte er so verharrt, hochaufgerichtet, das Gesicht bedeckt mit den Händen.

Gregor entschuldigt sich daraufhin und geht in sein Zimmer, denkt an seinen Bruder, denkt an die gemeinsame Reise mit ihm, nachdem er ihn spontan zu einer seiner Ein-Mann-Expedition eingeladen hat, an dessen Geselligkeit in einer Hafen-Klause weit entfernt, an dessen Plan für das eigene Haus, in welchem er eine Familie zu gründen gedachte, und seine Phantasterei, dass die Familie Werfer königlichen Ursprungs sei. Nach ihrer gemeinsamen Reise gab es nur noch zwei Kontakte. Gregor ruft sich den letzten ins Gedächtnis:

Ein Jahr später freilich: »Ein Gruß aus der Fremdenlegion!« Und wieder ein Jahr danach ließ er sich doch noch einmal bei dem Älteren blicken, auf dem Bildschirm von dessen Taschentelefon, wo er auf des Bruders Frage, ob er als Legionär an etwaigen Kampfhandlungen, Strafexpeditionen (siehe »Expedition«) und so weiter teilgenommen habe und, zweite Frage, ob …, auf die erste Frage nur mit den Achseln zuckte, und auf die Folgefrage, wieder bloß in Bild-ohne Ton, die Augen schief hinauf zu einem gleich wie beschaffenen, außer Bild bleibenden tropischen Himmel verdrehte, eine Antwort ohne sein Zutun, verdreht in einem Krampf, welcher dann lange, lange sich nicht beruhigte.

Hiermit endet das erste Kapitel. Im zweiten namens Die Ballade vom letzten Gast werden die folgenden fünf oder sechs Tage von Gregor beschrieben, der direkt am nächsten Morgen aus dem elterlichen Haus ausbüchst und sich in der Gegend herumtreibt. Der Weg führt zu einem einstigen Obstgarten, den er mit einer Motorsäge zerlegt. Als zu viele Erinnerungen aus der Kindheit wachwerden, rettet er sich ins Kino, rastet dort wegen einer Sexszene aus und kündigt als Wutbürger den argumentativen Vertrag mit der Demokratie:

»Nie wieder Kino. Schluß mit den Filmen als Zuschauerrechtsverletzungen. Teil der Demokratie das Zeug? Nieder mit der Demokratie, weg mit all den Alles-geht-Demokratien, im Namen des Volkes. Welchen Volkes? Wo bist du Volk? Her mit einer Diktatur, einer neuen, einer, die verbietet, was verboten gehört. Vita nuova!«

Als Trauerklos rennt er kopflos durch die Straßen, trifft den ehemaligen Pfarrer, dem er auch nicht vom Tod des Bruders zu berichten vermag, rennt in ein Einkaufszentrum, kauft sich einen Mantel und flieht in den nächsten Wald. Auf einer Kuppe beruhigt er sich, legt sich in einen hartgrasüberwachsenen Bombeneinschlagstrichter und übernachtet unter freiem Himmel. Am nächsten Morgen trifft er Studenten auf Exkursion, denen er das Blaue vom Himmel über die Natur, den Wald, über die Flora und Fauna weißmacht und beschließt keinen Fuß mehr in ein Privathaus zu setzen, statt dessen den Rest der Zeit in einem Gasthaus zu verbringen. Erst am Tag der Taufe trifft er seine Familie wieder und teilt, nicht mehr an sich halten könnend, seiner Schwester auf dem Weg zum Bahnhof den Tod des jüngsten Bruders mit:

Es war ein Weinen, von dem er wußte, es würde, auch wenn es jetzt aufhörte, nie mehr aufhören – dieses niemand in der Buswarteraummenge sichtbare, ausgenommen seiner Schwester, die ebenso unsichtbar, und – Phänomen bei einer, die sich sonst bei jeder Gefühlsäußerung dorf- oder bezirksweit hören ließ – ebenso lautlos mit dem Bruder auf der Fensterbank mitweinte, und es war dabei, ein unsichtbarer Dritter schütze die beiden vor bloß neugierigen Augen und Ohren.

In seiner Wohnung angekommen, beginnt Gregor nun als Chronist, von seiner letzten Woche zu berichten, eine noch stärke subjektivierte Zusammenfassung des bereits in den ersten beiden Kapiteln erzählten, nun noch balladesker.

Stil/Sprache/Form:

Inhaltlich passiert in Die Ballade des letzten Gastes wie in vielen Handke Texten nicht viel, siehe beispielsweise Publikumsbeschimpfung von 1966 oder Der kurze Brief zum langen Abschied. Seine Texte zielen auf Reflexionen, auf Innersprachliches, Melodiöses. Sie leben im Rhythmus, in der Impression, im in-situ-Sensualismus, der sich nicht mit plottechnischen Kniffen auseinandersetzen möchte. Seine Figur ertrinkt in der Gegenwart des Offensichtlichen:

Die Augen, das Auge hatte er anfangs noch offen gehalten, nicht etwa zum Hinausblicken, vielmehr, um die leeren Reihen, Leere sich reihend an Leere, der Sitze vor ihm zu genießen. Zu genießen? Ja, zu genießen. Zu genießen die Leere? Ja, um sie zu genießen, alle die leeren Reihen.

Die Ballade des letzten Gastes handelt von einem Sprechakt-Aufschub. Gregor, der Wächter, der Wachende, bewacht die Nachricht vom Tode des Bruders. Formal lässt sich der Aufschub des Benennens, Nennens bspw. daran festhalten, dass die Namen (Gregor, Sophie, Hans) nur nach und nach genannt werden, und der volle Name (Gregor Werfer) erst fast am Ende verlautbart wird. Mit den Namen der Menschen, der Dinge geht die Erzählweise behutsam um. Syntaktisch schlägt sich das in Satzkonstruktionen nieder, die konzentriertes Lesen erfordern:

Dann auch er draußen, im Freien, auf der Straße, der Waldrandchaussee, der frühabendlich vielbefahrenen, viel auch, auf den schön sich breitenden Trottoirs, begangenen. Endlich wieder ordentlichen Boden unter den Füßen, festen, gut harten, und gegrüßt vom Asphalt, zurückgegrüßt er.

Die umständliche Schreibweise entspricht Gregor, wie er quasi in zirkulierenden Gregorianischen Gesängen die Serpentinen und nicht den geraden Weg wählt. Er sagt nichts geradeheraus. Er benötigt Zeit. Anders vermag er sich dem Tod des Bruders, der Anwesenheit der Familie nicht zu nähern. Er immunisiert sich durch Umständlichkeit, Weltflucht, durch pointillistische Zerlegung des Weltganzen, das keiner Grammatik entspricht, schon gar keiner Semantik genügt. In Alliterationen rettet sich der Erzähler, um durch Klang etwas von dem Unheimlichen, dem Nahen einzufangen, was sonst im Abstrakten sich zu verflüchtigen droht:

Nicht gesenkt, und nicht ruhend, an der Schulter jenes, dem er, Johannes, so meinte oder wußte der, von allen Aposteln der geliebteste war, sah ihn in dem einen Augenblick Gregor, vielmehr in der Kippe kippend, jetzt und jetzt. Und wie der Kopf dort im schäbig gewordenen Fresko kippte, und kippte, dank auch der Schäbigkeit, ohne Glamour. He, Kippfigur. He, Kippfiguren wir alle. Lob der Schäbigkeit. Gute schöne Schäbigkeit.

Wie zu erwarten stellt Handke in Die Ballade des letzten Gastes die Rhythmik über den Inhalt. Es handelt sich um eine Art Gesang, eine aufgeschobene Beichte, eine sich dem Gegenstand spiralförmig annähernde Liedform. Klarheit wird vermieden. Gründe, Kausalitäten gilt es gerade zu unterminieren. Handke setzt auf eine zersetzende Poetik wie er in der Büchner-Preisrede von 1973 namens Die Geborgenheit unter der Schädeldecke selbst herausgearbeitet hat:

Ich bin überzeugt von der begriffsauflösenden und damit zukunftsmächtigen Kraft des poetischen Denkens. Thomas Bernhard sagte, sowie bei ihm während des Schreibens auch nur der Ansatz einer Geschichte am Horizont auftauchte, würde er sie abschießen. Ich antworte: Sowie beim Schreiben auch nur der Ansatz eines Begriffs auftaucht, weiche ich – wenn ich noch kann – aus in eine andere Richtung, in eine andere Landschaft, in der es noch keine Erleichterungen und Totalitätsansprüche durch Begriffe gibt.

Dieses Ideal hat er in Die Ballade des letzten Gastes verwirklicht, um der von ihm selbst beklagten Beschreibungsimpotenz der Literatur zu entgehen. Kaum ist es je wirklich klar, worüber gesprochen wird, klar aber ist, dass der, der spricht, ob in erster oder dritter Person, ob in Europa oder sonstwo auf der Welt, trauert, Angst hat und sich auf Messers Schneide und den Tod auf sich zukommen sieht.

Kommunikativ-literarisches Resümee:                                                                                            

Der Tod als Grenzerfahrung besitzt viele literarische Anschlusspunkte. Allen voran Leo Nikolajewitsch Tolstois Der Tod des Iwan Iljitsch, in dessen Nachfolge sich Handke sieht und der 1886 realistisch, mechanisch dem körperlichen Ende auf den Grund zu gehen versucht:

Plötzlich wurde [Ivan] von einer unsichtbaren Kraft in die Brust und in die Seiten gestoßen, seine Kehle schnürte sich noch mehr zusammen, er fiel in den Abgrund, und er erblickte in der Tiefe einen leuchtenden Punkt. Er hatte dieselbe Empfindung wie beim Fahren mit der Eisenbahn, wenn er im Waggon saß und es ihm schien, dass er vorwärtsfahre, während er rückwärts fuhr, und er dann plötzlich die tatsächliche Richtung erkannte.

Leo Nikolajewitsch Tolstois aus: „Der Tod des Iwan Iljitsch“

Nähert sich aber Tolstoi mit realistischen sprachlichen Mittel dem Tod, so sucht Handke eher die poetisierende Verarbeitung und in ihr den Aufschub, wie in der Übernachtung unter freiem Himmel, als Gregor den traumlosen Schlaf sucht, und ähnelt so Hermann Brochs Erzählweise, die dieser in Der Tod des Vergil (1945) angewendet hat:

[…] es spielten unbewegt die Amoretten in dem Wandfries, erstarrt zu einer Überfriedlichkeit, zu einer Überruhe, die kaum mehr Gestalt war, vielmehr teilhatte an der weiträumigweiträumig starrbrausenden, jenseitigen Nachtstille, an ihrer äonenhaften Unabänderlichkeit, die – schattengebärend und schattendurchtränkt – als atemumwandete Höhle der Traumgezeiten ringsum sich aufbaute, gestaltloses Schweigen, überschwebt von der Lautlosigkeit der Donnervögel unter den unbewölkten Sternen.

Hermann Broch aus: „Der Tod des Vergil“

Bis in die elliptischen Partizipkonstruktionen hinein dichtet Handke in Die Ballade des letzten Gastes in Nachfolge von Broch, der mäandrierend, stilisierend den Dichter Vergil immer näher zum Moment der Wahrheit drängt. Dieses Aufschieben, Ausweichen, Auf-Distanz-Halten zeichnet Handkes Stil in vielen Texten aus. Oft wird einfach nicht klar, worum es geht, was gemeint ist. Das Gefühlte, das Bedrängte steht zwischen den Sätzen:

Wie auf der einzigen, kurzen Metrostrecke der Neustadt die Passagiere dort im Untergrund, im geraden Gegensatz zu den Leuten oben auf den Straßen, allesamt Gesichter zeigten, solche und solche, Gesichter, welche durch die Reihe Geschichten erzählten, solchige und solchige, zugleich die eine, die einzige – und dazu immer wieder, im Gedächtnis die da unten zwischen den Schienen huschenden Ratten der Vorjahre: »Ja, das waren noch Zeiten.«

Dem Gesagten lässt sich nicht auf den Pelz rücken. Handke entzieht sich. Der ganze Text will Atmosphäre, Jenseitiges sein und bleiben, ohne auf die Niederungen des Verständlichen reduziert zu werden. Seine Prosa wächst und rankt sich um ein nicht preisgegebenes Zentrum, das über Irdisches und Zwischenmenschliches Erhabene, denn die Mitmenschen erhalten kein Einblick. Ihnen gilt die Chronik nicht. In seinem ersten großen Erfolg Publikumsbeschimpfung fasst er dies in einer Regieanweisung wie folgt:

[Die Sprecher] stellen sich zwanglos auf, bilden aber eine gewisse Formation. Sie sind nicht völlig starr, sondern bewegen sich nach der Bewegung, die ihnen die zu sprechenden Worte verleihen. Sie schauen nun ins Publikum, fassen aber niemand ins Auge. Sie bleiben noch ein wenig stumm. Sie sammeln sich. Dann beginnen sie zu sprechen.

Peter Handke aus: „Publikumsbeschimpfung“

Die Ballade des letzten Gastes besitzt keinen Adressaten. Sie gleitet vorüber, beinahe wie ein Naturschauspiel. Töne, ein Lautmalen, das für sich vonstattengeht und dies mit jedem Wort auch bereitwillig und gerne zeigt, nähert das Schreiben dem Schweigen so nah, wie es vielleicht nur geht, in Erinnerung an Johann Wolfgang Goethes:

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Johann Wolfgang Goethes aus: „Selige Sehnsucht

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Nächste Woche am 30. Dezember 2023 auf Kommunikatives Lesen:
Lasse ich das Lesejahr 2023 passieren und küre wie in den vorherigen Jahren (2021 und 2022) meine höchstpersönlichen Highlights von dieses Mal über Hundert gelesenen Büchern.

2 Antworten auf „Peter Handke: „Die Ballade des letzten Gastes““

    1. Ja, das ist bei Handke eine zweischneidige Angelegenheit. Ich habe mir mit den Zitaten Mühe gegeben, eine repräsentative Auswahl zu treffen. Mein Kopf qualmt bereits mit dem Lesejahresabschluss. Ist gar nicht so leicht, bei den vielen Titeln. Viele Grüße!

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