
Der Roman von Alena Schröder erlaubt von Anfang an mehrere, völlig verschiedene Lesarten. Einerseits siedelt er sich im Themenbereich Aufarbeitung der bundesdeutschen Nationalsozialismus-Vergangenheit an. Andererseits beleuchtet er die Frauen-Emanzipationsprozesse von Anfang der 1920er Jahre bis zur Gegenwart mittels der vier, die Erzählung tragende Frauengestalten. Man kann den Roman selbstredend darüber hinaus als Kriminalgeschichte lesen oder als Selbstfindungsprozess einer jungen Germanistikdoktorandin innerhalb einer komplexen Familienvergangenheit voller verpasster Chancen, Scham, voller nachtragender Schuld und Traurigkeit.
Den Roman als Beitrag zur Aufarbeitung des von den Deutschen begangenen Völkermordes an den Juden zu betrachten, verbaut einen viel produktiveren Blick. Als politischer Roman hat man es nämlich mit einem kaum entwirrbaren Knäuel an Selbst- und Fremdhass zu tun – die offensichtlich versuchte Parteinahme geht sich selbst in die Falle, sobald Details und Klischees beliebte, tradierte, revanchistische Bilder bedienen (reiche jüdische Kunsthändler im Konflikt mit armen, kriegsversehrten Landbewohnern in Mecklenburg-Vorpommern; zerfetzte deutsche Soldaten an der Küste gegen geflohene, unversehrte jüdische Großstadtbürger in Brasilien). In vielen Passagen entlarvt sich also sein pseudo-solidarischer Blick unfreiwillig in das Gegenteil, so dass man von dieser Warte aus dem Text nicht gerecht werden kann, der lediglich ablenken möchte und auf das heilsame Vergehen der Zeit hofft:
Sie hörte sich selber zu, wie sie vor lauter Befangenheit auf ihre Tochter einflötete, um der Fremdheit keinen Raum zu geben, die zwischen ihnen herrschte.
Aber es wollten einfach keine Tränen kommen. Nichts als ein Ächzen, eine Art trockenes Schluchzen, das dann allein im Raum hing, bis endlich die Uhren die volle Stunde schlugen. Zeit, die vergeht: immer noch Evelyns größter Trost. Es ging schon wieder.
Alena Schröder
Interessanter wird der Roman als Nacherzählung, Figuration der Frauen-Emanzipationsbewegungen im 20. Jahrhundert mittels der vier zentralen Frauengestalten: Senta, Evelyn, Silvia und Hannah. Aus dieser Perspektive heraus betrachtet entfaltet sich ein verwirrendes, aber konsistentes Bild, für das der Holocaust und die Enteignung der deutschen Juden lediglich den ersetzbaren Rahmen ohne inhaltlich belastbare Verknüpfungen liefert. Die Geschichte hätte also auch in Großbritannien, den USA, oder in Spanien ohne Tiefenverlust erzählt werden können.
Reißt man sich also von diesem konkreten und politisch schlecht gewählten Hintergrund los, werden die vier Wellen des Feminismus durchgespielt und miteinander in Verbindung gebracht. Senta, die junge Rebellin, die keine Mutter/Hausfrau sein möchte und nach Berlin zieht (1. Welle: Frauen treten in die Öffentlichkeit); Evelyn, die erfolgreiche Ärztin, die berufliche Gleichstellung mit ihrem Mann anstrebt (2. Welle: Gleichstellung im Beruf); Silvia, die in Schamanentum, alternativen, naturverbundenen Lebensformen in Kreuzberg, halb Hippie, halb Feministin aufgeht (3. Welle: Vernetzter, inklusiver Feminismus); und zuletzt Hannah, die eigenständige Eigenbrötlerin, die mit ihrem Doktorvater schläft und von Politik nichts wissen will (4. Welle: Entpolitisierung):
Dass das alles wirklich total verkorkst war. Diese Beziehung [mit ihrem Doktorvater], ihre [Hannahs] nicht vorhandenen Zukunftspläne, ihre Promotion. Ihr ganzes Leben. Die Tatsache, dass sie seit vier Tagen überfällig war. Die Vergeblichkeit ihrer Suche nach einer Familiengeschichte, nach einem Gefühl von Verbundenheit mit toten Vorfahren, nach gestohlenen Bildern, die vielleicht niemals auftauchen würden. Das alles war in Wahrheit nur eine Ablenkung von dieser großen Leere, die sie manchmal fühlte und die nun hier in Rubis altem Twingo nicht ganz so groß und allumfassend schien.
Alena Schröder
Am Ende nämlich ist „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ ein Schnappschuss aus der Gegenwart, in der mögliche Zukunft und schmerzvolle Vergangenheit sich verbinden und um Gleichberechtigung kämpfen. In gefühlsgeladenen Passagen entladen sich Schmerz, Entfremdung, ein ungelöster Knoten der Fremd- und Selbstwahrnehmung, bis nichts mehr verständlich ist, alles nur noch schmerzt, jede Hoffnung verpufft und Leere und Kälte und Distanziertheit zum Leben sich aufdrängen:
Es war okay, hier zu stehen. Es war sogar so okay, dass sie nach Evelyns Hand griff und ihre Großmutter von der Seite ansah, wie sie da auf das Grab ihrer Tochter schaute, als handelte es sich um eine Petrischale, in der sich eine besonders ungewöhnliche Bakterienkultur unkontrolliert vermehrt hatte.
Alena Schröder
Die Brutalität, die Frauen in ihrem Leben erfahren, wird angedeutet, nicht ausgeschlachtet. Eine eigenartige Beklommenheit bricht sich bahn, Sprachlosigkeit, Verlorenheit, der Narben und den Wunden auf die Schliche zu kommen, unendlich entfernt, verschwommen, hilflos in der Kommunikation, in den Wünschen und Hoffnungen, die keinen Traum mehr zu finden wagen, nicht mehr in der Lage sind, an eine Utopie zu glauben, geschweige denn sie auszumalen. Das traurige Gützkow in Vorpommern-Greifswald schwebt wie ein Damokles-Schwert über den Häuptern der um ein selbständiges Leben ringenden Frauen. Die Poesie, die sich um diesen unsichtbaren Mittelpunkt des Romans entspinnt, besticht durch zerbrechliche Vorsicht und Nachsicht, fast ängstlich, zu bescheiden, scheinbar zu viele Angriffe gewohnt, als dass eine Anklage erhoben werden dürfte. So weit ist es gekommen. Der Roman will verzeihen, kann aber nicht, weil er sich den wahren Tätern nicht stellt, den Männern in den Leben der Frauen, die kaum beschrieben werden, oder den Deutschen, die die NSDAP gewählt haben. Und hier schließt sich der Kreis zur verpassten Chance, eine grausame Vergangenheit aufzuarbeiten, lieber einfach benennen als die Verständnisvolle mimen:
Scheiß Männer! Würde die gern verbieten manchmal«, sagte das Glitzermädchen, nachdem Hannah vom Barhocker gerutscht und ihr in Richtung Tanzfläche gefolgt war.
Alena Schröder
Eine Achterfahrt der Traurigkeit, des sinnlosen Leidens, der unnötig zugeführten Schmerzen, der verängstigten Träume und Hoffnungen, die doch einmal, meist nur in frühester Kindheit oder Jugend klar zu Tage treten durften:
Evelyn war glücklich an diesem Spätsommertag, denn sie hatte ein Geheimnis und sie hatte ein Kaninchen. Das Geheimnis war dunkel, verboten und aus der Erwachsenenwelt, das Kaninchen war weiß mit schwarzen Flecken und würde in diesem Herbst nicht geschlachtet werden.
[…] sie würde so schnell wie möglich Arbeit finden müssen, das war klar. Aber dann würde sie Geld nach Hause schicken. Und jeden Tag nach der Arbeit im Café sitzen, endlich auch einen dieser modischen Hüte kaufen und so viel rauchen, wie es ihr passte
Alena Schröder
Schröders Roman ist ein harter Brocken, der auf einen weiteren Versuch, einen entschiedeneren, klareren hoffen lässt. Er liest sich beinahe zu schnell, zu gefällig, als wolle er über die Untiefen, leidvollen Lücken hinwegtäuschen. In ihnen aber blüht der Text geheimnisvoll in aller Traurigkeit auf, in diesen Momenten, in denen das Berlin der Zwanziger Jahre voller Hoffnung vor einem steht, rotgolden, wie von Gustav Klimt gemalt in „Adele Bloch-Bauer I“ ein einziger Aufbruch in eine neue, freie Zeit zwischen Kostümbällen, freien Journalismus, zwischen Dandytum und Entrepreneurwesen, Horizonte öffnend, Schranken überwindend, als für einen kurzen Moment mitten in Europa alles möglich zu sein schien, bevor jäh der Traum wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel und nur Schmerz übriggelassen hat. Hier besitzt Schröders Text eine Dichte und unschuldige Hoffnung, die an Erich Kästners Berlin in „Pünktchen und Anton“ und „Emil und die Detektive“ erinnert und nicht daran, was die Protagonistin am Ende fühlt:
Das war’s dann also, dachte Senta. Mach’s gut, Berlin, du glitzerndes, stinkendes, alles und jeden verschlingendes, schrecklich-schönes Monster. Es war lange gut in deinem Bauch, aber jetzt spuck mich aus. Lass mich gehen. Wir sind fertig miteinander.
Alena Schröder
Nur, und dafür der Roman als Beweis, fertig wird man halt nie.
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