Max Frisch: „Mein Name sei Gantenbein“

Auf der Flucht vor sich selbst … Spiegel Belletristik-Bestseller (45/1964)

In Mein Name sei Gantenbein experimentiert Max Frisch mit biographischen Erzählpositionen. Im Gegensatz aber zu seinem Frühwerk Stiller bedient sich der 1964 veröffentlichte Roman explizit bei den formästhetischen Varianten des nouveau roman, um minutiös die auktoriale Erzählposition zu unterminieren und so, wenn möglich, die Grenzen des Sagbaren auszuloten und zu erweitern. Typischerweise wird Max Frisch jedoch nicht zu den Vertretern des nouveau roman gezählt. Überhaupt haben die stilistischen Bemühungen dieser formästhetischen Experimente von , zu denen Nathalie Sarraute, Michel Butor, Claude Simon oder Alain Robbe-Grillet in der deutschsprachigen Literatur der Nachkriegszeit wenig Anklang gefunden und wurden nur von vereinzelten wie Arno Schmidt aufgenommen. Frischs Roman fügt sich aber nahtlos in die Reihe von Romanen wie Die Jalousie von Alain Robbe-Grillets oder La modification von Michel Butor ein, die wie Mein Name sei Gantenbein das Thema Eifersucht behandeln und ein zersplittertes Ich zur Erzählfigur erheben:

Ich hocke noch immer in Mantel und Mütze, Hände in den Hosentaschen. Es riecht nach Staub und Bodenwichse. Von den Personen, die hier dereinst gelebt haben, steht fest: eine männlich, eine weiblich. Ich sehe Blusen im Schrank, etwas Damenwäsche, die nicht mehr in den Koffer paßte oder nicht mehr Mode ist, Krawatten auf der andern Seite, drei lahme Jacken für den Herrn im Winter, zwei für den Sommer, und unten stehen die Schuhe, gereiht wie zum Appell, teils mit Leisten drin. Warum sind leere Schuhe so entsetzlich?

Max Frisch aus: „Mein Name sei Gantenbein“

Die Frage bleibt unbeantwortet, wie so vieles im Gantenbein-Universum, wie auch, wer hier eigentlich und aus welcher Perspektive spricht. Klar ist nur, dass es sich um ein männliches, sich erinnerndes Ich handelt, das den Spuren einer oder mehreren in die Brüche gegangener Liebesbeziehungen nachgeht. Aus dem Nimbus des Geheimnisvollen nimmt es kein Wunder, dass der Roman mit realen Ereignissen und Personen in Max Frischs Leben in Verbindung gebracht wurde, insbesondere mit seinen gescheiterten Liebesbeziehungen zu erfolgreichen Frauen wie der Architektin Gertrud von Meyenburg oder der Lyrikerin Ingeborg Bachmann. Aus dem Geschriebenen Schlussfolgerungen auf Max Frischs Leben selbst zu ziehen, mag gelingen oder nicht. Es ändert jedoch nichts an dem Umstand, dass Mein Name sei Gantenbein in Anlage und Breite keine Autobiographie, sondern ein literarisches Unternehmen darstellt, in welchem nur ein Protagonist hinter den Kulissen die Fäden zieht und dieser heißt nicht Felix Enderlin, Frantisek Svoboda, Theo Gantenbein oder Max Frisch, sondern hört auf den Namen „Eifersucht“:

Jetzt ist es schon soweit, daß Lila sogar ihre Briefe herumliegen läßt, Briefe eines fremden Herrn, die unsre Ehe sprengen würden, wenn Gantenbein sie lesen würde. Er tut’s nicht. Höchstens stellt er einen Aschenbecher oder ein Whisky-Glas drauf, damit kein Wind drin blättern kann.

Das narrative Gerüst von Mein Name sei Gantenbein bildet die Beziehung zwischen Gantenbein und der Schauspielerin Lila. Gantenbein spielt nach einem Autounfall einen Blinden, um auf eine neue Weise lieben und leben und eine Beziehung führen zu können. Er benötigt wie Stiller im gleichnamigen Roman einfach einen Neustart, und dieser wird ihm durch ein Autounfall ermöglicht, der ihm beinahe das Augenlicht gekostet hätte und woraufhin er sich nun als blind auszugeben beginnt. Kaum hat er einen Blindenausweis erstanden, wird er von Camilla, einer Maniküristin, fast über den Haufen gefahren. Sie ist die erste Frau, die der blinde Gantenbein kennenlernt und mit zu sich nach Hause nimmt. Des Weiteren lernt er Lila kennen, einmal als begeisterter Fan, der in ihre Garderobe dringt, um ihr Blumen zu überreichen; einmal, als sie für ihren Gatten eine Verabredung absagt und nach einem Trinkgelage mit Gantenbein eine Nacht verbringt. Es bleibt und muss unklar bleiben, inwiefern diese Kosmen, Paralleluniversen in Beziehung zueinander stehen. Sie ergeben ein dynamisches Mosaik, Persönlichkeitsfetzen, Einblicke, Ausblicke, Zuschnitte, die mehr oder weniger stroboskopisch Licht auf die wahren Geschehnisse werfen, die aber unerwähnt und der Spekulation freigegeben bleiben.

Ich drehte mich auf dem Absatz – ich möchte nicht das Ich sein, das meine Geschichten erlebt, Geschichten, die ich mir vorstellen kann – ich drehte mich auf dem Absatz, um mich zu trennen, so flink wie möglich, von dem fremden Herrn.

Um seiner eigenen Geschichte zu entfliehen, verfasst der Erzähler Möglichkeitsräume. Seine Sätze sind Absätze, auf denen er sich dreht und wendet, um den Abgründen, die sich um ihn herum auftun, zu entkommen. Er erzählt von Philemon und Baucis, von Ali und Alil, von der Geburt eines möglichen Kindes, an dessen Vaterschaft er zweifelt, von einer Gerichtsverhandlung, die den Mörder Camillas ermitteln soll, von einem Milchmann, einem Botschafter, von Lila als Wissenschaftlerin und Contessa, von der Todesangst Enderlins, als er fälschlicherweise eine Diagnose, die gar nicht ihm galt, bei seinem behandelnden Arzt auf sich bezieht, und von vielem anderen mehr. Diese Anekdoten, basieren fast immer auf einem Missverständnis, darauf, dass jemand Wissen sucht und sich aneignet, das nicht für ihn bestimmt ist, es aber auf sich bezieht und so Krisen herauf beschwört, aus denen niemand von den Beteiligten unbeschadet hervorgeht. Es ist dieses fälschlicherweise erworbene Wissen, dem der Erzähler zu entfliehen sucht. Nur lässt sich das Lesen eines Briefes nicht mehr rückgängig machen und auch nicht der Anblick, wie Lila Hand in Hand mit einem fremden Herren aus dem Flugzeug steigt. Nach dem Biss in den Apfel, nach dem Erwerb des nicht für ihn bestimmten Wissens, bleiben dem Erzähler nur noch die Flucht nach vorn ins Zukünftig-Unbekannte und das Verdrängen und Vergessen des Bekannt-Vergangenen. Alles andere ist ihm die Hölle:

Ich stelle mir die Hölle vor: Ich wäre Enderlin, dessen Mappe ich trage, aber unsterblich, so, daß ich sein Leben, meinetwegen auch nur einen Teil seines Lebens, ein Jahr, meinetwegen sogar ein glückliches Jahr, beispielsweise das Jahr, das jetzt beginnt, noch einmal durchzuleben hätte mit dem vollen Wissen, was kommt, und ohne die Erwartung, die allein imstande ist, das Leben erträglich zu machen, ohne das Offene, das Ungewisse aus Hoffnung und Angst.

Das Wissen zerstört alles, insbesondere das unerlaubt erworbene. Max Frisch berichtet in Mein Name sei Gantenbein von Männern, die der Versuchung nicht widerstehen können, ihre Mitmenschen, aber insbesondere ihre Partnerinnen auszuspionieren. Sie schämen sich, krümmen sich vor selbstzugefügtem Schmerz und vermögen es dennoch nicht, die Briefe nicht zu lesen, die Partnerin nicht auf dem Flugplatz zu überraschen, sie nicht heimlich mit einem Tonband aufzunehmen. Sie tun es und zahlen bitterlich dafür, nicht widerstanden, sondern vom Baum der fehlgeleiteten Erkenntnis gekostet zu haben:

Hastig, während ich mich gelassen schäme, hantieren meine zittrigen Finger an der Spule, ich schäme mich wirklich jedesmal, wenn ich die Maschine einschalte, aber ich schreite nicht gegen mich ein. Den ersten Meter schneide ich immer weg, aber auf einigen Bändern erwische ich trotzdem die eigene Stimme noch, ihre halblaute Lüge: Ich geh Zigaretten holen! was ich dann auch tue, nachdem ich die Höllenmaschine, versteckt hinter Büchern, in Betrieb gesetzt habe. Mein Gelübde, von diesen Bändern nie Gebrauch zu machen, ist billig. Das Tonband läßt sich löschen, nicht das Gedächtnis.

Mein Name sei Gantenbein stellt sich die unlösbare Aufgabe, mittels Bericht, formästhetischen Versuchen, narrativen Unterwanderungen das unberechtigt erworbene Wissen wieder loszuwerden. Zwar kann das Gedächtnis nicht gelöscht werden wie ein Tonband, es kann sich aber selbst verwirren, Namen vertauschen, übereinanderlegen, mittels Doppelbenamsung und Redundanzen jedwede Erinnerungssicherheit verunmöglichen, bis am Ende, vielleicht, nach all den Erzählungen, Paralleluniversen, Möglichkeitsräumen nicht mehr sichergestellt ist, was wirklich, was unwirklich, was geschehen, nur geträumt, was getan, was nicht getan worden ist.

Ich kann es nicht mehr hören, daß ich das und das getan habe, ob schändlich oder rühmlich. Nur als unvergeßbare Zukunft, selbst wenn ich sie in die Vergangenheit verlege als Erfindung, als Hirngespinst, langweilt mein Leben mich nicht – als Hirngespinst […]

Das Schreiben versucht, diffusiv Verwirrung zu stiften und Erinnerungen aufzulösen, statt es wie in konventioneller Literatur für die Nachwelt aufzubewahren. Konsequenterweise lassen sich die Handlungsfäden auch nicht zusammenreimen. Sie stehen für sich,  bleiben einzelne Facetten. Kleine Episoden. Erinnerungsatome. An keinem Punkt hält sich der Erzähler an seine eigenen Vorgaben. Er verstößt gegen sie alle Nase nach. Er verabschiedet Enderlin gegen Mitte des Romanes, nur um ihn am Ende wieder zurückzuholen. Er liest die Briefe von Lilas Geliebten zuerst nicht, zerstört sie, zerstört sie nicht, und liest sie später dann doch. Er improvisiert auf der Klaviatur der Ereignisse, aber atonal. Nur er, wenn überhaupt, kennt seine Tonleiter. Die Lesenden in jedem Fall nicht. Raum und Zeit, Figuren und Gespräche, Handlungsabläufe finden nicht zusammen und sollen auch nicht zusammenfinden. Mein Name sei Gantenbein führt eine Kakophonie der Selbstfindung auf, die an der eigenen Inkohärenz zugrunde geht. Seine Eifersucht will es nicht anders, die Roland Barthes in Fragmente einer Sprache der Liebe wie folgt schreibt:

Als Eifersüchtiger leide ich vierfach: weil ich eifersüchtig bin, weil ich mir meine Eifersucht zum Vorwurf mache, weil ich fürchte, dass meine Eifersucht den Anderen verletzt, weil ich mich von einer Banalität knechten lasse; ich leide darunter, ausgeschlossen zu sein, aggressiv zu sein, verrückt zu sein  und gewöhnlich zu sein.

Roland Barthes aus: „Fragmente einer Sprache der Liebe“

In Mein Name sei Gantenbein erweist sich die Vierteilung als Gantenbein, Enderlin, Svoboda und der Ich-Erzähler selbst: Gantenbein, der eifersüchtig ist; Enderlin, der unter der Banalität der Eifersucht leidet; Svoboda, der sich die Eifersucht zum Vorwurf macht; und der unbenannte Ich-Erzähler, der den anderen mit seiner Eifersucht nicht zu schaden versucht. Die Inkohärenz bleibt jedoch bestehen und wird zum Stilmittel erhoben. Das Gesehene muss verheimlicht werden, aber auf Dauer dringt es ans Tageslicht. Das Gehörte und Gelesene lassen sich nicht vergessen und treiben in den Gesprächen ihr Unwesen. Die Untreue bestand nämlich bereits im Wissen-Wollen, im Nicht-Vertrauen, in der durch den Vertrauensbruch entstandenen Distanz, wie Marcel Proust im Band Die Gefangene aus seinem Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit schreibt:

Der beunruhigende Satz [der der Untreue Bezichtigten] dagegen liegt in der Vergangenheit und wurde nur durch einen vagen Hörvorgang aufgenommen, den wir aus eigenem Vermögen nicht erneuern können […] und das einzige Heilmittel – das wir aber ablehnen – würde darin bestehen, gar nichts zu wissen, damit in uns nicht der Wunsch aufkommt, mehr wissen zu wollen. Sobald die Eifersucht erkannt ist, wird sie von der, auf die sie sich bezieht, als ein Mißtrauen ausgelegt, das zur Täuschung berechtigt. Im übrigen haben wir bei dem Versuch, etwas zu erfahren, mit dem Lügen und Täuschen selbst den Anfang gemacht.

Marcel Proust aus: „Die Gefangene“

Die Komposition gelingt bei Proust durch diesen Dreh- und Angelpunkt eines verbindlich Berichtenden, der gerade bei Mein Name sei Gantenbein fehlt. Frischs Roman liest sich deshalb nicht als abgeschlossenes Werk. Ob eine Figur mehr oder weniger, spielt keine große Rolle. Ob es weitere Nebenbuhler Lilas gibt, auch nicht. Noch, wo die Situation spielt, zu welcher Zeit, in welchem Land. Die Episoden ließen sich endlos fortsetzen, da die innere Spannung einzig von der Verdachtshermeneutik des Ich-Erzählers erzeugt wird. Vor diesem Hintergrund erscheint Frischs janusköpfiger Roman beinahe zu kurz, da die rekursiv unendliche Schleife wenig Nahrung bekommt, um ihr pathologisches und dämonisches Potential zu entfalten. Er zählt nur knapp dreihundert Seiten und wird deshalb umfänglich gesehen diesen Beliebigkeitsszenarien nicht gerecht, in der die Reihung mehr ins Gewicht fällt als die Komposition.

Max Frischs Roman stellt in der a-kompositorischen Darstellung von Eifersucht jedoch keine Ausnahme dar. Alain Robbe-Grillet in Die Jalousie oder Michel Butor in Paris-Rom oder Die Modifikation bleiben die Erzähler ebenfalls hinter den Gardinen, auf der Flucht, in jenem unnahbaren Zwischenraum, der kein Jetzt, Davor, Danach kennt und in welchem sie jeder Verbindlichkeit und Nachvollziehbarkeit aus dem Wege gehen können. Sie sind Jäger wie Gejagte zugleich, stürzen von einen Selbstwiderspruch in den nächsten und suchen Rettung in der Unterdrückung der Proustschen memoire involuntaire, nur um ihnen noch gründlicher und ungebremster zum Opfer zu fallen wie Léon Delmont in Die Modifikation:

Ich muss meine Gedanken zügeln, ich muss mich sammeln, ich muss mich wieder fassen, um alle die Bilder abzuweisen, die mich überfallen. Aber schon ist es zu spät. Durch diese Reise [von Paris nach Rom] noch gefestigt, rollen die Gedankenketten ab in der sicheren Bewegung des Zuges, und trotz der Anstrengung, die du machst, um dich von ihnen zu befreien und deine Aufmerksamkeit an etwas anderes zu klammern, sie auf die Entscheidung lenken, die du unter deinen Händen zerrinnen fühlst, sind sie da und zerren dich mit unwiderstehlicher Gewalt in ihr Räderwerk.

Michel Butor aus: „Paris-Rom oder Die Modifikation“

Es ließen sich psycholinguistisch wertvolle Analysen an Frischs Roman Mein Name sei Gantenbein demonstrieren, der auch hier und da in die Du-Perspektive rutscht. Jene Analysen gelängen aber nur um den Preis, den Roman als Dokument misszuverstehen und ihn nicht als narratives Konstrukt aufzufassen. Als Roman nämlich stellt er sich eine unlösbare, paradoxale Aufgabe, nämlich sich zu erinnern, aber falsch, so falsch, dass selbst das Falsche wie ein Richtiges erscheint. Die Unaufrichtigkeit bleibt in der Selbsttäuschung bestehen und lässt in dieser Konstellation keinen anderen Schluss zu, als den der Ich-Erzähler selbst zieht:

Ein Mann, ein Weib. Erst am andern Morgen, wenn Lila noch schläft oder so tut, als schlafe sie, um ihn nicht aus seinem Traum zu wecken, nimmt Gantenbein schweigsam seine Brille wieder vom Nachttisch, um Lila vor jedem Zweifel zu schützen; erst das Geheimnis, das sie voreinander hüten, macht sie zum Paar.

Die Option, erst gar kein Geheimnis zu vermuten, kommt nicht in Frage oder zur Sprache. Das Misstrauen sitzt zu tief. Wie Proust schreibt, liegt die Saat des Scheiterns bereits in der Unterstellung, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Zweifel, der sich ernstnimmt, lässt sich nicht beruhigen. Was bleibt, ist das Medium des Zweifelns zu bekämpfen, die Sprache. Proust beschreibt dies als den Höhepunkt der Poesie:

Die aus der uns vertrauten Wirklichkeit heraus entwickelte Kunst existiert tatsächlich, und ihr Bereich ist vielleicht der größte. Nichtsdestoweniger kann aus Handlungen, die auf einer Sinnesart beruhen, die allem, was wir selbst empfinden und glauben, derart fernliegt, daß wir sie nicht einmal begreifen können […] zuweilen auch Schönheit entstehen. Was gibt es Poetischeres als Xerxes, den Sohn des Darius, wenn er mit Ruten das Meer peitschen läßt, dem seine Schiffe zum Opfer gefallen sind?

Marcel Proust aus: „Die Gefangene“

Die Peitschen eines Xerxes kümmern das Meer wahrscheinlich so viel, wie das Schreiben Frischs in Mein Name sei Gantenbein die Sprache – nämlich gar nicht. Dennoch bleibt dem Ich-Erzähler nur das Vergehen, Unterlaufen, Abstoppen, um die Sprache der Erinnerung gar nicht erst in Fahrt kommen zu lassen. Er schreibt wortwörtlich mit jedem Satz gegen das Erzählen selbst an. Absatz um Absatz verschieben sich die Perspektiven, wechseln die Namen, gehen die Geschehnisse ineinander über, wechseln die Berufe, die Autobiographien, die Wohnungen, geben die Liebhaber und Liebhaberinnen sich die Tür in die Hand, werden Erzählfäden aufgenommen, abgebrochen, verwickelt, verknotet, bis irgendwann nur noch eines gewiss ist: Es gibt kein Entkommen.

Das Spiel mit der Blindenbrille und mit dem schwarzen Stöcklein am Randstein und mit der Armbinde, die jedesmal, wenn Gantenbein ausgeht, sich gerade am Ärmel eines anderen Anzugs befindet, so daß er nochmals zurückgehen muß, ist nachgerade langweilig, finde ich auch; ich würde es verstehen, wenn Gantenbein plötzlich seine Rolle aufgäbe, und ich frage mich insbesondere, wie Lila es aufnehmen würde, wenn Gantenbein eines Abends gestände, daß er sieht. Die Versuchung wird immer größer.
Wozu die Verstellerei?

Das fragte sich Max Frisch am Ende wohl auch selbst und rührte danach eine solche Erzählfigur nie wieder, in keinem seiner Bücher, Romane, Kurztexte oder Dramen an. Die Versöhnung findet elf Jahre später mit der Veröffentlichung von Montauk statt. Ein Ich-Erzähler, ein Leben, ein Versuch, über sich klarzuwerden, und so schreibt er dort, als direkte Antwort auf seinen eigenen Roman:

Ich möchte diesen Tag beschreiben, nichts als diesen Tag, unser Wochenende und wie’s dazu gekommen ist, wie es weiter verläuft. Ich möchte erzählen können, ohne irgend etwas dabei zu erfinden. Eine einfältige Erzähler-Position.

Max Frisch aus: „Montauk“

Gerade die einfältige Erzähler-Position erlaubt viel mehr zu erzählen als das Multiversum von Mein Name sei Gantenbein, wo so viel passiert, dass eigentlich nichts passiert. Diese Konstellation erinnert an Anna Seghers zugesprochenem Satz, dass etwa fünfzehn Jahre Distanz nötig seien, um von einem wichtigen Ereignis erzählen zu können. Nimmt man das Veröffentlichungsjahr von Montauk und zählt etwa 15 Jahre zurück, so schreibt man das Jahr 1959, das Jahr, in welchem sich Max Frisch offiziell von seiner Frau scheiden ließ und mit Ingeborg Bachmann zusammenzog, aber das ist sicherlich auch nur ein Zufall.

6 Antworten auf „Max Frisch: „Mein Name sei Gantenbein““

  1. Deine „Gantenbein“-Besprechung setzt Erinnerungen an eine alte Lektüre frei. Zu der ich doch mal wieder greifen sollte. Interessant: Max Frisch begegnet mir in deinem Text gleich zum zweiten Mal im dieser Woche. Zum ersten mal in einem Radio-Essay von Yannic Han Biao Federer, der sich zum Thema „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“ mit Frischs „Montauk“ beschäftigt hat – den Roman sprichst du ja auch an. Vielen Dank also für deinen schönen „Gantenbein“-Text.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Vielen Dank für deinen Kommentar. Ja, ich glaube, dass die Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Bachmann und Frisch in der Luft liegt – war mir auch nicht so klar, aber im Herbst ist es im Suhrkamp Verlag soweit. Ich habe mich zeitlebens mit den beiden beschäftigt. Die letzte Frisch-Lektüre liegt bei mir mehrere Jahrzehnte zurück und ich muss sagen, es hat mir wieder sehr viel Motivation und Freude bereitet, weiterzulesen. Ich schaue mal in diesen Radio-Essay.

      Im übrigen habe ich vor, Montauk in Zusammenhang mit den Roman von Frischts Tochter Ursula Priess „Sturz durch alle Spiegel“ zu besprechen. Ich hoffe, ich komme demnächst dazu. Viele Grüße!!

  2. Er war mir unterwegs ein wenig verloren gegangen, der Max Frisch, obwohl er mir in der Jugend ein wichtiger Begleiter und Welterklärer war – gerade indem er nicht erklärte, durch Fragen untergraben konnte, was mir damals selbstverständlich schien. Die Brüchigkeit der Gewissheiten aus seinen Tagebüchern ist mir geblieben.
    Erst in der intensiveren Beschäftigung mit Ingeborg Bachmann vor zehn Jahren begegnete er mir wieder, aber als ein ganz anderer, durch die Augen von Bachmanns Biografinnen.
    Nun ist vielleicht die Zeit gekommen, den Kreis zu schließen; dein Lesebericht ist mir dazu Motivation, danke.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Ich habe heute das Buch von seiner Tochter gelesen, und dort schreibt sie auch einiges über Ingeborg Bachmann. Ich kann das Buch sehr empfehlen. Sehr freundlich. Sehr literarisch. Kein bisschen reißerisch. Bin gespannt, was du dazu berichtest, oder von anderen Lektüren. Ich arbeite mich da auch gerade durch und weiß nicht, wie es dazu gekommen ist. Beide Frisch wie Bachmann haben mich immer sehr inspiriert, auf ihre jeweilige, sehr eigene Weise. Ich kann dem, was du über Frisch schreibst, nur zuzustimmen. Mir geht es genau! Einen fröhlichen Restsonntag wünsche ich!

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