
Eva Menasses Roman „Dunkelblum“ handelt von den Ereignissen und Geschichten in einem fiktiven österreichischen Dorf nahe der ungarischen Grenze. Die Lokalisierung des Dorfes zeigt bereits, dass das Dorf zwar fiktiv, aber dennoch in die europäische Realität und Geschichte eingebettet ist. Anhand der Geschicke fiktiver Figuren wird das zwanzigste Jahrhundert Mitteleuropas aufgerollt. Schnittstellen, Schmerzhaftes kommt zur Sprache. Als Romangegenwart wählte Menasse das Jahr 1989, als die ersten DDR-Bürger über die österreichisch-ungarische Grenze fliehen und sich das Ende der DDR anbahnt. Vor diesem Hintergrund werden nun alle Fäden aufgenommen, lässt der Roman noch einmal alles Revue passieren, was gemeinhin als zeitgenössische Geschichte bezeichnet wird. Leicht und überschaubar bleibt dabei nichts.
Gäh-schtotten, Sie sind mir vor-gäh-schwähbt, unterbrach Rehberg und lachte laut. Lowetz sah ihn ratlos an. Einen Moment lang fügten sich die Erfahrungen der letzten Stunden zu einer Kette des Irrsinns zusammen: Ein ängstlicher, tropfnasser Sachse, der über die ungarische Grenze gekommen und nicht dort erschossen, sondern hier verprügelt worden war, eine nach Patschuli riechende Magerfrau, die in der Tankstelle erfolgreich einen Weltkriegshelm stahl, und nun empfing ihn Rehberg, von dem die Leute behaupteten, dass er schwul sei, mit unverständlichen Sätzen vor einem riesigen aufblasbaren Dampfer.
Eva Menasse aus: “Dunkelblum”
Um nur eine Auswahl zu nennen, handelt der Roman von Lowetz, der das Haus seiner verstorbenen Mutter besucht; von Rehberg, der ein Reisebüro führt, seine Homosexualität nur im fernen Zürich ausleben kann, und Privatstudien über die Geschichte Dunkelblums betreibt; von Horka, dem Dorfschläger und Dorfnazi, der zwar gestorben ist, über den aber immer noch alle reden; über den stellvertretenden Bürgermeister Koreny, der den sterbenskranken Heinz Balf vertritt und ein unüberschaubares Geflecht an finanziellen Verstrickungen und politischen Intrigen rund um die Wasserversorgung Dunkelblums zu überblicken versucht; Flocke, die Nachbarin von Lowetz, die ebenfalls Geschichtsaktivistin ist und Jugendlichen bei der Freilegung des örtlichen, völlig zugewucherten jüdischen Friedhofs hilft; von den Reschens, die das Hotel Tüffer übernommen haben, und so weiter …
Wurzeln fressen sich von unten durch, hebeln alles weg, egal, wie schwer es ist. Mit ihren bohrenden Fingern bringen sie die Steine zum Weinen, von ihren unsichtbaren Tränen bersten sie, und die Äste und Blätter von oben tun nur so, als kämen sie zum Trösten.
Bezeichnenderweise fehlt der Stamm in dieser Metapher. Von den Wurzeln schießt es direkt hinauf zum Laubwerk. Der Stamm jedoch hält alles zusammen. Aus ihn heraus wächst die Krone himmelwärts und erdwärts. Ohne Stamm keine Wurzeln und schon gar keine Äste. In „Dunkelblum“ geschieht ähnliches. Erzählstränge wuchern um einander herum, krümmen, verwinkeln, verflechten sich. Kapitel um Kapitel mehren sich die Figuren, potenzieren sich die Geschichten, die Zeiten, die Episoden. Parallelen werden gezogen, Geheimnisse entblößt, angekündigt, Schuldeingeständnisse erzwungen. Die Erzählung sucht die Flucht nach vorn. Beschleunigung. Allumfassende Berichterstattung. Noch in jedes Zimmer und stille Kämmerlein wird aus der Vogelperspektive geschaut.
Eine schöne Aussicht, wie das alles dalag, gewellt, gefleckt, bunt und einladend. Die Grenzanlagen waren zu erkennen, aber von oben wirkten sie wie aus Draht und Zahnstochern gebastelt. Hier wie dort fuhren winzige Traktoren fleißig durch die Felder, die kleinen, spitzigen Kirchtürme zeigten stramm in Richtung Gott, und die Weingärten sahen aus wie Verzierungen, gekräuselte Samtbänder zwischen den glatten Vierecken. Die Ortschaften dazwischen wie hingeschüttet, ausfransend. Die Bausünden der Nachkriegszeit spielten von oben gesehen kaum eine Rolle, nur ein bisschen Grellorange oder Himmelblau blitzte in manchen Zwischenräumen auf. Aber dass es ungeheuer dicht war im Zentrum von Dunkelblum, das konnte man von oben gut erkennen. Wie fester gepackt, geschnürt, zusammengedrückt, wie am tiefsten Punkt einer Kiste, wo alles von oben doppelt und dreifach lastet. In Dunkelblum lastete es von unten. Aber das Dichte kann ja auch schön sein, warm und hochenergetisch. Früher hat man einfach nicht so viel Platz gebraucht.
In dem nahezu Brueghelschen Panorama spielen weder die Menschen noch die Häuser, noch die Straßen, die Strommaste oder Leuchtreklamen eine Rolle. Sie kommen schlichtweg nicht vor. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein, und gäbe es nicht hier und da Hinweise auf historische Figuren wie Genscher und käme nicht hier und da eine Tankstelle für die Autos diverser Figuren vor, man könnte sich Dunkelblum auch im Mittelalter vorstellen, samt Schloss und Gräfin und Bauern und Weinherstellungsverfahren, samt Aufständen, Enteignungen und Bestrafungen, Weinfesten und kalten Winternächten.
Auf den steinernen Löwenkopf, der nach einem Gewitter auf dem Malnitz-Hof aus dem Boden gewaschen, später als römisches Kunstwerk erkannt und am Brunnen neben der Pestsäule angebracht wurde. Da, lange zurück, gibt es eine reiche und stolze Geschichte von Dunkelblum. Aber dann, hoppala, ist die Geschichte irgendwie gestolpert und hat sich nur mit einem beherzten Sprung aufrechthalten können.
In der Tat erscheint einem Kosmologen die Geschichte der Erde anders als einem Soziologen, oder Psychologen. Wer von den Fragen und Theorien der Astrophysik zu wenig versteht, mag wenig mit dem Massebegriff anfangen, der die Lebensphasen eines Sterns und Sonnensystems bestimmen. Genauso wenig sagt es einem der Psychoanalyse Unkundigen, wenn er von verschobenen Objektbesetzungen der libidinösen Energien hört. Der Ort der Beschreibung legt das Beschriebene fest. Und hier genau legt Menasse sich nicht fest. Sie lässt alle Stimmen erklingen. Sie hört zu, zeichnet auf. Das Hintereinander bricht sich auf, indem sie Zeitebenen wechselt, das eine nicht auf das andere folgt, sondern horizontal wie vertikal sich gegeneinander verschiebt, so lange, bis man manchmal nicht mehr weiß, ob man sich noch in der Nachkriegszeit oder bereits in den Sechziger Jahren, oder gar 1989 befindet. Die Nichtentschiedenheit erborgt jedoch keine Objektivität. Sie erzeugt lediglich Beliebigkeit, wie die Autorin selbst feststellt.
Was sich an diesem Dienstag im August 1989 ab dem Zwölf-Uhr-Läuten im Hotel Tüffer abspielte, wird in seiner Gänze nie mehr zu rekonstruieren sein. Die Aussage ist banal, denn sie gilt für alle Ereignisse, an denen viele Menschen mit verschiedenen Wünschen, Absichten und Gefühlen beteiligt waren. Dem Gedächtnis Einzelner ist nur in begrenztem Ausmaß zu trauen, die meisten erinnern sich lediglich an das, was ihnen selbst in den Kram passt, ihre eigene Rolle in ein besseres Licht rückt oder ihre Gefühle schont.
Wenn aber dem Gedächtnis der einzelnen nicht getraut werden kann, wieso lässt man sie dann zur Sprache kommen? Wieso sollte ich den Erzählungen von Reschen Glauben schenken, wieso die Ereignisse rundum Horka hinnehmen, den Gesprächen folgen, das Schloss, die Gräfin, die Gruft Dunkelblums für bare Münze nehmen, die Konflikte, den Schmerz, wenn doch alle, die reden und denken und sich erinnern, das Blaue vom Himmel lügen. Die literarische Konstruktion fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen, sobald irgendeine Form von Beliebigkeit ins Geflecht der Erzählung hineingelassen wird. Ein deus ex machina funktioniert als Witz, als Spektakel auf der Bühne, als eine Art Kniff und Dreh in einer Revue, nicht jedoch in einem Roman. Dieser benötigt irgendeinen verlässlichen Standpunkt, eine Perspektive, einen Beobachter, der sich und andere beschreibt und im Beschreiben eine Welt offenbart, die ohne seine Beschreibung unzugänglich bliebe. „Dunkelblum“ erscheint wie ein Detektivroman ohne Detektiv und ohne Fall, aber vor allem ohne Vertrauen in die beschriebenen Personen.
Und auch bei uns gibt’s welche, die wollen dauernd ein Museum machen und sich erinnern, gedenken, was weiß denn ich. Ich hab da ja prinzipiell gar nichts dagegen. Aber sich erinnern, das können eigentlich nur die, die dabei gewesen sind!
Die Figuren sprechen sich gegenseitig das Vertrauen ab, die Geschichte getreu wiederzugeben. Die einen wie die anderen diskutieren ins Blaue hinein und tappen doch alle im Dunklen. Es gab Opfer. Juden wurden vertrieben. Ungarische Zwangsarbeiter erschossen. Zigeuner gehängt. Menschen enteignet, verstoßen, von Panzern überrollt. Es wurde geschlagen, betrogen, gelogen. Ein Femizid fand statt, Vergewaltigungen wurden begangen, Verstümmelungen, Brandstiftungen, Vergiftungen, wohin das Auge blickt. Nur wer sagt am Ende die Wahrheit?
Rund um Dunkelblum übersteigt die Anzahl der Geheimnisse seit jeher die der aufgeklärten Fälle um ein Vielfaches. Es ist, als ob die Landschaft, die hier erst noch wie eine saftiggrün bestickte Samtborte aufgeschoppt und gekräuselt wurde, bevor sie abstürzt ins Flache, Gelbe und Endlose, sich grundsätzlich verwahrt gegen das Durchschautwerden.
„Dunkelblum“ scheitert als Episodenroman dort, wo John Dos Passons „Manhattan Transfer“ gelingt. Dos Passos verknüpft viele inhaltlich verbundenen Geschichten, die jedoch stets für sich, und auch allein bestehen und interessieren können. Jeder Absatz, jede Episode wirft ein anderes Licht auf New York, auf eine Stadt in Bewegung. Der Erzähler nimmt sich zugunsten der beschriebenen Personen aus der Rechnung. Er vertieft sich in Figuren, die er mag. Er hat sie nicht ohne Grund für seinen Roman ausgewählt, und so wird kein Misstrauen in die Beschreibung gesät. Man glaubt, ohne zu glauben, da die Frage sich gar nicht stellt. Die Komposition lebt von allein, ohne Anspruch auf Objektivität und Totalität.
Die braune Serge roch nach Mottenkugeln, als Ellen sie zusammenfaltete. Sie bückte sich, um sie in den Koffer zu legen. Als Ellen mit der Hand die Falten glättete, raschelte die darunterliegende Schicht Seidenpapier. Vor dem Fenster hing das erste blaue Morgenlicht, und die elektrische Birne wurde rot wie ein schlafloses Auge. Plötzlich richtete sich Ellen auf, ließ die Arme herabhängen, eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen. »Es ist einfach zu gemein«, sagte sie laut. Sie breitete ein Handtuch über die Kleider und häufte Bürsten, einen Handspiegel, Pantoffeln, Hemden und Puderdosen in wirrem Durcheinander obendrauf. Dann knallte sie den Kofferdeckel zu, sperrte ab und legte den Schlüssel in ihr flaches Krokodilledertäschchen.
John Dos Passos aus: “Manhattan Transfer”
Ohne die Figur „Ellen“ und ihre Situation zu kennen, akzeptiert man jeden Satz in dieser Passage, fühlt man mit, während sie packt, gegen das rote Licht der Glühbirne blickt und verzweifelt, sich missverstanden und falsch behandelt fühlt. Eva Menasse mag schlichtweg die Menschen aus Dunkelblum nicht. Sie mag nicht deren Meinungen, noch deren Art zu leben, noch die Verlogenheiten, die Ängste, die Grobheiten und die Verbrechen. Sie lässt kein gutes Haar an ihnen. Das Zögern, Hadern, die Brutalität, sie schimmert überall durch, die Gehässigkeit, die Kleinlichkeit, der Hass gegen andere, das Andere, gegen die »Drüberen« [Ungarn], überall wird sie empfunden, und so resümiert Menasse, ganz anthropologisch und defätistisch:
Vielleicht: [ausgegraben auf der Rotensteinwiese hat man] den Homo dunkelblumiensis, wie Forschungen seither ergeben haben, ein erstaunliches Lebewesen, sozial, musisch begabt, konnte auf den Händen laufen und mit seinem blondgelockten Schwanz wedeln, lebte vegetarisch in friedlichen matriarchalen Horden. Bis dahin gänzlich unbekannt und zweifellos einzigartig in der Geschichte der Menschheit. Wegen seiner ungeeigneten Merkmale beim ersten Hauch einer Eiszeit oder beim ersten Ansturm der keulenschwingenden Normalo-Brutalos ausgestorben. Seither ist auch hier der Robustus dominant. Nur manchmal, ganz selten, durch unwahrscheinliche genetische Zufälle, mendelt sich so ein zarter, zauberhafter Dunkelblumiensis hindurch, ferner Abkömmling der singenden und auf den Händen tanzenden Schönheiten von damals.
Eva Menasse aus: “Dunkelblum”
Auf über fünfhundert Seiten hadert der Roman mit einem fiktiven Dorf an der österreichisch-ungarischen Grenze. Am Ende beschleicht einem das Gefühl, dass die Moral der Geschichte lautet, hätte es doch „Dunkelblum“ und auch Dunkelblum nie gegeben.
Also ich fand es ja großartig. Ich liebe aber auch die spezifisch österreichische Art des Erzählens von Menasse.
Ich mag die österreichische Art des Erzählens auch sehr, und es gibt an diesem Buch sehr viel zu mögen. Nur nach etwa 2/3 hat sich einfach sehr wenig sprachlich von dem eingelöst, was sich m.E. angekündigt hat. bspw. hätte ich das Interview mit dem Bürgermeister gerne gelesen, näher beschrieben bekommen. Im ersten Drittel gab es sehr schöne Passagen. Da stimme ich völlig überein.