Slata Roschal: „153 Formen des Nichtseins“ [Das Debüt 2022]

153 Formen des Nichtseins
Im Kampf gegen Fremdbestimmung … Shortlist des Bloggerpreises “Das Debüt 2022

Es gibt Romane, die laut anklagen, krakeelen wie Hengameh Yaghoobifarahs Ministerium der Träume; oder jene, die larmoyant ihre soziale Existenz bedauern, indes sie von einem Leben in Saus und Braus träumen wie Kim de l’Horizon in Blutbuch. Es gibt auch solche, die mit Humor zur Sache gehen wie Tomer Gardi in Eine runde Sache oder verwundet und etwas gebrochen, aber perennierend und auf Kultur und Kunst hoffend wie Emine Sevgi Özdamar in Ein von Schatten begrenzter Raum. Bei aller Unterschiedenheit eint diese Schreibweisen, die mit den höchstdotiertesten deutschen Literaturpreisen versehen wurden, bspw. u.a. mit dem Büchner- oder den Deutscher oder Schweizer Literaturpreis, ein Ankämpfen gegen normierte, von außen aufgedrückte fremde Sprach- und Sprechweisen. Stiller, bescheidener, aber mit selbiger Stoßrichtung kommt Slata Roschals 153 Formen des Nichtseins daher:

Ich wollte mich als einen Teil der ansässigen Bevölkerung präsentieren, als einen Einheimischen, als einen Vertreter der ärmlichen, aber gebildeten, intellektuellen und aufsteigenden Mittelschicht. Mein Deutschsein war aber zu reflektiert, zu absichtlich, sobald ich das Pragmatische, die konkreten Ziele des Sprechens außer Acht ließ, wurde meine Sprache zu einer seltsamen Mischung, zu einer breit angelegten Performance, eigenartig und irritierend.

Slata Roschal aus: “153 Formen des Nichtseins”
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Kalenderwoche 28/29: Lesebericht.

Eine Reise durch die literarische Nacht …

Die letzten beiden Wochen standen nicht nur unter dem Zeichen krasser Sommerhitze und Arbeit, Blitzen, Donner und Regengüssen. Der Zusammenstoß zwischen Natur und Gemüt, Somnambulie und Reflexion, wurde zudem befeuert von Bachmanns Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit und Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten. Beide Texte haben mich auf ihre eigene Weise in Beschlag genommen. Werde ich bei Bachmanns Aufzeichnungen das Gefühl nicht los, ungefragt in ihre Privatsphäre einzudringen, gibt mir Jelinek das Gefühl, dass es so etwas wie Privatsphäre gar nicht gibt oder geben kann, dass im Grunde immer alles offenliegt. Jelineks Buch hat mich letztlich sehr viel Kraft gekostet. Seit Jahrzehnten habe ich es lesen wollen und wusste doch immer, nach zwanzig, dreißig Seiten, dass die Zeit einfach noch nicht kommen war. Nun, nach der erneuten Lektüre von Malina, passte es. Unterwegs lesend, jeden Satz studierend, gegen die Ohnmacht der barocken Allegorien ankämpfend, bahnte ich mir einen Weg durch dieses Mammutsatzgewucher. Nicht ohne Freude, aber auch nicht ohne Schrecken. Sie hat alles in die Waagschale geworfen und man merkt es:

„Die Kinder der Toten“ ist sicher mein wichtigstes Werk. Es enthält alles, was ich sagen wollte; es hätte eigentlich genügt, dieses eine Buch zu veröffentlichen.

Elfriede Jelinek aus: “Interview mit profil” (2004)
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Max Frisch: „Mein Name sei Gantenbein“

Auf der Flucht vor sich selbst … Spiegel Belletristik-Bestseller (45/1964)

In Mein Name sei Gantenbein experimentiert Max Frisch mit biographischen Erzählpositionen. Im Gegensatz aber zu seinem Frühwerk Stiller bedient sich der 1964 veröffentlichte Roman explizit bei den formästhetischen Varianten des nouveau roman, um minutiös die auktoriale Erzählposition zu unterminieren und so, wenn möglich, die Grenzen des Sagbaren auszuloten und zu erweitern. Typischerweise wird Max Frisch jedoch nicht zu den Vertretern des nouveau roman gezählt. Überhaupt haben die stilistischen Bemühungen dieser formästhetischen Experimente von , zu denen Nathalie Sarraute, Michel Butor, Claude Simon oder Alain Robbe-Grillet in der deutschsprachigen Literatur der Nachkriegszeit wenig Anklang gefunden und wurden nur von vereinzelten wie Arno Schmidt aufgenommen. Frischs Roman fügt sich aber nahtlos in die Reihe von Romanen wie Die Jalousie von Alain Robbe-Grillets oder La modification von Michel Butor ein, die wie Mein Name sei Gantenbein das Thema Eifersucht behandeln und ein zersplittertes Ich zur Erzählfigur erheben:

Ich hocke noch immer in Mantel und Mütze, Hände in den Hosentaschen. Es riecht nach Staub und Bodenwichse. Von den Personen, die hier dereinst gelebt haben, steht fest: eine männlich, eine weiblich. Ich sehe Blusen im Schrank, etwas Damenwäsche, die nicht mehr in den Koffer paßte oder nicht mehr Mode ist, Krawatten auf der andern Seite, drei lahme Jacken für den Herrn im Winter, zwei für den Sommer, und unten stehen die Schuhe, gereiht wie zum Appell, teils mit Leisten drin. Warum sind leere Schuhe so entsetzlich?

Max Frisch aus: “Mein Name sei Gantenbein”
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Kalenderwoche 26: Lesebericht.

Mich beschäftigt momentan durchweg das Ingeborg Bachmann-Max Frisch Enigma. Vielleicht nehme ich es nur zum Anlass, um mich durch das Werk von den beiden zu lesen, und mich daran zu erinnern, weshalb die Literatur seit dem ersten Satz in Stiller einen zentralen Stellenwert in meinem Leben erhalten hat. Der erste Satz lautet:

Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere.

Max Frisch aus: “Stiller”

Kaum lese ich den Satz, möchte ich weiterlesen. Auf seine Art und Weise wird Stiller das Leseerlebnis schlechthin bleiben, wiewohl viele andere folgten. Der Aufruf, nicht mehr still zu bleiben, still zu sein, nicht mehr stillgestellt bleiben zu wollen, sondern von sich und seinem Leben erzählen, all dies evoziert das Ausrufezeichen, der Widerstand, das mutige und fröhliche Aufbegehren gegen den Stillstand. Dazu passend Ingeborg Bachmann:

So ist die Literatur, obwohl und sogar weil sie immer ein Sammelsurium von Vergangenem und Vorgefundenem ist, immer das Erhoffte, das Erwünschte, das wir ausstatten aus dem Vorrat nach unserem Verlangen – so ist sie ein nach vorn geöffnetes Reich von unbekannten Grenzen.

Ingeborg Bachmann aus: “Frankfurter Vorlesungen”
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Alois Hotschnig: „Der Silberfuchs meiner Mutter“

Blick ins ungezähmte Chaos … SWR Bestenliste Platz 1 (02/2022)

Kriege ziehen viel mehr in Mitleidenschaft als nur die oberflächlichen Zerstörungen und Verwüstungen und Verletzungen. Sie erschüttern Vertrauen, zwischenmenschliche Verhältnisse bis in die letzten Fasern und Fibern des Seins hinein. Untersucht Stefanie vor Schulte in „Junge mit schwarzem Hahn“ die unmenschlichen Gewaltverhältnisse während des Dreißigjährigen Krieges, so analysiert Susanne Abel in „Stay away from Gretchen“ die Problematik der während der Besatzung durch die Alliierten gezeugten Kinder im Nachkriegsdeutschland und Edgar Selge in „Hast du uns endlich gefunden“ die Wirkungen und Zerrüttungen des Krieges auf die familiären Verhältnisse, auf die Beziehung eines Sohnes zu seinem gewalttätigen Vater. Alois Hotschnigs Roman „Der Silberfuchs meiner Mutter“ eröffnet hier eine weitere Perspektive auf die Schrecken des Krieges und entwickelt diese entlang der Beziehung einer Mutter zu ihrem gewollt/ungewollten Sohn.

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