
Coming-of-Age Romane erfreuen sich stets großer Beliebtheit. Das Erwachsenwerden bildet ein noch immer universell verbindendes Thema in einer zunehmend hochspezialisierten Welt. Trotz oder gerade wegen der hohen Komplexität und Verschiedenheit der Lebensumstände eignet sich der Übergang von der Jugend in die Mündigkeit, von der Abhängigkeit in die Unabhängigkeit stets aufs Neue, um das Weltganze in seiner unmittelbaren Gesamtheit zu beleuchten und auf seinen Sinn hin zu befragen. „Die Aufdrängung“ von Ariane Koch reiht sich in diesem Sinne nahtlos in die Reihe der anderen Coming-of-Age Romane des Jahres, besitzt aber eine äußerst eigentümliche, beinahe bizarre Note und steht völlig für sich.
In anderen Coming-of-Age Romane wird beispielsweise intensiv das Verhältnis Eltern-Kind oder jenes der Geschwister untereinander thematisiert wie in Edgar Selges „Hast du uns endlich gefunden“; oder es wird der brutale Eingriff und Übergriff beschrieben, der das Ende der Kindheit und Unschuld markiert, nämlich den Traum, die Welt könnte es gut mit einem meinen wie in „Die blaue Frau“ von Antje Rávik Strubel oder „Das Ministerium der Träume“ von Hengameh Yaghoobifarah. Völlig in Verspieltheit und den Reminiszenzen der ersten Liebe verbunden verbleibt Benedict Wells „Hard Land“ und gruselig-phantastisch beschreibt Stephen King in „Später“, wie eine Mutter-Sohn-Beziehung freundschaftlich und solidarisch trotz harter sozialer, psychischer und finanzieller Belastungen bleibt. „Die Fremde“ von Claudia Durastanti ist ob ihrer Eigenwilligkeit und Verrücktheit noch am ehesten Ariane Kochs „Die Aufdrängung“ ähnlich, aber Durastantis Werk strotzt vor Verspieltheit und Eigenwilligkeit, direkte laute und draufgängerischer Selbstbehauptung, die zu der Protagonistin in „Die Aufdrängung“ nicht so richtig passt.
So klicke ich mich durch die laurenzschen Statuen, bis ich auf die einzige Fotografie stoße, auf der kein Mensch zu sehen ist: Sie zeigt – leicht verschwommen, die Szenerie durch den Blitz unheimlich erhellt – einen Teller voller essbarer Pinguine, die sich wie als Cadavre Exquis aus Karotten (Füße und Nase), Crème fraîche (Bauch) und Oliven (Arme und Kopf) zusammensetzen und vielleicht durch einen Zahnstocher vertikal zusammengehalten sind. Niemand hat das Bild kommentiert oder gelikt.
Ariane Koch aus: “Die Aufdrängung”
Ariane Kochs Roman stellt sich eher in die Gemengelange eines Max Frisch mit seinem „Stiller“ und “Der Mensch erscheint im Holozän”, oder Ingomar von Kieseritzky mit „Obsession – Ein Liebesfall“, spielt mit dem Humor eines Hans-Ulrich Treichels in „Tristanakkord“ und dem Wortwitz von Thomas Bernhards Autobiographie „Die Ursache – Der Atem – Der Keller“ und doch unterläuft sie diese Beispiele mit einem eigenen und sehr symbolistischen, surrealistischen Stil, in welchem der Gast, der Fremde zur Synekdoche der eigenen Existenz wirkt. So richtigen Inhalt gibt es nämlich nicht.
Ich vergesse zuweilen, dass es ein Draußen gibt, das sich ans Haus schmiegt und gerne Beachtung hätte. Für mich gibt es nur noch ein Drinnen, und in dem Drinnen gibt es nur noch den Gast, der einmal so klein und handlich war und dessen Extremitäten nun so groß sind, dass sie alle zehn Zimmer meines Hauses ausfüllen. Er ist so schnell gewachsen, dass er längst den Kopf einziehen muss, wenn er durch den Türrahmen tritt, und auch sonst stolpere ich ständig über eines seiner Körperteile.
In „Die Aufdrängung“ geht es um eine junge Frau, die in einem kleinen Örtchen, halb Dorf, halb Stadt am Fuße eines riesigen Berges, vor sich hin lebt. Sie wohnt noch im Haus ihrer Jugend, obwohl alle anderen ausgeflogen sind, die Geschwister sowie die Eltern. Sie haust im wahrsten Sinne des Wortes allein, geplagt von Blicken ihrer Mitmenschen, von den Gedanken, von den Ausreden, die sie vor sich hinmurmelt. Sie hadert mit sich, endlich aufzubrechen, auf dass sie das Fürchten lernt. Der innere Monolog pendelt zwischen Mut und Ignoranz, Verzweiflung und Untersagung, zwischen Ordnung und Chaos. Sie möchte sich dem Fremden öffnen, dem ganz Anderen, das in Gestalt eines Reisenden in das Dorf bricht, der ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt, weil sie es zulässt und sich darauf einlässt, ohne wirklich zu wissen noch wissen zu wollen worauf.
Seit des Gastes Ankunft sind die Menschen unmutig und die Häuser klein, und durch die Fenster zieht der Wind. Man drückt alle Extremitäten an den Heizkörper und nippt an einem Tee, die Zitronenhäutchen schweben wie Quallen durch die Tasse.
Trotz vieler Metaphern und Analogien wirkt der Stil jedoch zu keinem Zeitpunkt manieriert oder aufgesetzt. Man spürt, die Protagonistin hat etwas zu sagen. Sie weiß nur noch nicht was. Sie weiß, dass sie etwas will, kann dem Wunsch jedoch noch keine Vorstellung abverlangen. Sie zagt, ohne zu verzagen. In einer eher befremdlichen Umgebung begreift sie, dass sie schon längst vor dem Gast, nicht mehr in ihrem Zuhause zuhause ist. Sie wächst über ihre Umstände hinaus. Ihr Gesichtskreis vergrößert sich, während sich alles um sie herum einengt und verkleinert.
An der Marmortheke sitzend, die Beine übereinandergeschlagen, stellte ich mir vor, in der Kleinstadt wohnten nur winzige Menschen, die mit winzigen Fahrrädern herumfahren würden und aus winzigen Kaffeetassen Ristretti kippen. Auch die Rondellbar könnte ich problemlos in die Hand nehmen, herumdrehen und von allen Seiten betrachten, die am Tresen Sitzenden versuchten, sich kreischend daran festzuhalten, ihre winzigen Getränke wären bereits in die Tiefe gestürzt, als Tröpfchen auf meinen Jeanshosen verteilt. Die nunmehr Hängenden starrten mich mit großen kleinen Augen an, wenn ich das Rondell in der Mitte auseinanderrisse wie einen Donut. Ich stellte mir vor, dass die Kleinstadt immer kleiner würde, auf einen winzigen Punkt zusammenschrumpfen, nur ich bliebe groß, so dass ich keinen Platz mehr darin fände. Dann fiel mir ein, dass dies bereits der Fall war.
Die Protagonistin hat Wut im Bauch. Sie ist verdrossen, fühlt sich gleichermaßen bedrängt, verdrängt, wie herausgefordert. Der Fremde als Gast ist nur der Anlass, sich selbst und ihr eigenes Leben völlig in Frage zu stellen. Sie bemüht sich, wie zuvor, die Welt in eine Ordnung zu bringen, den Gast, das Fremde, zurückzudrängen, zu ignorieren. Doch stattdessen bröckelt und bricht alles um sie herum in sich zusammen. Der Gast feiert Partys. Die Mitmenschen starren. Illusion um Illusion türmen sich um sie herum auf und entlarven ihre eigenen Erinnerungen und Ansichten zunehmend als gleichartige, ebensinnige Setzungen und Konstruktionen. Kommunikation reduziert sich allmählich auf Gesten, auf ahnungslose Versuche, den anderen zu erraten, den anderen zu verstehen. Nichts will gelingen. Das Fremde dringt gewaltsam in den Alltag, und die Protagonistin ergeht sich in Rachegelüsten.
Schon immer hatte ich ein Flair für das Vokabular der Auslöschung des Menschen. Ich denke Innereien eines Mörders, aber ich denke es ohne Zweck. Ich denke an zwei Arten, einen Menschen umzubringen: jemandem schleichend Glasstaub ins Essen zu mischen oder jemandes Geschichte aufzuschreiben, das Leben durch die Notation in Erstarrung zu überführen.
Im Grunde jedoch ist sie zu friedlich, zu freundlich. Selbst mit Vorschriften weiß sie sich nicht zu helfen. Sie will niemandem etwas Böses. Sie leidet nur an ihrer eigenen Unentschlossenheit, an ihrer Trägheit, nicht aufzubrechen, loszureisen, das Leben als Abenteuer anzunehmen und sich dem Unbekannten im Unbekannten zu stellen, statt sich das Unbekannte in das Bekannte zu ziehen, um es dort mit Vorschriften, mit einem Gesetzbuch zu bekämpfen und zu zähmen, ja maßzuregeln zu versuchen.
Ich werde heute damit beginnen, ein Regelwerk zu entwerfen, das möglichst alle Punkte umfasst, die der Gast einzuhalten hat. Es ist somit allen gedient. Das Regelwerk könnte sich beliebig erweitern lassen. Ich stelle es mir als eine Art Heiliges Buch vor, das der Gast neben seinem Bett liegen haben könnte. Wenn er Fragen hat – und ich glaube, er hat viele –, dann könnte er die Antworten darauf im Regelwerk nachschlagen, anstatt mich bei der Arbeit zu stören.
Nur weiß sie, dass der Fremde sie nicht wirklich dabei stört, ihrer Arbeit nachzugehen. Sie hängt zwischen den Seilen in einem Niemandsland, das der Gast entblößt und zur Schau stellt. Ihr eigenes Zuhause wird ihr zu eng und zu klein. Die poetische Reise führt unweigerlich ins Offene, und Ariane Kochs Stil reflektiert dieses Abenteuer mit rhythmischen, irritierenden, abwegigen und ausufernden Ellipsen, Andeutungen, Allegorien und Assoziationen. Sie verfasst eine eigene Form der Wanderjahre in Goethescher Manier, und zwar durch ineinander geschobene Sentenzen einst sinnvoller und gehaltvoller Beschreibungswirklichkeiten, die jedoch im Lesen, noch während der Anschauungsbildung, in sich zusammenfallen und so eine begehrliche Sogwirkung entfalten.
Es ist jetzt nicht der Durst, der mich überkommt und vom Tisch weglockt, sondern es sind die Zweifel über den Wahrheitsgehalt meiner eigenen Paraphrasierungen. Wie aus dem Nichts scheinen Worte in mich hineinzufallen, die ich dann überzeugt, aber unkundig – sagen wir als Power-Point-Karaoke – zum Besten gebe, die sich jedoch zeitweilig so anfühlen, als seien es nicht die meinen.
Die Verdichtung des eigenen Aufbruchswillen gelingt. Der Fremde liest sich als etwas Beliebiges. Er könnte ein anderer Mensch, ein Geliebter, eine Pandemie, ein Wetterumschwung sein. Alles Neue ist fremd und befremdlich, auch bedrohlich, zugleich funktional äquivalent. Viele Stellen, insbesondere die Szenerie, erinnern an Max Frischs „Der Mensch erscheint im Holozän“, ähnlich kurz, mitreißend, verstörend und dichterisch auf den Punkt. Hier wie dort gibt es ein Dorf, ein Berg, Fremde, Nahe, Bekannte, und ein Ich-Erzähler, der sich mit dem Ende auseinandersetzt (des Lebens bei Max Frisch, der Jugend bei Ariane Koch).
Offenbar fallen Hirnzellen aus.
Bedenklicher als der Einsturz einer Trockenmauer wäre ein Riss durchs Gelände, ein vorerst schmaler Riss, handbreit, aber ein Riss –
(So fangen Erdrutsche an, wobei solche Risse lautlos entstehen und sich Wochen lang nicht erweitern oder kaum, bis plötzlich, wenn man nichts erwartet, der ganze Hang unterhalb des Risses rutscht und auch Wälder mit sich reißt und alles, was nicht Grundfels ist.)
Man muss auf alles gefasst sein.
Max Frisch aus: “Der Mensch erscheint im Holozän”
Die Gebirgslandschaft, der nackte Fels, die Materialität, die die Protagonisten bedrängen und bedrücken, heben sie auch empor. Sie ufern aus, wollen nicht bleiben, nicht kleinbei geben.
Noch ist es früh am Tag.
Auch wenn ma im Nebel nicht weiß, wo man sich im Augenblick befindet, in jedem Fall geht es aufwärts, Kehre um Kehre; wichtig ist nur, dass man ohne Hast geht, Schritt vor Schritt, regelmäßig und ohne Hast, damit man nie außer Atem kommt.
Endlich die Ställe – […]
Der Plan ist durchführbar.
Sie trauen sich aus der Sicherheit ins Freie, ins Ungewisse, Neblige, Verschwommene, Herr Geiser wie die Protagonistin in “Die Aufdrängung”. Ariane Koch ein seltsames Kleinod gelungen, das ohne Pathos und viel Aufhebens die Freiheit des Entschlusses, die Freude am Reisen, die Lust am Erfahren und Wagen besingt. Ihr Text besitzt esoterische Züge, die sich aber auflösen, sobald man sich dem Klang, dem Rhythmus, den Assoziationsfluten des Erzählstranges überlässt. Der Roman wuchert über sich hinaus. Hinterlässt trotz seiner Kürze mehr, als viele andere, ohne auch nur an irgendeiner Stelle bemüht zu wirken. Die Protagonistin erhält im mäandernden Lesefluss Gestalt.
Ich schließe meine Rede ab, indem ich kundtue, dass ich auf dem Weg zu meinen Eltern sei, welche mir die Kleinheit doziert und sich anschließend vom Acker gemacht hätten.
Der Roman geht also ein Schritt zurück, um drei Schritte nach vorn zu machen. „Die Aufdrängung“ lehrt die Freude am Lesen und am Fürchten zugleich.
Klingt sehr verwegen. Ich schenke es mir zu Weihnachten.
“Verwegen” ist genau das richtige Wort. Das trifft es. Da sie sich einen Weg aus der Verwirrung sucht, zwischen allen Stühlen sitzt, und doch wunderbar erzählerlisch ihren eigenen Weg geht. Schönes Wort 🙂 Ich habe es mir übrigens auch noch mal gekauft (hatte es nur auf dem Kindle).
Deine Rezensionen lese ich wirklich sehr sehr gern. Sie haben etwas Besonderes, etwas was mich bisher bei jedem Lesen in gespannte Aufmerksamkeit versetzt.
Die Aufdrängung werde ich, ebenso wie Marina Büttner, mir zu Weihnachten schenken. Vielen Dank .
Vielen Dank! Ich versuche mich auf die Bücher voll einzulassen. Gelingt nicht immer, aber bei Ariane Kochs Roman fand ich das Zwischen-und-über-die-Zeilen hinaus kommunizieren leicht. Der ganze Blog ist nur der Versuch, mich der Gegenwartsliteratur endlich wirklich zu öffnen und mich nicht nur immer hinter Virginia Woolf, Hermann Broch, Friedrich Hölderlin, Emily Dickinson und Marcel Proust etc zu verstecken 😀 “Die Aufdrängung” lohnt sich. Vielleicht mein Buch des Jahres (zusammen mit “Klara und die Sonne”, das mich zu Tränen rührte). Es lohnt sich. Ich werde es auch noch ein zweites Mal lesen. Herzliche Adventsgrüße.