Heinrich Böll: „Ansichten eines Clowns“

Ansichten eines Clowns
Spiegel Belletristik-Bestseller 1963/64 … Literaturnobelpreis 1972

Nicht jeder Künstler ist ein Aussteiger, und nicht jeder Aussteiger ein Künstler. In der Literatur wimmelt es von vielen exzentrischen Figuren. Angefangen mit Don Quijote, mit dessen Lebensbeschreibung im gleichnamigen Buch Miguel de Cervantes den modernen Roman aus der Taufe hob, bricht die Reihe der Exoten bis in die Gegenwartsliteratur nicht ab. Heinrich Bölls Hans Schnier aus Ansichten eines Clowns, erschienen 1963, steht in dieser Tradition. Er ist Clown von Beruf und ringt mit seinem sozialen, kulturellen, politischen Umfeld der frühen Nachkriegsjahre der Bundesrepublik Deutschlands:

Ich nahm plötzlich meine Mark aus der Tasche, warf sie auf die Straße und bereute es im gleichen Augenblick, ich blickte ihr nach, sah sie nicht, glaubte aber zu hören, wie sie auf das Dach der vorüberfahrenden Straßenbahn fiel. Ich nahm das Butterbrot vom Tisch, aß es, während ich auf die Straße blickte. Es war fast acht, ich war schon fast zwei Stunden in Bonn, hatte schon mit sechs sogenannten Freunden telefoniert, mit meiner Mutter und meinem Vater gesprochen und besaß nicht eine Mark mehr, sondern eine weniger, als ich bei der Ankunft gehabt hatte. Ich wäre gern runtergegangen, um die Mark wieder von der Straße aufzulesen, aber es ging schon auf halb neun, Leo konnte jeden Augenblick anrufen oder kommen.

Heinrich Böll aus: “Ansichten eines Clowns”
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Julia Schoch: „Das Liebespaar des Jahrhunderts“

Das Liebespaar des Jahrhunderts
Reflektiert und abgeklärt … Spiegel Belletristik-Beststeller 13/2023

Julia Schochs neuester Roman Das Liebespaar des Jahrhunderts reiht sich ein in das zur Zeit sehr beliebte Genre des autofiktionalen Erzählens. Autofiktion, wie sie einer ihrer ersten Theoretiker im Sinn gehabt hat, Serge Doubrovsky, zeichnet sich durch zwei Prinzipien aus: Alle, nicht nur die Berühmt-Berüchtigten, dürfen ihre Autobiographie schreiben, wobei jedes Detail möglichst direkt beschrieben, also quasi literarisch entblößt werden sollte. Und zweitens, spielt diese Form mit der Unterminierung des Narzissmus, indem das erzählende Ich zwar das eigene Leben aneignet, diesem aber Pointierungen und Anekdoten untermischt, um in der Übertreibung, wie Theodor W. Adorno es formulierte, der Wahrheit gerecht zu werden:

Ich habe das Düstere übertrieben, der Maxime folgend, daß heute überhaupt nur Übertreibung das Medium von Wahrheit sei.

Theodor W. Adorno aus: “Was heißt: Aufarbeitung der Vergangenheit?”

Bei Julia Schoch klingt das so:

Bevor du den Seminarraum betreten hast, hast du jedes Mal gewartet, bis alle anderen saßen. Die Tür flog auf, und du standst da, mit wehendem Mantel, sodass alle Gesichter sich dir zuwandten. Ich habe später oft daran zurückdenken müssen, wie du jedes Mal dastandst, in diesem wunderbaren wehenden Mantel. Aber dann, noch später, dachte ich immer häufiger etwas anderes. Ich dachte: Nein, der Mantel wehte nicht. Er konnte nicht wehen. Es war ein grüner Igelitmantel, ein steifes Etwas. Trotzdem war es so: Du standst da, mit wehendem Mantel, sodass alle Gesichter sich dir zuwandten.

Julia Schoch aus: “Das Liebespaar des Jahrhunderts”
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Annie Ernaux: „Der junge Mann“

Der junge Mann
auf den Spuren des eigenen Ichs … Spiegel Belletristik Bestseller (08/2023)

Die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux setzt die Tradition der französischsprachigen Biographen fort. Hier lässt sich sofort an das Tagebuch der Gebrüder de Goncourt denken, oder an Michel Leiris Die Spielregeln. Noch näher wären Jean-Jacques Rousseaus Bekenntnisse, selbstredend Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder aber auch die verstreuten Reminiszenzen eines Claude Simon wie in Die Akazie, Jardin des Plantes oder Das Haar der Berenike. In ihrem neuesten und sehr kurzen Text Der Junge Mann reflektiert Ernaux noch einmal eingehend, fast aphoristisch das Erinnern und das Schreiben des Erinnern selbst. Das Motto von Der junge Mann lautet so auch konsequenterweise:

Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe,
sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen,
sondern wurden nur erlebt.

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Franz Kafka: „Der Prozess“

Franz Kafka: „Der Prozess“
Dr. Jekyll und Mr. Hyde im Zeitalter der Bohème …

Interpretationsmodelle (3): Im Rahmen der Reihe Interpretationsmodelle, von denen es bereits einen ersten Teil mit Theodor W. Adornos Skoteinos und einen zweiten mit Jacques Derrida Gesetzeskraft gibt, veranschauliche ich dieses Mal anhand Franz Kafkas Der Prozess, inwieweit sich Interpretationen wertfrei darin unterscheiden lassen, wie sehr sie dem Textganzen und nicht nur gewissen Teilaspekten entsprechen.  Deutungen und Inhalt eines Romanes lassen sich ja selbstredend nach Belieben konstruieren, genauso wie Wertungen, Urteile, Eindrücke und Impressionen. Dies gilt selbst dann, wenn Interpretationen die Textgesamtheit berücksichtigen, aber erst recht im Falle einer dezisionistischen Textstellenauswahl. Als Beispiel dient hier Jacques Derridas dekonstruktivistisches Verfahren beim Besprechen von Walter Benjamins Text Zur Kritik der Gewalt. Noch deutlicher aber lässt sich dies an den Interpretation bezüglich Kafkas Der Prozess veranschaulichen:

»Sie dürfen nicht weggehen, Sie sind ja verhaftet.«
»Es sieht so aus«, sagte K.
»Und warum denn?« fragte er dann. »Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das zu sagen. Gehen Sie in Ihr Zimmer und warten Sie. Das Verfahren ist nun einmal eingeleitet, und Sie werden alles zur richtigen Zeit erfahren. Ich gehe über meinen Auftrag hinaus, wenn ich Ihnen so freundschaftlich zurede. Aber ich hoffe, es hört es niemand sonst als Franz, und der ist selbst gegen alle Vorschrift freundlich zu Ihnen. Wenn Sie auch weiterhin so viel Glück haben wie bei der Bestimmung Ihrer Wächter, dann können Sie zuversichtlich sein.«

Franz Kafka aus: “Der Prozess”
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Kalenderwoche 38-41. Lesebericht.

Kalenderwoche 38-41. Lesebericht.

Die letzten Wochen standen ganz im Zeichen der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Statt einer wöchentlichen Wahl aus der Spiegel Belletristik Bestseller-Liste überließ ich die Wahl der Akademie des Deutschen Buchpreises und ihrer jährlich wechselnden Jury. Sie legten mir nebst Fatma Aydemirs Dschinns und Kristine Bilkaus Nebenan, noch vier weitere Bücher ans Herz, die ich bereitwillig kaufte und widerspruchslos las. Mein Blog besteht ja überhaupt hauptsächlich aus Büchern, die ich ohne äußeren Anstoß sonst nicht lesen würde, und gerade dies führt aber zu ungeahnten Einblicken und Leseerfahrungen, die ich seitdem nicht mehr missen möchte. In meinen Lektüren versuche ich stets das Beste aus den Büchern, die sich mir aufdrängen, herauszuholen. Nicht immer jedoch gelingt’s und das gibt mir weitere ästhetische wie verwickelte dialektische Rätsel auf:

Weil ästhetische Vulgarität undialektisch die Invariante sozialer Erniedrigung nachmacht, hat sie keine Geschichte; die Graffiti feiern ihre ewige Wiederkehr. Kein Stoff dürfte je als vulgär von der Kunst tabuiert werden; Vulgarität ist ein Verhältnis zu den Stoffen und denen, an welche appelliert wird.

Theodor W. Adorno aus: “Ästhetische Theorie”
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Das unglückliche Bewusstsein“

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Das unglückliche Bewusstsein“
Vom jubelnden Missverständnis und anderen Bewusstseinsformen.

Hegels Die Phänomenologie des Geistes lässt sich unter vielen verschiedenen Geschichtspunkten untersuchen und lesen. Die meisten wählen einen historischen Weg und sehen in den angegebenen Bewusstseinsstufen wie sinnliche Gewissheit, Verstand, Geist und Vernunft die Weltgeschichte aus europäischer Sicht nachgezeichnet. Andere begreifen die Kapitelabfolge vor allem als erkenntniskritische Selbstreflexion auf Wissen und was zu wissen möglich ist, zumal der Text mit dem absoluten Wissen schließt. Wiederum andere lesen Hegel rein politisch oder moralphilosophisch, vor dem Hintergrund seiner späteren Rechtsphilosophie. Auf diese oder jene Weise geraten seine Texte schnell unter die alles zermalmenden Räder sehr landläufiger, nahezu verfälschender Erwägungen, die mit wenigen Begriffen universalhistorisch argumentieren und ein reiches, in sich differenzierendes Denken unter den Generalverdacht dieses oder jenes Schlagwortes subsumieren. Für Details bleibt bei dieser Textauslegung kein Platz, und sie ignoriert Hegels eigenen Versuch, im Vorwort der Phänomenologie ein solches Subsumieren zu unterbinden:

Denn statt mit der Sache sich zu befassen, ist solches Tun [das Beurteilen und Vergleichen von Resultaten] immer über sie hinaus; statt in ihr zu verweilen und sich in ihr zu vergessen, greift solches Wissen immer nach einem Anderen und bleibt vielmehr bei sich selbst, als daß es bei der Sache ist und sich ihr hingibt. – Das leichteste ist, was Gehalt und Gediegenheit hat, zu beurteilen, schwerer, es zu fassen, das schwerste, was beides vereinigt, seine Darstellung hervorzubringen.

G.W.F. Hegel aus: “Die Phänomenologie des Geistes” (Vorrede)
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Uwe Tellkamp: „Der Schlaf in den Uhren“ (ii: Form)

Uwe Tellkamp: "Der Schlaf in den Uhren"
Auf der Jagd nach Ewigkeit … Spiegel Belletristik-Bestseller (22/2022)

Nach der inhaltlichen, also makroskopischen Analyse von Uwe Tellkamps neuem Roman Der Schlaf in den Uhren nun ein mikroskopisches Nachforschen auf Stileigenheiten und selbsternannten Traditionsbestimmungen. Tellkamp positioniert sich in seinem Text nämlich sehr eindeutig. Nicht nur nennt er seine Lieblingsautoren (u.a. Thomas Mann, Heimito von Doderer, Gottfried Benn), sein Roman stellt auch eine implizite Ästhetik dar, eine Reflexion über Literatur, Wirkung und Sprache selbst. Neben der narrativen Dimension eines magischen Realismus, ohne jedoch das Freundliche, Warme eines beispielsweise Gabriel Marcía Márquez, gesellt sich eine janusköpfige, auf Verteidigung abzielende Poetologie, die versucht, sich gegen alle Richtungen zugleich abzugrenzen, d.h. ohne Richtung zu sein. Beispielsweise schreibt Tellkamps Protagonist Fabian Hoffmann über den Stil von Meno Rohde:

Dabei kam der Mann gar nicht zum Punkt, sondern schwadronierte in endlosen Schleifen um den heißen Brei, das hatten ihm schon manche seiner Leser vorgeworfen. Der Kerl will auf Kunst machen. Als ob es darauf ankäme, hatte ich an den Rand notiert. Auf Klarheit kam es an, Entschiedenheit, ein heißes Herz bei kühler Hand und eine direkte, unverkünstelte Art in der Durchführung der gestellten Aufgaben. Ins Ziel zu treffen, darauf kam es an.

Uwe Tellkamp aus: “Der Schlaf in den Uhren”
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Theodor W. Adorno: „Skoteinos – Wie zu lesen sei“

Von der immanenten Kritik und anderen Münchhausenstücken …

Interpretationsmodelle (1): Wer viel liest, fragt sich schnell, wie unterschiedliche Eindrücke zustande kommen, was den einen vom anderen Text unterscheidet? Was zeichnet diesen von jenem Roman, diese von jener Ausdrucksweise aus? Werturteile lassen sich diesbezüglich schnell aussprechen. Sie hängen aber von den Lesenden ab. Das bestreitet heute kaum noch jemand. Die entscheidende Frage bleibt indes vom Urteil unberührt: Was vom Urteil hat nun mit dem Lesen, was mit dem Text zu tun? Statt den Text zu klären, hat das Urteil also die Aufgabe erweitert und verkompliziert und nicht gelöst.

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