Christoph Hein: „Unterm Staub der Zeit“

Unterm Staub der Zeit
Unbewusstes Geschichtserleben … Spiegel Belletristik-Bestseller (April 2023)

Wie in jeder Hinsicht so gibt es auch in Bezug auf Geschichte eine direkte, aggressive Art, sich mit ihr zu befassen, oder Abstufung des Indirekten, bis hin zum sanften Aufmerken. Aggressive Sorten der DDR-Aufarbeitung suchen die Konfrontation wie Anne Rabe in Die Möglichkeit von Glück, Hari Kunzru in Red Pill oder Bettina Wilpert in Herumtreiberinnen. Eine Mittelstellung nimmt Helga Schubert beispielsweise in Vom Aufstehen oder Der heutige Tag ein. Jenny Erpenbecks Kairos oder Christoph Heins Unterm Staub der Zeit gehört einer sehr langsamen, zarten Vergangenheitsaufarbeitung an und steht in der gegenwärtigen Literaturlandschaft als Antipode von Uwe Tellkamps Der Schlaf in den Uhren gegenüer. Im Gegensatz zu diesem fällt Hein die Grenzziehung schwer:

Unsinn, Bert. [Die Abriegelung von Ost-Berlin, von der] der Kerl im Radio erzählt, das geht gar nicht. In Berlin gibt es hundert Straßen, die von Ost nach West und von West nach Ost führen. Selbst wenn sie die alle sperren, dann gibt es noch unterirdisch die U-Bahn und alle möglichen Kanäle. Dann ist da die Spree, ich brauche nur in einer mondlosen Nacht zweihundert Meter zu schwimmen und bin in Westberlin. Da können sie nichts machen. Und außerdem ist da noch die Grüne Grenze, das sind Hunderte Kilometer, die können sie ja nicht mit Stacheldraht verrammeln. Hunderte von Kilometern, nein, da wird es immer genügend Stellen geben, wo man bei Tag und Nacht rüberspazieren kann.

Christoph Hein aus: “Unterm Staub der Zeit”
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