
In der Wahl der Erzählposition steckt der Schlüssel zu einem jeden geschriebenen Werk. Es gibt derer nicht sehr viele. Da wäre der allwissende Erzähler, der von weit entfernt auf die Handlung herabsieht, die Figuren durchschaut und sie entlarvt. Da wäre das personale Erzählen, das sich von außen in die Perspektive einer Figur hineinfühlt, ohne diese Figur jedoch entblößen zu können. Das Erzählen bleibt auf Distanz. Da wäre auch das Ich-Erzählen, in welcher ein Text für ein Ich gesprochen, geschrieben wird. Diese Ich-Erzählung kennt zumeist keine Distanz. Sie steht in der Fülle der Eindrücke, aber in einer unbekannten Welt, während das personale oder allwissende Erzählen das Ich nicht kennt, aber die Welt. Maxim Billers neuester Roman „Der falsche Gruß“ ist aus einer schizophrenen Ich-Perspektive geschrieben. Er will die Welt und das Ich zugleich erkennen und in Szene setzen und scheitert deshalb, bereits erzähltechnisch, an beidem.
Hauptfigur ist Erck Dessauer, der in Berlin lebt, desorientiert nach Ruhm strebt, von Neidgefühlen und Schuldgefühlen geplagt sein Glück in der Berliner Republik sucht, die noch tief und fest im Historikerstreit steckt, ohne es zu wissen. Das Problem mit Erck Dessauer ist, dass sein eigener Schöpfer ihn lächerlich findet, kein gutes Haar an ihn lässt und auf beinahe zweihundert Seiten alles auffährt, um ihn in der Öffentlichkeit zur Persona non grata zu stempeln. Das Problem von „Der falsche Gruß“ ist, dass der Roman aus der Ich-Perspektive des ungeliebten Findelkindes geschrieben ist. Der Roman beginnt, wie er endet.
Es war eine Mischung aus Hitlergruß und dem verrutschten Armwedeln eines Betrunkenen, aber vielleicht war es auch einfach nur mein ungeschickter Versuch, den französischen Quenelle nachzumachen, das weiß ich nicht mehr genau. Jedenfalls stand ich eines Nachts vor fünf Jahren im Trois Minutes in der Torstraße vor dem ewigen Unruhestifter und Menschenfeind Hans Ulrich Barsilay und machte das erste Mal seit meiner Kindheit wieder meine absurde Nazigymnastik.
Maxim Biller aus: “Der falsche Gruß”
Die Idee des Romanes ist die Kehrseite der Medaille zu „Unter Menschen“ von Juli Zeh zu bilden. Statt dem netten ostdeutschen Nazi von nebenan, der Wölfe aus Holz schnitzt, ein menschliches Antlitz zu verleihen, wird der mittelmäßige ostdeutsche Student aus Leipzig, der einfach dazugehören will, als Hinterwäldler entlarvt. Wo Zeh also für manche den Bogen überspannt, schüttet Biller das Kind gleich mit dem Badewasser aus. Literarisch jedoch fällt Billers Buch in sich zusammen. Zeh lässt zwar ihre Protagonistin Dora nach Brandenburg ziehen, um das Fürchten zu lernen, sie wird aber nicht von der Autorin vorgeführt oder instrumentalisiert. Sie leidet, erlebt, fühlt mit. Sie schaut mit Dora gemeinsam in die Sterne, und über den Gartenzaun zu den Horst-Wessel-Lied singenden Trinkern. Erck Dessauer jedoch wird von einer peinlichen Situation in die nächste gepeitscht, darf mit jedem Satz unter Beweis stellen, wie gescheitert, kurzsichtig, libidinös verstrickt und unvollkommen er ist.
Bacon, Rührei, Toast mit Butter, dazu Earl-Grey-Tee mit warmer Milch – das alles war schon mal sehr gut für den Anfang, obwohl mir die sechzehn Euro, die ich dafür ohne Trinkgeld bezahlen würde, so ähnlich verrückt und verboten vorkamen wie früher meine heimliche Nazigymnastik oder mein regelmäßiges lustloses Onanieren, wenn endlich alle in der Gustav-Adolf-Straße schlafen gegangen waren und ich versuchte, mich wie ein richtiger Teenager zu verhalten. Eine ziemlich drastische Art, die Dinge miteinander zu vergleichen, ich weiß, aber ich habe es an diesem aufregenden Morgen genauso empfunden.
Der offensichtliche Tabubruch langt nicht hin, weil der Ich-Erzähler keine plausible Haltung vertritt. Er wird geredet, lässt sich reden. Der Autor redet durch die Maske, um die Maske lächerlich werden zu lassen, aber um sie als Maske aufrechterhalten zu können, betont er die Selbstreflexivität, die nicht nur den Lesefluss stört, die den Lesefluss sogar gar nicht aufkommen lässt. Der Ich-Erzähler kommentiert seine eigene Erzählung als eine Rechtfertigungstortur, die er sich offenkundig nicht selbst auferlegt hat. Die Unschuld des Berichtens kommt gar nicht erst auf. Ihm werden Worte in den Mund gelegt. „Das alles war schon einmal sehr gut für den Anfang“ provoziert sofort die Frage: „war es das wirklich?“ und die Antwort lautet selbstredend nicht wirklich, worauf alles in einen Topf geschmissen wird, Geld, Nazideutschland und natürlich Sexualität. Die Unsicherheit, die er an den Tag legt, zieht sich durch den ganzen Text. Fast nichts hält seinem Blick stand. Alles wird relativiert, zurückgenommen, gesagt, korrigiert, und wieder relativiert. Erck Dessauer, mit anderen Worten, taugt nicht als Ich-Erzähler.
Er [Hans-Ulrich Barsilay] sah natürlich überhaupt nicht aus wie Trotzki, das habe ich vorhin nur so hingeschrieben. Dafür war er viel zu groß und viel zu schlank – fast so, als hungere er sich seit Jahren die Kilos, die man in seinem Alter automatisch bekommt, mit Gewalt herunter –, und er trug auch nicht diesen lächerlichen, altmodischen Spitzbart wie Stalins ewiger Rivale. Er hatte eher etwas von einem englischen Adligen, und er hätte – mit ein wenig Fantasie – genauso ein gut gealterter Serienschauspieler sein können.
Erck Dessauer ist eine Karikatur von Erzähler. Er schreibt etwas hin, um es sofort zurückzuziehen. Er behauptet nur etwas, um es gleich abzumildern. Sieht sein großer Gegenspieler Hans-Ulrich Barsilay anfangs noch aus wie Trotzki, wird er schnell ein englischer Adliger, oder ein gut gealterter Serienschauspieler, viel zu groß und schlank, um an Trotzki zu erinnern. Am Ende hat man selbstredend gar keine Vorstellung mehr von diesem Menschen, wie im ganzen Roman eigenartigerweise die Figuren reine Silhouetten und Schattenrisse ihrer selbst bleiben. Hat Barsilay nun eine Brille, Haare, einen Bart oder nicht? Eine Beschreibung misslingt, wenn sie keinen Fokus, keinen Zug, kein Zentrum und vor allem keine Eindeutigkeit besitzt. Die Unsicherheit Dessauers trifft die Erzählung deshalb ins Mark, weil sie als Erzählung nicht abhebt. Sie wirkt unglaubwürdig.
Ich guckte den Möwen und Raben zu, die stumm die vorbeifahrenden Fähren umkreisten, ich träumte davon, einer dieser großen, schmutzigen Großstadtvögel zu sein – zwei Flügel, kaum Gehirn und bald wieder tot –, und als es endlich dunkel wurde und dieser leichte, viel zu warme, schweflige Berliner Dezemberregen einsetzte, machte ich mich auf den Weg nach Hause, zu Fuß, über den Hackeschen Markt und die Gormannstraße hinauf zum Teutoburger Platz, wo ich seit meinem Umzug aus Leipzig in einer viel zu großen Zweizimmerwohnung mit Dusche in der Küche und Kohleofen wohnte.
In einem Moment strebt Dessauer nach großen Thesen, greift nach Ruhm, ist eifersüchtig und sehnt sich nach Liebe. Im nächsten Moment möchte er „ein schmutziger Großstadtvogel“ mit „kaum Gehirn und bald wieder tot“ sein. Nach ein paar Seiten überkommt einen das Gefühl, Erck Dessauer ist ein schlechter Schauspieler, der auf Kommando durch Berlin stapft und sich nach Skript politisch daneben benehmen soll. Er lernt die Sprüche und Sätze auswendig, mischt etwas Melodramatik hinein und hofft auf eine günstige Gelegenheit, um sich redlich bemüht in Szene zu setzen. Vor allem jedoch käme die Figur, die wortwörtlich beschrieben wird, wohl kaum auf die Idee, über sich selbst zu schreiben, von sich selbst zu berichten. Unsichtbar, mit sich zerstritten, traurig verbringt er die Tage in der Großstadt, hoffnungs- und wortlos. Die Marionette wird nicht lebendig. Der Holzschneit (hier die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte) fängt nicht wie in Pinocchio zu sprechen an. Es gibt auch keinen Freund wie Gepetto. Im Grunde bleibt alles kalt, leblos und fade.
Ich dachte es immer wieder, in immer neuen, halbwegs klaren, zusammenhängenden Worten und Sätzen, aber es half mir trotzdem nicht, mich besser zu fühlen, und als ich mich endlich ausgeweint hatte, stand ich auf – immer noch steif, verzweifelt und verfroren –, ich legte mir die kratzige tschechische Wolldecke um die Schultern, ich stellte mich wie ein alter, einsamer Mann ans Schlafzimmerfenster und sah raus, in der Hoffnung, draußen etwas Interessantes zu sehen, um so vielleicht auf andere Gedanken zu kommen.
Die Antiliterarizität beginnt dort, wo Unaufrichtigkeit zur Methode erhoben wird. Im Namen von jemandem zu sprechen, den man ablehnt, führt nur zur Verkennung und Denunziantentum, einer Art literarischen Lästerns. Keine Entscheidung, keine Handlung, kein Vorhaben von Erck darf überzeugen. Alles wird mit Schimpf und Schande übergossen. Das erzähltechnische Problem bleibt. Jean-Paul Sartre schreibt in „Das Sein und das Nichts“ im Kapitel über die Unaufrichtigkeit:
„Mit der Unaufrichtigkeit erscheint eine Wahrheit, eine Denkmethode, ein Seinstypus der Gegenstände; und diese Unaufrichtigkeitswelt, mit der das Subjekt sich plötzlich umgibt, hat das ontologische Merkmal, dass in ihr das Sein das ist, was es nicht ist, und nicht das ist, was es ist. Infolgedessen erscheint ein eigentümlicher Evidenztypus: die nicht überzeugende Evidenz. Die Unaufrichtigkeit erfasst Evidenzen, aber sie findet sich von Anfang an damit ab, von diesen Evidenzen nicht erfüllt, nicht überzeugt und in Aufrichtigkeit verwandelt zu werden: sie macht sich demütig und bescheiden […]“
Jean-Paul Sartre aus: “Das Sein und das Nichts”, Kapitel III
Sartre beschreibt exakt das schillernde, demütige, sich Evidenz und Plausibilität einredende, und doch immer wieder sich relativierende Erzählen Billers. Seine Erzählinstanz erzählt nicht. Der Autor versteckt sich hinter ihr, um nicht selbst aufzutreten. Eigenartig ist, dass Maxim Biller seinen Roman mit einem Zitat aus Gustave Flauberts „Die Erziehung des Herzens beginnt“:
„Er beneidete die Klavierspieler um ihre Begabung, die Soldaten um ihre Narben.“
Gustave Flaubert aus: “Die Erziehung des Herzens”
Flaubert jedoch besticht gerade durch eine sehr distanzierte Erzählweise. Sein akribisches Repetieren und Analysieren lassen Panoramen entstehen, reißen mit, geben Anlass zum Lachen und zum Kopfschütteln. Es besteht kein Zweifel, dass Flaubert aus seiner eigenen Anschauung schöpft, von seinen eigenen Reisen nach Nordafrika erzählt, von seiner Kindheit in der Normandie, von seinem gescheiterten Versuch, Jurist zu werden. Flaubert, der die Ich-Perspektive nie anfasst, schreibt nur in Briefen in dieser, beispielsweise über eben jenen genannten Roman an Maxime du Camp, 21.10.1851:
„Im übrigen gebe ich Dir all das Vorausgehende als ein Thema zum Nachdenken. Nur denke über mich als Ganzes nach. Trotz meinem Satz aus der Education Sentimentale: »In den intimsten Geständnissen liegt immer noch etwas, was man nicht sagt«, habe ich Dir alles gesagt, soweit ein Mensch sich selbst gegenüber ehrlich sein kann. Es scheint mir, dass ich es bin. Ich lege Dir mein Innerstes dar. Ich vertraue mich Dir an, ich werde das machen, was Du willst. Ich übergebe Dir mein Individuum, von dem ich genug habe. Als ich den Brief anfing, ahnte ich nicht, dass ich Dir all das sagen würde. Es ist mir in den Sinn gekommen, möge es auch gesagt sein. Unsere kommenden Unterhaltungen werden dadurch vielleicht vereinfacht werden.“
Gustave Flaubert aus: “Briefe” Hrsg. von Helmut Scheffel
Flaubert spricht, um sich mitzuteilen, um die Mitteilung weiterzutragen, das Gespräch weiterzuführen, es zu vereinfachen, es zu vertiefen. Er stellt sich bloß. Er zeigt sich. Biller hat das Motto wohl gewählt, um in die ganz entgegengesetzte Richtung zu gehen. Es ist ihm gelungen.
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