Benedict Wells: “Hard Land”

Auf der Suche nach dem eigenen Selbst. (Spiegel Belletristik-Bestseller 11/2021)

Im Roman „Hard Land“ von Benedict Wells durchlebt ein Jugendlicher die Höhen und Tiefen des jungen Erwachsenenlebens. Auf dem Programm stehen der erste Kuss, Sex, Probleme mit den Eltern und tragische Verluste, nicht nur der Kindheit, auch der Unschuld, Mutproben und Spiele, Sehnsüchte und das Rätsel um den Gedichtband eines Kleinstadthelden, die 49 Geheimnisse, die auf die 49 Kapitel des Buches verweisen und klar das Buch im Buch nacherzählen, einem Möbiusband gleich. Wie dieses mathematisch unorientierbar sich entfaltet und kein Ende findet so auch die Erzählung, die den Sinn in einer Rahmenwirkung zu bannen versucht, ohne ihn jedoch preisgeben zu können. Sinn nämlich gibt es nicht mehr. Sinn ist die ungestillte Sehnsucht, der geheime und fehlende Protagonist des Romans.

„Aber was, wenn auch das [sein Ich nicht zu kennen] falsch war? Wenn das wahre Ich eben nicht die eigenen Gedanken, Gefühle und inneren Stimmen war, sondern etwas dahinter, das man nur erahnen, aber nie ganz erwischen konnte?“

Benedict Wells

Verloren zwischen den kulturindustriellen Konsumptionen repetiert der Ich-Erzähler sein Leben in den Metaphern, Bildern, Allegorien der Popkultur. Seine besten Freunde entstammen holzschnittartig einer jeden Teenie-Serie: Hightower, der schwarze angehende Football-Star, Cameron, der Sohn reicher Eltern, Kirstie, die freizügige Lebenskünstlerin, er, der Ich-Erzähler, als sentimentaler, schüchterner Held, der sich nichts mehr wünscht, als irgendwo dazugehören, einen Transformer in der Werkstatt zu finden, um der Welt rettende Held zu werden.

„Ich musste auf einmal lachen und sprang auf die Bank an der Bushaltestelle. Mein Leben lang hatte ich mir so einen Abend gewünscht; mich danach gesehnt, zu einer Gruppe dazuzugehören.“

Benedict Wells

Zwischen jedem Absatz, Satz, zwischen jedem Wort gähnt die Angst vor der eigenen inneren Leere, gähnt das Verloren-Sein im eigenen Gefühl, heimatlos in der eigenen Heimat, unwohl in der eigenen Haut, sehnsüchtig ohne Sehnsucht, eine Romantik, die sogar die blaue drogeninduzierte Blume Novalis verloren hat. Zwischen Bruce Springsteen und Billy Idol gefangen fühlt sich der Ich-Erzähler als Marty McFly aus Zurück in die Zukunft, um interessant genug zu sein, von Kirstie gesehen, geküsst, ja, mittelhochdeutsch erkannt zu werden. Es hilft aber nichts. Die Unsicherheit ist zu groß. Sie ist übermenschlich.

„Daran dachte ich, und da vermisste ich sie so sehr, dass ich vermutlich nie die richtigen Worte dafür haben werde. Denn inzwischen glaube ich, dass es sie gar nicht gibt.“

Benedict Wells

Verstörende Metaphern illustrieren ein dezentriertes Selbst, das so entfremdet von sich ist, dass jede Distanz Hohn auf den Verlust spricht. Sprache genügt nicht mehr und so bleiben zerbrochene Splitter als Idee einer für den Ich-Erzähler unmöglichen Literatur übrig:

„Doch es ist ein hartes Land, und es wird dir alles abverlangen. Du wirst alt werden und deine Gedanken werden an Kraft verlieren. Bis sie vom Horizont zurückprallen wie von einer gläsernen Wand. (…) Befreie dich, tapferer Mensch.“

„Der Horizont war mir immer wie das Ende der Welt vorgekommen. Nun spürte ich, dass mir dieser Blick eines Tages nicht mehr weit genug sein würde.“

„Wenn es [das Sterben] also wirklich sein soll, wäre es am besten, wenn es schnell ginge. Wie ein Sprung in die Tiefe ohne Aufprall.“

Benedict Wells

Benedict Wells Roman öffnet den Blick auf eine zerstörte Innenwelt, ein leeres Fabrikgemäuer, dem die Grammatik unter der Last des Denkens zerbricht, ein Gebälk, das nicht mehr trägt, von einem Sinn radebricht, der Angst vor Bedeutung besitzt und versucht sich in bereitgestellte kulturindustrielle Floskeln zu retten, dort jedoch wiederum nur die eigene Leere wiederfindet. Zwischen den Popikonen, James Dean, zwischen den Sängern wie Billy Idol und Michael Jackson, sein Beat it, oder Dancing with myself, den Filmen, Bildern einer nie begonnenen Jugend kann nicht beginnen, was erst werden möchte, und was bleibt ist ein einzig konsequent vorgetragenes Unbehagen:

„Das Unbehagen ist eine Folge der Entpersönlichung und der Unsicherheit im modernen Dasein. Der Einzelne empfindet meist nur unklar, dass etwas nicht stimmt, ohne sich Rechenschaft abgeben zu können. Mehr noch: er hat das Gefühl, keineswegs über die Kraft zu verfügen, etwas zu ändern, selbst wenn er wüsste, wo die Ursachen stecken.“

Theodor W. Adorno aus: Der Autoritäre Charakter

Alles, was geschieht, ereignet sich ohne Zutun, Stürme und Winde einer künstlich gewordenen Natur umbrausen das Geschehen.

„Die Lichter der Stadt glommen zu uns herauf, wir hörten den Straßenlärm unter uns, und mein Herz war noch immer ein Drumset, auf das jemand wie verrückt einhämmerte.“

„Ein paar vertäute Ruderboote malten ihr Spiegelbild auf das Wasser, in der Ferne die Bleistiftzeichnungen der Ozark Mountains.“

„Nebel hatte sich wie ein silbriges Tuch auf die Wiesen gelegt, hinter den Bergen war ein erster Saum von Sonnenlicht zu sehen.“

Benedict Wells

Der Horror liegt im unscheinbaren Nahen. Die Hoffnung, beim nächsten und immer wieder nächsten und darauffolgenden Satz erlöst zu werden, die Sehnsucht einen Zipfel Lebendigkeit zu erhaschen, das Glück, seiner selbst innewerden zu können, zu erleben, schwindet von Kapitel zu Kapitel. Alles, was bleibt, ist Staub auf Regalen, verblichene Poster aus Magazinen, Fragmente von Filmen und Zitaten aus angelesenen Büchern, denn nur die jeweils ersten Sätze werden zitiert. Die Geste von „Hard Land“ ist erbarmungslos. Alles ist zersplittert. Nichts ist geblieben. Jeder Satz zementiert die sprichwörtliche Zerstörung des Menschen auf ein erfülltes Leben und Dasein, auf ein Verstanden- und Gehörtwerden, selbst in Momenten höchster Intimität zwischen Liebenden:

„Sie konnte mir so ähnlich sein, und sie war das Gegenteil von mir, und wenn meine Stimmung eine leere Fabrikhalle war, dann war sie ein Haufen Kerzen.“

Benedict Wells

Im Rhythmus und Sehnen aus dem Meat Loaf Song „Objects in the rear view mirror appear closer than they are“ entlehnt:

“[…] But it was long ago and it was far away
Oh God it seems so very far
And if life is just a highway
Then the soul is just a car […]“

Meat Loaf

So dass selbst der Kuss, das Berühren im Klischee zersetzt wird und zur Unsicherheit einer ferngerückten Gegenwart zerrinnt.

„Ich stellte mir vor, dass das eigene Ich aus vielen Puppen bestand, aus mutigen und ängstlichen und stillen und lauten, und überall hingen Fäden. Doch man konnte nie sehen, wer sie in der Hand hielt. Wer der innere Puppenspieler war.“

Benedict Wells

Immanuel Kant hatte einst die Hoffnung, dass es ein Ich gibt, das alle seine Gedanken begleitet, eine Konsistenz, die sich ihrer selbst sicher sein kann, die insofern sich ermächtigt und ermächtigen kann, die selbstauferlegte Unmündigkeit abzustreifen. Diese Hoffnung ist verloren gegangen, vielleicht weil Selbstgewissheit, Selbsttransparenz mit kulturellen Selbstbildern in Konflikt geraten können und im Spiegelbild nichts als Verzweiflung bleibt. Kant erahnte etwas davon, als er sich vorstellte, was passiert, wenn der einzelne sich selbst auf die Schliche kommt

 „In der Tat: wären die Handlungen des Menschen, so wie sie zu seinen Bestimmungen in der Zeit gehören, nicht bloße Bestimmungen desselben als Erscheinung, sondern als Dinges an sich selbst, so würde die Freiheit nicht zu retten sein. Der Mensch wäre Marionette, oder ein Vaucansonsches Automat, gezimmert und aufgezogen von dem obersten Meister aller Kunstwerke, und das Selbstbewußtsein würde es zwar zu einem denkenden Automate machen, in welchem aber das Bewußtsein seiner Spontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten wird, bloße Täuschung wäre, indem sie nur komparativ so genannt zu werden verdient, weil die nächsten bestimmenden Ursachen seiner Bewegung, und eine lange Reihe derselben zu ihren bestimmenden Ursachen hinauf, zwar innerlich sind, die letzte und höchste aber doch gänzlich in einer fremden Hand angetroffen wird.“

Benedict Wells ist es auf eindrucksvolle Weise gelungen, ein Dokument dieser Selbstentfremdung vorzulegen.

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