Hermann Hesse: „Narziß und Goldmund“

Narziß und Goldmund
Auf Schusters Rappen … Nobelpreis für Literatur 1946.

In der Gegenwartsliteratur steht die Mutter oft nicht hoch im Kurs. In Annika Brüsings Nordstadt und Claudia Schumachers Liebe ist gewaltig hassen die Figuren sogar explizit die Mutter. In Toril Brekkes Ein rostiger Klang der Freiheit und Daniela Dröschers Lügen über meine Mutter lässt sich bestenfalls von einer erzählerischen Ambivalenz sprechen, die Geschehenes im Nachhinein wiedergutzumachen versucht. In Annie Ernaux‘ Das andere Mädchen liebt die Mutter die Ich-Erzählerin nicht genug, und in Kim de l’Horizons Blutbuch geraten die Mutter und Großmutter zeitweilig gar zu “Monstren”. Vor diesem Hintergrund ist es eine willkommene Abwechslung in Hermann Hesses Narziß und Goldmund eine andere Art von Erinnerung an die Mutter zu lesen:

Nie in meinem Leben habe ich jemand so geliebt wie meine Mutter, so unbedingt und glühend, nie habe ich jemand so verehrt, so bewundert, sie war Sonne und Mond für mich. Weiß Gott, wie es möglich war, dies strahlende Bild in meiner Seele zu verdunkeln und allmählich diese böse, bleiche, gestaltlose Hexe aus ihr zu machen, die sie für den Vater und für mich seit vielen Jahren war.

Hermann Hesse aus: “Narziß und Goldmund”
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Jürgen Habermas: „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit“

Kaum ein Denker setzt so viel Hoffnung und Erwartung in die literarische, bürgerliche Öffentlichkeit wie Jürgen Habermas. Mit seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit räumte er 1962 dem räsonierenden Publikum die bedeutsame Stellung ein, zwischen Gesellschaft und Staat, also zwischen Bevölkerung und Regierung zu vermitteln. 60 Jahre später erscheint nun Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit, in welchem er diese Rolle, die der literarisch und philosophisch sich bildenden und  Sachverstand sich aneignenden Räsonierenden erneut bestimmt. Noch immer gilt für sie:

Sie [eine Demokratietheorie] muss den prinzipiellen Bedeutungsgehalt der historisch vorgefundenen und bewährten, also hinreichend stabilen Verfassungsordnungen explizit machen und die rechtfertigenden Gründe erklären, die der faktisch ausgeübten Herrschaft im Bewusstsein ihrer Bürger tatsächlich legitimierende Kraft verschaffen und daher auch deren Beteiligung sichern können.

Jürgen Habermas aus: “Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit”
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Das unglückliche Bewusstsein“

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Das unglückliche Bewusstsein“
Vom jubelnden Missverständnis und anderen Bewusstseinsformen.

Hegels Die Phänomenologie des Geistes lässt sich unter vielen verschiedenen Geschichtspunkten untersuchen und lesen. Die meisten wählen einen historischen Weg und sehen in den angegebenen Bewusstseinsstufen wie sinnliche Gewissheit, Verstand, Geist und Vernunft die Weltgeschichte aus europäischer Sicht nachgezeichnet. Andere begreifen die Kapitelabfolge vor allem als erkenntniskritische Selbstreflexion auf Wissen und was zu wissen möglich ist, zumal der Text mit dem absoluten Wissen schließt. Wiederum andere lesen Hegel rein politisch oder moralphilosophisch, vor dem Hintergrund seiner späteren Rechtsphilosophie. Auf diese oder jene Weise geraten seine Texte schnell unter die alles zermalmenden Räder sehr landläufiger, nahezu verfälschender Erwägungen, die mit wenigen Begriffen universalhistorisch argumentieren und ein reiches, in sich differenzierendes Denken unter den Generalverdacht dieses oder jenes Schlagwortes subsumieren. Für Details bleibt bei dieser Textauslegung kein Platz, und sie ignoriert Hegels eigenen Versuch, im Vorwort der Phänomenologie ein solches Subsumieren zu unterbinden:

Denn statt mit der Sache sich zu befassen, ist solches Tun [das Beurteilen und Vergleichen von Resultaten] immer über sie hinaus; statt in ihr zu verweilen und sich in ihr zu vergessen, greift solches Wissen immer nach einem Anderen und bleibt vielmehr bei sich selbst, als daß es bei der Sache ist und sich ihr hingibt. – Das leichteste ist, was Gehalt und Gediegenheit hat, zu beurteilen, schwerer, es zu fassen, das schwerste, was beides vereinigt, seine Darstellung hervorzubringen.

G.W.F. Hegel aus: “Die Phänomenologie des Geistes” (Vorrede)
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Platon: „Das Höhlengleichnis“

Platon: „Das Höhlengleichnis“
Allegorische Schattenspiele aus der Antike.

Das Höhlengleichnis von Platon befindet sich im 7. Buch von seinem Hauptwerk Der Staat [Politeia], das ungefähr vor 2400 Jahren niedergeschrieben worden ist. Das Gleichnis gilt als einer der Schlüsseltexte der abendländischen Philosophie und dient oft als vermeintlich einfache Einführung in die philosophische Erkenntnistheorie der Antike oder gar in die Philosophie überhaupt. Zu diesem Zwecke wird es oft als alleinstehende Allegorie auf das menschliche Dasein, vom Wissen und Nichtwissen, Sein und Schein herangezogen. Im Folgenden nun der Versuch zu zeigen, dass das Höhlengleichnis ganz und gar nicht einfach ist. Die Bildsprache erzeugt ein in sich widersprüchliches Bild, das den Unterschied zwischen abstrakter und konkreter Begriffsbildung eher verschleiert als aufklärt.

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Elfriede Jelinek: „Die Kinder der Toten“ (i: Inhalt)

Elfriede Jelinek: "Die Kinder der Toten"
Im toten Winkel der Geschichte … Nobelpreis für Literatur 2004.

Alle Bücher bestehen aus einem Buchdeckel und bedruckten Seiten. Sie genügen alle der Linearität der Sprache und bauen Wort für Wort eine Kommunikationswelt auf. Die Zeitlichkeit stellt sich von alleine ein. Das so eben gelesene Wort verknüpft sich mit anderen, weit zurückliegenden Worten, taucht unversehens auf und erzeugt immer wieder einen ungeahnten Sinn an Ort und Stelle. Stets holt sich das Lesen selbst ein, im steten Werden und Vergehen, Vergessen und Erinnern, und in der Art und Weise, wie dieses geschieht, unterscheiden sich die Bücher voneinander, nämlich darin, wie sie Kommunikation anstreben. Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten gibt sich widerborstig. Die Kommunikation biegt sich auf sich selbst zurück. Bevor ich also die Lektüre ihres opus magnum Revue passieren lassen kann, hier ein Klärungsversuch darüber, was auf den 667 Seiten eigentlich beschrieben wird. Von einer Orientierung spendenden Erzählinstanz kann nämlich kaum die Rede sein:

Also nein, das Feuer denkt nicht einen Augenblick lang nach! Seine spielerisch an allem und jedem zupfende Flut leckt jetzt aus der geöffneten Tür, was einst Fleisch war, verschwindet, und Buchstaben kriechen auf mich zu. Das Haus aus Sprache ist mir leider zusammengekracht. Die Sprache ist ja auch gleichzeitig schwungvoll und produktiv wie verhüllend, ähnlich dem Feuer, das diesen Schädel ausgespien hat, den Frau Frenzel da herumträgt […]

Elfriede Jelinek aus: “Die Kinder der Toten”
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Ernst Bloch: „Experimentum Mundi“

Ernst Bloch: „Experimentum Mundi“
Der Materie auf der Spur …

Selten wird der Zukunft wirklich viel Aufmerksamkeit entgegengebracht. Sie ist zu unbequem, unterminiert jede Selbstgewissheit und Selbstzufriedenheit bis zur Kenntlichkeit, sobald sie beim Namen genannt wird. Das liegt an dem Diffusiven, Trüben, Bevorstehenden und Ominösen um sie herum. Explizit würde nämlich niemand ernsthaft sagen, es sei möglich, in die Zukunft zu schauen, wahrscheinlich nicht einmal Nostradamus selbst. Implizit jedoch wird stillschweigend davon ausgegangen, es sei möglich. Unmöglichkeitssätze, die tagtäglich hörbar sind, was unmöglich, irreal, utopisch ist, und die nur vor dem Hintergrund dieser Annahme formuliert werden können, geben beredtes Zeugnis davon ab. Ernst Blochs philosophisches Werk stellt diesbezüglich eine Ausnahme dar. Es beschäftigt sich ausschließlich mit der Utopie, dem Vorschein und Noch-Nicht, kurz: mit der Zukunft. Experimentum Mundi lautet seine letzte philosophische Schrift, die er um das Jahr 1973 herum, also im hohen Alter von 88 Jahren geschrieben und als Summa seines philosophischen Gesamtwerkes und utopisch-ontologischen Kategorienlehre verstanden hat:

Dies also ist Experimentum Mundi, nicht nur als eines an der Welt, sondern in ihr, eben das Realexperiment der Welt selber. […] Dem entspricht eine endlich betonte Ontologie des Noch-nicht-Seins im noch nicht Bewussten, noch nicht Gewordenen, beide wesend in den Perspektiven der Tendenz und Latenz, im Realexperiment der Kategorien (Daseinsweisen, Daseinsformen) wie ihrer Materie nach vorwärts.

Ernst Bloch aus: “Experimentum Mundi”
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Kalenderwoche 21: Lesebericht.

Zwischen Utopie und Dystopie: Celan.

Zu schnell gelesen und dann auch noch zu langsam geschrieben, oder zu viel und zu wenig, je nach dem. Ich komme mit meinen Rezensionen nicht hinterher. Viele Assoziationen liegen und fliegen umher, suchen nach Verbindung und Verknüpfung, Zitate durchstöbernd, um zumindest eine Halbordnung zu bewerkstelligen. Im Arbeitstrott leider schwer zu bewerkstelligen, und dann schießt noch der neue Uwe Tellkamp-Roman dazwischen, lenkt von Sibylle Berg ab, und lässt noch gerade das David Wonschewski-Leseerlebnis zu Wort kommen. Bei all dem Gezank lockte mich letztlich der geruhsame Ernst Bloch in seine ruhige Ecke, wo er vom Abenteuer Leben schwadronierte, ein leises, langsames, schönes Reden um den heißen Brei, das manche Glück nennen.

Der Archetyp: Höchstes Gut ist der lnvarianzinhalt des glücklichsten Staunens, sein Besitz wäre der, welcher verwandelt im Augenblick und eben als dieser Augenblick, zu seinem völlig gelösten Dass.

Ernst Boch aus: “Das Prinzip Hoffnung”
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Immanuel Kant: „Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe“

Von Amphibolien und anderen Dämonen.

Wenige, nur einige Seiten lange Kapitel kondensieren so sehr Geistes- und Denkbemühungsgeschichte wie Immanuel Kants Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe. Dieser Anhang samt seinen Anmerkungen beschließt die erste Abteilung der transzendentalen Analytik in der Kritik der reinen Vernunft und markiert ein atemloses Abwägen, eine Gratwanderung zwischen Tautologie und Ontologie mit schillernden Konsequenzen. Hier verdichtet sich eine Zeit und sattelt um. Gleich einer Schubumkehr wandelt die Leibniz-Wolffsche Philosophie ihr Gesicht und dankt ab, um dem Neuen und Offenen unverminderte Einkehr in das argumentative Denken zu verschaffen. Genau gelesen befindet sich das Amphibolie-Kapitel nämlich in einem Schwebezustand. Es herrscht bereits ein beschwingtes Nicht-Mehr, aber zugleich auch ein banges, unentschiedenes Noch-Nicht. Im Folgenden ein Nachvollzug dieser intellektuellen Implosion und hierfür, vorangestellt, eine kurze Einbettung des janusköpfigen Amphibolie-Kapitels.

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Kalenderwoche 16: Lesebericht.

Kommunikativ lesen.

Ich habe mich entschlossen, einen wöchentlichen Lesebericht über meine gekauften, angelesenen und beendeten Bücher zu verfassen, um einerseits selbst einen Überblick zu behalten, andererseits bereits vorhandene Leseeindrücke zu geben, und zuletzt und möglicherweise insbesondere, um durch etwaige Kommentare, Vorschläge, Widersprüche, Anmerkungen und Assoziationen zum Mehrlesen und Anderslesen und Neulesen inspiriert zu werden. Manche Bücher lesen sich kommunikativ einfacher als in selbstgewählter Klausur.

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Erwin Schrödinger: „Was ist Leben?“

Der Mensch als Haufen Atome? …

Wer sich fragt, was die moderne Physik zur Beantwortung metaphysischer Fragen beizutragen hat, wird über kurz oder lang auf das schmale Bändchen von Erwin Schrödinger Was ist Leben? stoßen, das zum ersten Mal in englischer Sprache 1944 erschien und von L. Mazurczak aus dem Englischen übersetzt wurde. Der österreichische Physiker Erwin Schrödinger ist bekannt für seine Beiträge zur statistischen Physik und Quantenmechanik und gilt als ein exponierter Vertreter der modernen Naturwissenschaft. Für seine Grundlagenarbeit auf dem Gebiet der Quantenmechanik erhielt er 1933 gemeinsam mit Paul Adrian Maurice Dirac den Nobelpreis. In Was ist Leben? überträgt Schrödinger seine Expertise nun auf einen Bereich, der üblicherweise entweder der Philosophie oder Theologie vorbehalten bleibt, und wenn überhaupt von der spekulativen Biologie bearbeitet wird, den des Lebens und der Willensfreiheit:

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