Byung-Chul Han: „Die Krise der Narration“

Die Krise der Narration
Mehr Symptom als Diagnose … Spiegel Sachbuch Bestseller Autor

Interpretationsmodelle (4): Im Rahmen der Reihe Interpretationsmodelle, von denen es bereits einen ersten Teil mit Theodor W. Adornos Skoteinos, einen zweiten mit Jacques Derrida Gesetzeskraft und einen dritten anhand Franz Kafkas Der Prozess auf diesem Blog gibt, beschäftige ich mich heute mit einem viel besprochenen und weltweit rezipierten Philosophen, Byung-Chul Han, und die Weise, wie er in seinem Text Die Krise der Narration mit Texten, Zitaten, Referenzen und Inhalten umgeht.

Hans Text steht in enger Verbindung mit Francois Lyotards Das postmoderne Wissen, in welchem vor mehr als vierzig Jahren bereits Ähnliches diagnostiziert wurde, nämlich dass wir uns in einer Zeit nach dem Ende großer Erzählungen befänden und nur noch sich selbst transparente, oder untote kleine Erzählungen existierten voller verwobener und irrelevant gewordener Details, die niemandem mehr hinter dem Ofen hervorlocken könnten. Im Gegensatz zu Lyotard, der seine Diagnose an den Naturwissenschaften entlang argumentiert, bemüht sich Byung-Chul Han selbiges in der Literatur und im Mangel des modernen Erzählens nachzuweisen. Im Folgenden, weshalb Hans zehn Kapitel umfassendes Büchlein mehr zum Symptom als zur Diagnose beiträgt.

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Annie Ernaux: „Der junge Mann“

auf den Spuren des eigenen Ichs … Spiegel Belletristik Bestseller (08/2023)

Die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux setzt die Tradition der französischsprachigen Biographen fort. Hier lässt sich sofort an das Tagebuch der Gebrüder de Goncourt denken, oder an Michel Leiris Die Spielregeln. Noch näher wären Jean-Jacques Rousseaus Bekenntnisse, selbstredend Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder aber auch die verstreuten Reminiszenzen eines Claude Simon wie in Die Akazie, Jardin des Plantes oder Das Haar der Berenike. In ihrem neuesten und sehr kurzen Text Der Junge Mann reflektiert Ernaux noch einmal eingehend, fast aphoristisch das Erinnern und das Schreiben des Erinnern selbst. Das Motto von Der junge Mann lautet so auch konsequenterweise:

Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe,
sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen,
sondern wurden nur erlebt.

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Daniela Dröscher: „Lügen über meine Mutter“

Ein doppelzüngiger Bericht … Spiegel Belletristik-Bestseller (37/2022)

Was zeichnet eigentlich einen Roman aus? Ist er nur eine verschriftlichte lange Rede, ein transkribiertes Gespräch, ein überlanger Monolog einer einzelnen Person? Oder gehört zum Roman eine Art eigene Sprache, die dem Alltagsgespräch eine andere, nicht unbedingt neue, dennoch weitere Dimension verleiht? Diese Fragen werfen ein Licht auf das, was gemeinhin die Authentizität des Erzählens genannt wird. Daniela Dröschers neuer Roman Lügen über meine Mutter stellt mit dem Titel ebenfalls die Frage nach Wahrheit und Wirklichkeit in Abgrenzung zur Lüge und Fiktion. Der Roman beginnt zudem mit einem dazu passenden Zitat von Emily Dickinson:

»Sag Wahrheit ganz
doch sag sie schräg
Erfolg liegt im Umkreisen
Zu strahlend tagt der
Wahrheit Schock
Unserem Begreifen
Wie Blitz durch freundliche Erklärung
Gelindert wird
dem Kind
Muss Wahrheit sachte blenden
Sonst würde jeder blind.«

Emily Dickinson aus: “Sämtliche Gedichte” (Hrsg. G. Kübler, 1872, 1263, S. 998)
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Jacques Derrida: „Gesetzeskraft“

Ausweitung der Deutungszone …

Interpretationsmodelle (2): Die Dekonstruktion und der Poststrukturalismus haben eins der wirkungsmächtigsten Interpretationsmodelle der letzten Jahrzehnte etabliert. Im Rahmen der Reihe der Interpretationsmodelle, und als zweiter Teil, nach Theodor W. Adornos Aufsatz Skoteinos und seinem Begriff der immanenten Kritik, wird nun Jacques Derridas Buch Gesetzeskraft – Der »mystische Grund von Autorität« als Beispiel einer dekonstruktivistischen Lektüre untersucht. In diesem setzt er sich ausgiebig und detailliert mit Walter Benjamins 1921 erschienen Aufsatz Zur Kritik der Gewalt auseinandersetzt, der in einem anderen Beitrag bereits besprochen und interpretiert wurde.

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