Heinrich Mann: „Der Untertan“

Der Untertan
Der Untertan von Heinrich Mann. Wilhelminisches Gruselkabinett ersten Ranges.

Der Untertan von Heinrich Mann gehört zu den bekanntesten Satiren der deutschsprachigen Literatur. Neben Jean Paul in Siebenkäs, Karl Kraus in Die Dritte Walpurgisnacht und Erich Kästner in Fabian – Die Geschichte eines Moralisten verwendet auch Mann diese literarische Form als ästhetisches und soziales Korrektiv, bestimmte herrschende Zustände anzuprangern. In Der Untertan wird der wilhelminische Geist der Jahrhundertwende karikiert und konnte, obzwar bereits 1914 beendet, wegen der Schärfe der Kritik und Polemik erst 1918 nach Aufhebung der kaiserlichen Zensur erscheinen, traf sodann jedoch den Zeitgeist und avancierte zu einem der erfolgreichsten Nachkriegsromane mit einer Auflage bis 1931 von über 260000 Exemplaren1. Heinrich Manns Satire überzog das bereits untergegangene Kaisertum nochmals mit beißender Häme:

Diederich schwenkte den Hut, er brüllte auf, daß die Herren im Wagen ihr Gespräch unterbrachen. Der rechts neigte sich vor — und sie sahen einander an, Diederich und sein Kaiser. Der Kaiser lächelte kalt prüfend mit den Augenfalten, und die Falten am Mund ließ er ein wenig herab. Diederich lief ein Stück mit, die Augen weit aufgerissen, immer schreiend und den Hut schwenkend, und einige Sekunden lang waren sie, indes ringsum dahinten eine fremde Menge ihnen Beifall klatschte, in der Mitte des leeren Platzes und unter einem knallblauen Himmel ganz miteinander allein, der Kaiser und sein Untertan.

Heinrich Mann aus: „Der Untertan

Inhalt/Plot:

Diederich Heßling heißt der Protagonist von Der Untertan, der den Aufstieg und Fall, Fall und Aufstieg dieses kaisertreuen Bürgers und Sohn eines Papierfabrikanten in Netzig nachzeichnet. In den sechs Kapiteln verflechten sich nun einige Handlungsfäden, die allesamt zu Stolpersteinen, aber auch zu Stufen auf Heßlings Weg zum heißbegehrten Ruhm werden: Die Rettung der väterlichen, veralteten Papierfabrik; die Verheiratung seiner zwei Schwestern Emmi und Magda; die Gründung der eigenen Familie und Sicherung eines Familienerben; und die Stärkung und Erhöhung der kaisertreuen Gefolgschaft in Netzig mittels eines Kaiser-Wilhelm-Denkmals.

»Er hat den Bürger aus dem Schlummer gerüttelt, sein erhabenes Beispiel hat uns zu dem gemacht, was wir sind!« — wobei Diederich sich auf die Brust schlug. »Seine Persönlichkeit, seine einzige, unvergleichliche Persönlichkeit ist stark genug, daß wir allesamt uns efeuartig an ihr emporranken dürfen!« rief er aus, obwohl es nicht in seinem Entwurf stand. »Was Seine Majestät der Kaiser zum Wohl des deutschen Volkes beschließt, dabei wollen wir ihm jubelnd behilflich sein, ob wir nun edel sind oder unfrei.«

Hier spricht Diederich von Wilhelm II., der von 1888 bis 1919 preußischer König und deutscher Kaiser gewesen und zu dessen und seines Großvaters Wilhelm I. Ehren das Denkmal inmitten von Netzig hingestellt worden ist. Diederich sieht in dem Kaiser sein unbedingtes Vorbild und die einzige Rettung. Alles, was der Kaiser sagt und tut, bekommt einen Glanz, eine Verheißung, ein nachahmenswertes Sollen und Müssen, das Diederichs Leben lenkt und Orientierung gibt. Der erste Höhepunkt in Diederichs Leben besteht auch in einem bewusst erzwungenen Zusammentreffen mit dem Kaiser bei einer Kundgebung am Brandenburger Tor:

Man mußte abbiegen, auf Umwegen den Tiergarten erreichen, einen Durchschlupf finden. Wenige fanden ihn; Diederich war allein, als er auf den Reitweg hinausstürzte, dem Kaiser entgegen, der auch allein war. Ein Mensch im gefährlichsten Zustand des Fanatismus, beschmutzt, zerrissen, mit Augen wie ein Wilder: der Kaiser, vom Pferd herunter, blitzte ihn an, er durchbohrte ihn. Diederich riß den Hut ab, sein Mund stand weit offen, aber der Schrei kam nicht. Da er zu plötzlich anhielt, glitt er aus und setzte sich mit Wucht in einen Tümpel, die Beine in der Luft, umspritzt von Schmutzwasser. Da lachte der Kaiser. Der Mensch war ein Monarchist, ein treuer Untertan! Der Kaiser wandte sich nach seinen Begleitern um, schlug sich auf den Schenkel und lachte. Diederich aus seinem Tümpel sah ihm nach, den Mund noch offen.

Diederich befindet sich in Berlin, um auf väterliches Geheiß sein Studium der Chemie abzuschließen. Er findet Anschluss bei einer Studentenverbindung namens Neuteutonia, bändelt mit der Tochter eines Geschäftspartners, Agnes Göppel, an, aber empfindet eine Heirat, obwohl er in sie schwer verliebt ist, als wenig für das väterliche Geschäft zukunftsträchtig und bricht die Beziehung kurzerhand ab, zumal er seit dem Tod seines Vaters für seine Schwestern und seine Mutter wirtschaftlich und sozial verantwortlich geworden ist. Spielt das erste und zweite Kapitel hauptsächlich in Berlin und beschreibt Heßlings Studentenzeit, so stehen ab Kapitel drei die Vorgänge in der fiktiven Kleinstadt Netzig allein im Vordergrund, wo bei Ankunft Heßlings noch der alte Buck alle Fäden in der Hand hält:

Der alte Herr Buck trug keinen steifen Kragen, sondern eine weißseidene Halsbinde und darüber einen großen weißen Knebelbart. Wie langsam und majestätisch er seinen oben goldenen Stock aufs Pflaster setzte! Und er hatte einen Zylinder auf, und unter seinem Überzieher sahen häufig Frackschöße hervor, mitten am Tage! Denn er ging in Versammlungen, er bekümmerte sich um die ganze Stadt. Von der Badeanstalt, vom Gefängnis, von allem, was öffentlich war, dachte Diederich: ›Das gehört dem Herrn Buck.‹ Er mußte ungeheuer reich und mächtig sein. Alle, auch Herr Heßling, entblößten vor ihm lange den Kopf.

Zu Beginn des Romans und über weite Strecke der Handlung besitzt der alte Herr Buck die Kontakte und Möglichkeiten, seine Kontrahenten finanziell wie politisch zu ruinieren und seine demokratisch-liberalen Vorstellungen zu verwirklichen. Der Untertan befasst sich mit Heßling und dem alten Buck als zentralem Konflikt: Wo dieser im humanistischen Ansinnen ein Säuglingsheim bauen möchte, will jener das als Zeichen von Netzigs Kaisertreue besagte Kaiser-Wilhelm-Denkmal setzen. Heßling setzt nun alles daran, den alten Buck zu entmachten und sich an seine Stelle zu setzen. Hierfür bedient er sich politischer Ränkespiele, bei welchem ihm der hiesige Regierungspräsident von Wulckow und der Assessor Jadassohn mehr als nur behilflich sind. Auf diese Weise erreicht Diederich alle seine Ziele und steht am Ende als gemachter Mann da:

»Der Wilhelms-Orden, Stiftung Seiner Majestät, wird nur verliehen für hervorragende Verdienste um die Wohlfahrt und Veredelung des Volkes… Den haben wir!« sagte Diederich laut in der leeren Gasse. »Und wenn es Dynamit regnet!« Der Umsturz der Macht von seiten der Natur war ein Versuch mit unzulänglichen Mitteln gewesen. Diederich zeigte dem Himmel seinen Wilhelms-Orden und sagte »Ätsch!« — worauf er ihn sich ansteckte, neben den Kronenorden vierter Klasse.

Hierzu bedurfte es Erpressungen, Schiebungen, Lügen und Scharmützel, aber das kümmert Heßling wenig, und am Ende, von all seinen Sorgen erlöst, mag er sich noch mit den Bucks versöhnen, lässt seine Schwester den Sohn des alten Buck heiraten und kümmert sich selbst um diesen und hilft ihm aus finanziellen Nöten heraus, indem er das Haus des alten Buck kurzerhand kauft.

Stil/Sprache/Form:

Wie für eine Satire gemäß bleibt der Erzählton nüchtern, distanziert. Über weite Strecken des Romans wird aus der Innensicht Heßlings berichtet. Seine Gedanken, seine Assoziationen, seine impulsiven inneren Reaktionen, die von ihm nur selten verlautbart werden, geben sich unfreiwillig preis. Die Erzählinstanz verfügt über die Möglichkeit in das Gemüt, in den Kopf von Heßling hinabzusteigen, aber auch aus großer Höhe herab von den Umständen und politischen Ereignissen zu berichten. Hier bedient Der Untertan eine gewisse Schaulust, ungefragt in ein feindlich gesinntes Gemüt einzudringen und noch die geheimsten Vorstellungen feilgeboten zu bekommen:

Der Alte [Buck] lächelte schlau und gütig. »Sollten Sie etwa Ihre Fabrik zunächst verlegen und erst dann erweitern wollen? Ich könnte mir denken, daß Sie Ihr Grundstück zu verkaufen wünschen und nur auf eine gewisse Gelegenheit warten […] Die Stadt hat vor, ein Säuglingsheim zu errichten!«
›Alter Hund!‹ dachte Diederich. ›Er spekuliert auf den Tod seines besten Freundes!‹ Gleichzeitig aber kam ihm die Erleuchtung, was er Wulckow vorzuschlagen habe, um Netzig zu erobern!… Er schnaufte.
»Durchaus nicht, Herr Buck. Mein väterliches Erbstück geb ich nicht her!«
Da nahm der Alte nochmals seine Hand. »Ich bin kein Versucher«, sagte er. »Ihre Pietät ehrt Sie.«
›Esel‹, dachte Diederich.

Der organisierende Erzähler scheint auch in dem auffälligen Wechsel von der direkten zur indirekten Rede auf, so dass nicht alles Gesagte wiedergegeben, der Akzent auf bestimmte Äußerungen gelegt wird. Die Erzählinstanz sucht aus, stellt bloß, inszeniert ein bestimmtes und zuvörderst unvorteilhaftes Charakterbild, beispielsweise bei der Verhandlung um die Größe der schwesterlichen Mitgift:

Hierauf feixte der Schwager ein wenig. Diederichs Familiensinn ehre ihn, aber mit Großzügigkeit allein sei es nicht getan. Und Diederich, merklich gereizt: er sei gottlob für seine Geschäftsführung außer Gott nur sich selbst verantwortlich. »Fünfunddreißigtausend bar und ein Achtel des Reingewinnes, mehr ist nicht zu holen.« Kienast trommelte auf den Tisch. »Ich weiß noch nicht, ob ich deine Schwester dafür übernehmen kann«, erklärte er. »Mein letztes Wort behalte ich mir noch vor.« Diederich zuckte die Achseln, und sie tranken ihr Bier aus.

Diese Form der Erzählweise zeigt, dass Entscheidungen getroffen werden, eine Reflexion im Hintergrund stattfindet und die Darstellung auf ein Konzept hin illustriert worden ist. Das Schematische von Der Untertan hindert so über weite Strecke die Illusion eines flüssigen Erzählens. Die Sprache holpert und stolpert mit dem Protagonisten durch die 1900er Jahrhundertwende und fliegt mit ihm von einem Fettnäpfchen ins nächste. Die Erzählinstanz lässt keine Möglichkeit aus, Diederich lächerlich und armselig erscheinen zu lassen:

Die andern schwankten hinterdrein, Diederich aber, kein Komment half ihm mehr, glitt hin, wo er stand. Zwei städtische Wächter [Roms] fanden ihn, an die Mauer gelehnt, in einer Lache sitzen. Sie erkannten den Beamten im persönlichen Dienst des Deutschen Kaisers, und voll tiefer Besorgnisse beugten sie sich über ihn. Gleich darauf aber sahen sie einander an und brachen in ungeheure Fröhlichkeit aus. Der persönliche Beamte war gottlob nicht tot, denn er schnarchte; und die Lache, in der er saß, war kein Blut.

Die sardonische Konstruiertheit lässt keine Liebe zum Detail zu. Die Dialogform dominiert das Erzählgeschehen. Die Szenen gleichen eher einem Schwank. Sie reihen sich aneinander und ähneln dem späteren epischen Theater eines Bertolt Brechts, der voller Spott über seine Gestalten hinweg zieht. Die genauen Vorkommnisse bleiben einfach im Dunklen. Weder wird klar wie eine Papiermaschinenfabrik funktioniert, noch wie der Aktienhandel vonstattengeht, welche Börse in Netzig gemeint ist oder wie die Grundstücksspekulation vertraglich abgeschlossen und gesichert wird. Eindrücklich wird jede soziale Verbindlichkeit von der Erzählinstanz aufgekündigt, wenn Wahlergebnisse ohne Wahlen beschrieben werden, überhaupt unverständlich bleibt, welche Rolle ein Regierungspräsident gegenüber einer Stadtverordentenversammlung besitzt und auch das Gerichtswesen in den zwei langatmig beschriebenen Prozessen sonderbar undurchsichtig agiert.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Der Untertan von Heinrich Mann steht als Musterbeispiel für satirische Literatur und dient vielen Werken als Vorbild und hat mit Bertolt Brecht einen genuinen Nachfolger gefunden, allen voran mit seinen Theaterstücken Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui und Die Dreigroschenoper. Wo Brecht jedoch seine Texte durch Musik auflockert, bleibt bei Mann nur der stark holzschnittartige Verriss eines Charakters übrig, für den das Publikum von Anfang an nicht viel übrig hat. Schmerzhaft lesen sich die wenigen Stellen, in denen der Roman nicht ausschließlich innerhalb der Reichen und Schönen und Möchtegern-Edlen der wilhelminischen Gesellschaft spielt, sondern die Armen und ins Getriebe-Geratenen kurz in den Vordergrund treten:

Bis zum Mittagessen ging er um [den Maschinenmeister] Napoleon Fischer herum: da, es läutete schon, entstand bei der Satiniermaschine ein gellendes Geschrei, und Diederich und der Maschinenmeister, die gleichzeitig hinstürzten, zogen gemeinsam den Arm einer jungen Arbeiterin heraus, der von einer Stahlwalze ergriffen worden war. Er troff von schwarzem Blut, Diederich ließ sofort nach dem städtischen Krankenhaus telefonieren. Inzwischen, so übel der Anblick des Armes ihm machte, blieb er selbst dabei, während der Person ein Notverband angelegt ward. Sie sah zu, leise wimmernd und mit Augen, weich im Entsetzen, wie ein junges Tier, das getroffen ist.

Hier antizipiert Der Untertan eine andere Literatur, die u.a. mit Werner Bräunigs Rummelplatz verwirklicht wird. Auch dort gibt es einen Fischer, nur nicht Napoleon, sondern den Steiger Hermann, und auch dort kommt es zu einem Unfall an der Papiermaschine und einer Walzenverzahnung. Das Augenmerk Bräunigs verbleibt ganz bei den Angestellten, bei den Produzierenden, den Notleidenden, wohingegen bei Heinrich Mann die Bevölkerung nur ganz am Rande als stinkendes Etwas vorkommt:

Vor allem, der Militärkordon war schon gezogen! — und gelangte man auch nur nach Gewährung aller Garantien hindurch, so lag doch eben hierin eine feierliche Erhebung angesichts des nicht privilegierten Volkes, das hinter unseren Soldaten und am Fuß einer großen schwarzen Brandmauer in der Sonne die schwitzenden Hälse reckte. […] »Auch der einfache Mann aus der Werkstatt ist willkommen!« fügte [Diederich] wieder aus dem Stegreif hinzu, jäh inspiriert durch den Geruch des schwitzenden Volkes hinter dem Militärkordon; denn der Wind, der aufkam, trug ihn her.

Die ungeminderte Verachtung Heinrich Manns für die dargestellten, nationalistisch eingestellten kaisertreuen Figuren verhindert ein weiteres, detailliertes Aufmerken, so dass Der Untertan nicht ohne Grund von vielen als Hetzschrift bezeichnet worden ist, u.a. von Thomas Mann oder Arthur Schnitzler, der in seinem Tagebuch vom 27. Dezember 1918 schreibt:

Las früh Manns Unterthan zu Ende. Außerordentlich ― doch mehr caricaturistisch im Detail als satirisch im großen. Dazu allzuviel Haß und Einseitigkeit. Keime zu dem Buch in Unrath ― Gretchen, auch Kleine Stadt.― Gelegentliche Geschmacklosigkeit. Der „Diederich“ eine große Gestalt in ihrer Jämmerlichkeit ― aber werden sie im demokratischen Deutschland fehlen?

Arthur Schnitzler aus: „Tagebücher

Das Problem mit der Satire liegt im heimlichen Einverständnis des bösen Blicks, der sich gegen eine Hassfigur eint und diese Einheit feiert, als sei sie aufklärerisch. Was aber geschieht, erzeugt nur eine weitere Parteilichkeit und Voreingenommenheit, die nicht sieht noch sehen will, dass, wenn zwei sich streiten, beide im Unrecht sein können, und dass fehlendes Wissen um politische, industrielle, juristische Zusammenhänge durch einen hervorgehobenen Humanismus nicht zu ersetzen ist, ohne den autoritären Charakters eines Vorurteils zu stärken, der doch nachgerade literarisch kritisiert werden wollte.  

Schuld an der Unmöglichkeit von Satire heute hat nicht, wie Sentimentalität es will, der Relativismus der Werte, die Abwesenheit verbindlicher Normen. Sondern Einverständnis selber, das formale Apriori der Ironie, ist zum inhaltlich universalen Einverständnis geworden. Als solches wäre es der einzig würdige Gegenstand von Ironie und entzieht ihr zugleich den Boden.

Theodor W. Adorno aus: „Minima Moralia“

So betrachtet erscheint Der Untertan von Heinrich Mann nicht pessimistisch genug. Der Roman setzt die humanistische Liberalität vom alten Herrn Buck absolut, ohne sie zu explizieren. Sie steht im Ungefähren, im Hintergrund als das vermeintlich Bessere, ohne sich zu zeigen. Der Untertan nährt so das Unbehagen, dass dort, wo etwas angenommen ward, vielleicht gar nichts ist, nie etwas war und hinterlässt den bitteren Nachgeschmack einer Selbstüberhebung, die, statt die Sinne zu öffnen, nur Öl ins lodernde Feuer gießt.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Außerplanmäßig werde ich ab und zu Besprechungen zu Klassikern posten. In diesem Zuge soll nach und nach mein Ein Kanon an Leben und Inhalt gewinnen.
Andere aktuelle und Klassiker-Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier

Nächste Woche am 05. März 2024 auf Kommunikatives Lesen:
bespreche ich im Doppelpack Radio Sarajevo von Tijan Silas und Die Brücke über die Drina von Ivo Andrić.

Anmerkungen:

Fußnote 1: Bspw. fiel die Auflage von Thomas Manns Der Zauberberg mit 125000 im vergleichbaren Zeitraum trotz Nobelpreises 1929 geringer aus. Helmuth Kiesel: „Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918-1933″ (zurück)

19 Antworten auf „Heinrich Mann: „Der Untertan““

  1. „heimlichen Einverständnis des bösen Blicks, der sich gegen eine Hassfigur eint und diese Einheit feiert, als sei sie aufklärerisch. Was aber geschieht, erzeugt nur eine weitere Parteilichkeit und Voreingenommenheit“, schreibst du.
    Damit zeigst du ein häufiges Problem von Satire auf, das auch viele ihrer modernen Beispiele trifft, die sich oft in reiner Boshaftigkeit und Schadenfreude erschöpfen.
    Deine Sicht auf den „Untertan“ habe ich wieder sehr genossen, du lässt dir den klaren Blick nicht durch Ehrfurcht vor dem Klassiker verstellen.

    1. Liebe Ule, ich begegne allen Büchern auf derselben Augenhöhe. Ich kann mit ihnen nur auf diese Weise in den Dialog treten – ich bin offen, bis ich vergrämt, fröhlich, erstaunt, oder verblüfft, verdattert, von den Socken und so weiter bin. Viele Stellen von der Untertan haben mich begeistert, viele auch nicht – das Buch als solches, genau gelesen, hinterlässt das von dir im Zitat angeführte Gefühl. Es ist ein fieses Buch, das nicht auf Verständnis aus ist – es ist nicht meine Art der Welt auf diese Weise zu begegnen. Ich werde dennoch demnächst Professor Unrat lesen, um mein Verständnis von Heinrich Mann noch etwas zu vertiefen. Danke für deinen Zuspruch und fürs Lesen!! Viele Grüße.

    2. Hab den Untertan als Schullektüre gehabt. Wie leider ein Großteil der verpflichtenden Lektüren, so verursachte auch der Untertan ein Unbehagen.
      Ich konnte mich oft erst Jahrzehnte später, einem der im Unterricht der DDR auseinandergenommen Lektüre, wieder nähern. Der Untertan blieb mir auch beim erneuten Versuch des Lesens, fremd.
      Vielleicht ist es das holzschnittartige. Es lebt irgendwie nicht. Es schwingt nichts. Ich empfand das Buch immer als unbeseelt.

      1. Schullektüren haftet auch stets etwas Gewolltes an. Deine Beschreibung trifft aber auch deshalb zu, weil Heinrich Mann von Dingen spricht, die er nicht wirklich kennt. Offenkundig hat er nämlich keine wirklichen Untersuchungen getroffen, wie Lokalpolitik von sich geht. Da geht es in Finanz- und Rechtsdingen einfach kunterbunt durcheinander. Es besitzt sehr viele Mängel – das Holzschnittartige gehört dazu. Die hölzerne Satire, der harte Realismus – das Kleben an einem allwissenden Blick ließ es sehr schnell altern, denke ich. „Unbeseelt“ passt insofern genau dazu. Stimmt.

      2. Spannend. Hab diesen Aspekt der unzureichenden Recherche bisher nirgendwo gelesen.
        Also in Rezensionen. Ich selbst kenne mich da gar nicht genug aus, als dass es mir hätte auffallen können.

      3. Die unzureichende Recherche lässt sich am Wirrwarr der Erzählung belegen, wenn nämlich die Ereignisse, die zu etwas führen, von Dingen bewirkt werden, die im Vagen gelassen werden. Heinrich Mann hält sich ja sehr bedeckt, was belegt, dass er weiß, dass er darüber im Grunde nichts weiß – warum er dann darüber erzählt, darin besteht eine Schwäche des Textes.

  2. Ich erinnere mich an ein schales Gefühl, nachdem ich den „Untertan“ gelesen hatte, so ein grundsätzliches „Ja, aber“. Jetzt finde ich diesen merkwürdigen Nachgeschmack bei dir erklärt. Danke dafür!
    Vormittagskaffeegrüße ☁️⛅💻☕🍪

    1. Ja, verstehe ich – bei mir wäre dieses schale Gefühl auch übriggeblieben. Einer der Vorteile des Bloggens besteht ja gerade darin, diesem Gefühl einen Kontext geben zu können. Ich wusste auch nicht, was mich stört, bis ich es sogar am Text selbst festmachen konnte. „Der Untertan“ würde eher als Entlarvungsjournalismus durchgehen, und unter dieser Warte aus gesehen, gar kein schlechter. Grüße zum Nachmittagskaffee und auch an den Fellträger!

  3. Danke wieder für die Auffrischung der Erinnerung und die Einordnung des Romans! Mir schien er freilich immer als Karikatur und nicht als Satire angelegt zu sein. Und Karikaturen leben ja von der Überzeichnung real vorhandener Eigenschaften. So war mir auch die Begegnungsszene mit dem Kaiser, die rein karikaturistisch ist, präsent, aber Buck ist mir fast nicht erinnerlich. Das für mich einprägsamste Thema des Romans war Diederichs Verhältnis zu den Frauen, das in dem absurden Satz gipfelt: ich will eine Jungfrau zur Mutter meiner Kinder (als Begründung der Auflösung seiner Verlobung, da sich die junge Frau ihm vor der Heirat „hingegeben“ hatte). Diese Formulierung hat sich mir ins Gedächtnis eingegraben, als ich das Buch als Jugendliche las. Sie wurde geradezu zum Leitmotiv für das, was ich als perverse männliche Moral empfand. Und auch das ekelerregende Geschacher um die Mitgift der Schwester ist mir erinnerlich. Hingegen ist die für mich abstrakt-politische Kontroverse zwischen Liberalismus und Kaisertreue gänzlich an mir vorbeigegangen.

    1. Definitiv ein interessantes und entlarvendes Buch unter dem Geschlechteraspekt gelesen. Das macht Sinn. Ich versuche meistens den Fokus des Romans herauszuspüren und meinte ihn, im Konflikt libertären und karriere-orientierten Demokratismus zu sehen. Aber im Grunde liese sich ein ganz neuer Lesebericht über die Geschlechterverhältnisse schreiben, nur meine ich, dass da zwar Heinrich Mann offenen Auges gesehen hat, aber ebenfalls nicht viel Utopie in seinem Text zu entwickeln vermochte. Ich finde überhaupt das ganze Buch in seiner Schreibweise und in seinem Inhalt als sehr männlich-konkurrenz-behaftet pervers, möchte ich sagen. Aber das ist nun doch nur ein Gefühl. Mit der Karikatur gebe ich dir recht, und ich gebe auch zu, dass ich begrifflich die Satire von der Karikatur nicht abgegrenzt habe, und wenn ich nun darüber nachdenke, wird mir etwas schwindlig zumute 🙂 Danke für den schönen Kommentar. Viele Grüße!

    2. Stimmt, jetzt erinnere ich mich dank deines Zitates an diese Seite des Untertans. Da hat Heinrich Mann aber auch einen Widerling erschaffen.
      Gibt es beim Untertan eigentlich auch eine Gegenseite?

      1. Ja, den alten Buck, der als liberaler, aufgeklärter, wohlgesonnener Bürger das Mittelding zwischen Eigennutz und Fremdnutz repräsentiert, also eine Art Raubtiermentalität mit menschlichem Antlitz, der Lobbyarbeit betreibt, aber stets Kompromisse einzugehen sucht (er will bspw. statt der Wilhelmsstatue ein Waisenhaus bauen).

    1. Die Lektüren in der Schule kommen oft zu früh oder zu spät, wie sollte es auch anders sein. Ich habe das Buch jahrelang vor mir her geschoben, obwohl ich interessiert war. Nun hatte ich die Muße und auch das Gemüt, mich darauf einzulassen. Es hat mir sehr viel über Literatur und auch die Gegenwart gelehrt – bspw., dass diese Form der Literatur, die andere eher bespöttelt, gar nichts Neumodisches ist. Andererseits war die Schreibweise schon teilweise sehr altertümlich, was mir eine gewisse Lesefreude und Herausforderung bereitet hat. Viele Grüße zurück!

      1. Ich denke, es gibt schönere, optimistischere, freundliche Literaturen. Ich lese dennoch demnächst noch den Professor Unrat, aber ob ich danach noch viel Heinrich Mann lese, weiß ich nicht.

  4. Glaube mein Kommentar ging nicht raus.
    Zusammenfassung:
    Deine Ausführungen dürften Recht genau treffen, warum es mich zu diesem Roman nie zurück gezogen hat.

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