Kalenderwoche 32/33. Lesebericht.

Kalenderwoche 32/33. Lesebericht.

Die Kalenderwoche stand ganz im Zeichen verworrener Lektüren von etwas älteren philosophischen Texten wie Platons oder Jean-Jacques Rousseaus Schriften. Dazu las ich Erich Fromm, ging die aktuelle Bestseller-Liste durch und fand Erholung bei dem Roman von Ralf Rothmann Die Nacht unterm Schnee. Die Mühen aber, die mir Platon bereitet, weiß ich noch nicht richtig einzuordnen. Ich lese die Dialoge und alles dreht sich in meinem Kopf von den Syllogismen, Begründungen, vom Humor, Witz und Schalk, aber auch von dieser alles in Schwebe haltenden Rhetorik. Platon neben einer anstrengenden Arbeit zu lesen, verlangt mir momentan fast alles ab. Ich befürchte beinahe, ich werde wieder einmal die Lektüre von Politeia [Der Staat] abbrechen:

Ist nicht auch die Kunst, fragte ich, dazu da, das einem jeden Zuträgliche zu suchen und zu verschaffen? Allerdings, antwortete er. Ist nun auch jeder einzelnen Kunst etwas anderes außer ihr Liegendes zuträglich als dies, dass sie möglichst vollkommen sei? Und bedarf sie dessen noch, um möglichst vollendet zu sein, oder ist dazu jede sich selbst genug?

Platon aus: “Der Staat”

Momentan stecke ich im vierten Buch. Ich habe mich entschlossen, mir alle Zeit der Welt bei der Lektüre von Platon zu lassen. Andere Übersetzungen habe ich mir besorgt, aber die sind genauso verwirrend und weniger schön zu lesen als die Übersetzungen von Wiegand und Teuffel.

Gekauft:

Haruki Murakami: Tanz mit dem Schafsmann – das Buch habe ich im Hausflur gefunden, von den Nachbarn hingelegt zum Mitnehmen. Ich habe es einfach mal mitgenommen. Vor einem Jahr habe ich Erste Person Singular von ihm gelesen, mein erstes Murakami-Buch. Mich reißt das lapidare Erzählen nicht wirklich in seinen Bann. Ich denke, Murakami legt es auch nicht darauf an:

Hörte sich an wie im Krimi. Kaum war Gotanda im Spiel, wurde alles filmreif. Woran mochte das liegen? Als würde die Wirklichkeit sich Schritt für Schritt entziehen. Ich hatte das Gefühl, eine mir zugeteilte Rolle zu spielen. Vielleicht besaß Gotanda so etwas wie eine Aura. Ich sah ihn vor mir, mit Sonnenbrille und hochgeschlagenem Trenchcoat-Kragen an seinen Maserati gelehnt. Charmant. Wie in einem Werbespot für Gürtelreifen. Unwillig schüttelte ich den Kopf und widmete mich wieder meinen Jalousien. Schluss jetzt mit den Phantasien! Heute ist mein praktischer Tag.

Haruki Murakami aus: “Tanz mit dem Schafsmann”

Der Erzähler traut weder seinen eigenen Augen noch seinen eigenen Beweggründen. Er pendelt hin und her und lässt sich treiben. Möglicherweise zeichnet dieses Flottieren und Federleichte Murakamis Stil aus, als fände die Erzählung halb im Traum, halb in der Wirklichkeit statt, als würde im Grunde alles verschwiegen bleiben in einem undefinierbaren Dazwischen.

Jean-Jacques Rousseau: Träumereien eines einsam Schweifenden, Kulturkritische und politische Schriften Band I und II – aus der Lektüre von Ralf Rothmanns Die Nacht unterm Schnee erfolgte eine intensivere Beschäftigung mit Jean-Jacques Rousseau, vor allem aufgrund der Figur von Walter Urban, der das Städtische in seinem Namen trägt, aber im Grunde nur glücklich als Melker auf dem Land sein konnte. Die Diskrepanz zwischen Land- und Stadtleben wurde von Rothmann als Beziehungskrise zwischen Elisabeth und Walter illustriert und nachvollzogen. Im Zuge der Recherche für die Lesebesprechung fand ich viele schöne Stellen, beispielsweise:

Man bedenke nur, wie viele Vorstellungen wir dem Grabrauch der Sprache verdanken, wie sehr die Grammatik die Geistestätigkeit schult und erleichtert; und man denke an die unvorstellbaren Mühen, die unendliche Zeit, die die allererste Erfindung der Sprachen kosten musste. Fügt man diese Überlegungen mit dem vorangegangenen [dem anfänglichen Nomadendasein und der Vereinzeltheit] zusammen, wird man beurteilen können, dass Tausende von Jahrhunderten nötig waren, damit sich im menschlichen Geist allmählich jene Tätigkeiten herausbildeten, deren er fähig ist.

Jean-Jacques Rousseau aus: “Ursprung und Grundlagen der Ungleichheit”

Selten denke ich darüber nach, dass es einst keine Sprache in der Art, wie ich sie heute kenne, gegeben hat. Es scheint mir beinahe unvorstellbar. Lese ich aber Rousseaus Hymnen auf die Kunst der Sprache und die Schwierigkeiten, diese dem Chaos der gefährdeten Existenz abzutrotzen, erahne ich, welche Kulturleistung sich insgesamt dahinter verbirgt. Vielleicht ist es auch das „Tausende von Jahrhunderten“, das mich etwas nachdenklich zurücklässt.

Mariana Leky: Kummer aller Art – auf Anraten von Christianes habe ich mir Mariana Leky vorgenommen. Es ist kein wirklicher Roman, aber ein buntes Allerlei, das mich an vielen Stellen zu bezaubern versteht:

Ich sitze auf dem Boden und schrubbe mit einer alten Zahnbürste Heizkörperrippen sauber. Ulrich starrt auf die jetzt kahlen Wände. Man sieht noch die Schatten der Regale, der Bilder, die da gehangen haben, vereinzelte Dübel stecken noch in der Wand, und all das weist uns wenig subtil darauf hin, dass etwas, das jahrzehntelang da war, schnurstracks weg sein kann. »Am unvergesslichsten waren die Wände«, sagt Ulrich mit brüchiger Stimme, »das zähe Leben dieser Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den Nägeln, die geblieben waren.«

Mariana Leky aus: “Kummer aller Art”

Wer Rainer Maria Rilke zusammen mit dem Schrubben von Heizkörperrippen zitiert, dem schenke ich gerne mein Ohr. Auch denke ich, dass ich unbedingt einmal wieder Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge lesen möchte, und in der Tat ist das Zitat aus diesem Roman, wie die Recherche ergeben hat, der mehr hinterlassen hat, als ich damals während der Lektüre dachte. So richtig habe ich den Roman von Rilke nämlich nicht zu würdigen verstanden, wiewohl er mir diffus gefiel.

Spiegel Belletristik Bestseller-Liste (KW 33):

Im Folgenden die Liste selbst, reformattiert, und mit Links versehen, bei denen bereits ein Lesebericht vorliegt:

  1. Eine Frage der Chemie – Bonnie Garmus
  2. Violeta – Isabel Allende
  3. Kummer aller Art – Mariana Leky
  4. Ein Sommer in Niendorf – Heinz Strunk
  5. Was ich nie gesagt habe – Susanne Abel
  6. Stay away from Gretchen – Susanne Abel
  7. Man vergisst nicht, wie man schwimmt – Christian Huber
  8. Mutterherz –  Tess Gerritsen
  9. Affenhitze – Volker Klüpfel; Michael Kobr
  10. Die Toten von Fleat House – Lucinda Riley
  11. Lore. Die Spiele haben begonnen – Alexandra Bracken
  12. Der Markisenmann – Jan Weiler
  13. Milde Gaben – Donna Leon
  14. Susanna – Alex Capus
  15. Der Geschichtenbäcker- Carsten Sebastian Henn
  16. Der Papierpalast – Miranda Cowley Heller
  17. Lonely Heart – Mona Kasten
  18. So forsch, so furchtlos – Andrea Abreu
  19. Der Buchspazierer – Carsten Henn
  20. Die Nacht unterm Schnee – Ralf Rothmann

Mich interessiert neben Mariana Leky So forsch, so furchtlos von Andrea Abreu dieses Mal aus der Liste. Es beginnt nach ein paar Seiten sehr rasant:

Marineblau, rosa, gelb, knallgelb, feuergelb, spiegeleigelb, rot. So sahen die Häuser des Viertels aus, bunt wie das Brett beim Mensch ärgere Dich nicht. Bunt und halb angefangen, halb fertig, keins voll ausgebaut, es waren Häuser wie unfertige Monster. Fast alle hatten ungetünchte Stellen, wo man die Steine sah, Steine mit moosigen und feuchten Stellen. Fast alle von denen gebaut, die drin wohnten. Stein für Stein, Block für Block. Fast alle illegal.

Andrea Abreu aus: “So forsch, so furchtlos”

Dieser Absatz motiviert mich, das Buch zu lesen, vielleicht nächste Woche. Der Titel steht wohl im Zusammenhang mit der Frankfurter Buchmesse, auf der Spanien das diesjährige Gastland darstellt.

Gelesen und weitergelesen:

Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee – der Roman gehört zu meinen Lesehighlights dieses und all der letzten Jahre, insbesondere durch Abschnitte wie diesen:

Aber wie ich mich bei der erhellenden Lektüre Seite um Seite von mir selbst entferne, um mir, wenn es gutgeht und die Sprache hilft, am Ende näher zu sein als zuvor, so gerate ich bei dem Versuch, in den Mienen oder Seelen derer zu lesen, die das Böse für eine Kraft oder das Gewissen für eine Schwäche halten, regelmäßig tiefer in ein Unverständnis, in dem am Ende nichts mehr einen Namen hat, nicht einmal der Schmerz.

Ralf Rothmann aus: “Die Nacht unterm Schnee”

Ich habe versucht, meiner Begeisterung in meiner Besprechung Ausdruck zu verleihen. Ein Buch, das ich in jedem Fall noch einmal lesen werde (aber wie oft habe ich das schon gesagt, und wie selten getan).

Platon: Der Staat – herausgegeben von Erich Loewenthal. Die Übersetzung der Platonischen Dialoge von Wilhelm Sigismund Teuffel und Wilhelm Wiegand kosten mich mehr Mühe, als ich wahrhaben möchte. Ich weiß nicht, ob es an der altertümlichen Ausdrucksweise oder an den in sich so kniffligen, rhetorischen Momenten in Platons Denk- und Schreibweise liegt, aber auf jeder Seite bleibe ich hängen und frage mich, was ich da eigentlich gerade gelesen habe:

Eine Bewahrung, versetzte ich, ist, wie ich behaupte, die Tapferkeit.
Was für eine Bewahrung denn?
Die der vom Gesetze mittels der Erziehung eingepflanzten Ansicht über das Schreckliche, was es sei und von welcher Art. Die Bewahrung unter allen Umständen aber, von der ich sprach, ist, dass jene bewahrt wird, wenn man in Bekümmernissen ist und in sinnlichen Genüssen und in Begierden und in Ängsten und sie nicht verliert.
[…] Diese Kraft denn also und die durchgängige Bewahrung der richtigen und gesetzmäßigen Ansicht über das, was schrecklich ist und was nicht, bezeichne und betrachte ich als Tapferkeit, wofern nicht du etwas anderes meinst.

Platon aus: “Der Staat”

Ich wünschte, ich hätte die Zeit stundenlang für ein paar Wochen jeden Tag diesem Delphischen Orakel nachzuspüren. Zwischen Tür und Angel jedoch ergeben die Sätze von Platon manchmal keinen oder erst nach dem vierten Mal lesen für mich einen Sinn.

Jean-Jacques Rousseau: Von der Akademie zu Dijon im Jahre 1750 preisgekörnte Abhandlung über die von dieser Akademie aufgeworfenen Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe und Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen – ich bin sehr überrascht von Rousseau und lese und forsche in diesem seltsamen Werk gegen Jacques Derridas Empfehlung mit größtmöglicher Freude. Es ist beinahe lächerlich zu sagen, Rousseaus Texte unterschätzt zu haben, aber sie im Abstand nochmals zu lesen, ergeben ganz andere Ideen und Ansichten, als ich vermutet hätte. So schreibt er:

Ich kann mich nicht, wie viele andere, damit rechtfertigen, dass unsere Erziehung durchaus nicht von uns selbst abhängt und dass man uns nicht erst fragt, bevor man uns vergiftet: ich habe mich aus freien Stücken in das Studium gestürzt, und noch lieber habe ich es aufgegeben, als ich der Verwirrung gewahr wurde, die es in meiner Seele stiftete, ohne meinem Verstande zu nutzen. Ich will von einem trügerischen Geschäft nichts mehr wissen, bei dem man viel für die Weisheit zu tun glaubt und doch alles für die Eitelkeit tut.

Jean-Jacques Rousseau aus: “Bemerkungen zu einer Antwort”

Rousseau liebt die Wissenschaft und Philosophie und doch fürchtet er sie. Als nächstes lese ich die Träumereien eines einsam Schweifenden.

Ich würde mich sehr über Anmerkungen, Vorschläge, und weitere Lesehinweise freuen, denen ich nachgehen könnte. Vielen Dank und eine fröhliche sonnige Woche!

5 Antworten auf „Kalenderwoche 32/33. Lesebericht.“

  1. Es gibt Bücher, die wollen langsam gelesen werden, wo über jeden Satz nachgesonnen werden muss, die im Mund, im Kopf zergehen wie ein Bonbon. Das scheint mir nicht deine Art des Lesens zu sein (“So viele Bücher, so wenig Zeit”), dafür hast du ein unglaublich umfangreiches Lesepensum an komplexen Büchern.
    Danke für Rilke 😉, danke für die Verlinkung. Den Malte muss ich auch wieder mal probieren zu lesen, meist gebe ich auf, wenn er mir zu “gefühlig” wird, aber ich denke mir immer, dass das auch von mir abhängen könnte. Schön, dass du das Buch von Leky scheinbar mochtest. 👍
    Morgenkaffeegrüße gen Hauptstadt ⛅🌳☕🍪🌼👍

  2. Ich lese Leky gerade sehr gern. Sie hat eine sehr fröhliche Art an Wirklichkeit heranzugehen, und sehr gewitzt ist sie auch.

    Eigentlich habe ich von mir schon gedacht, dass ich gerne lesen würde, aber manchmal verstehe ich einfach die Sätze in Platons Staat nicht. Ich weiß nicht einmal, worauf er sich bezieht, und dann wird’s mühsam, aber irgendwie ist es auch sehr spannend. Ich werde das Wochenende fröhlich schmökern und auf Wortsuche gehen.

    Rilke empfand ich gar nicht so gefühlsduselig, aber ich mag’s auch pathetisch und rührselig, habe ich, glaube ich, von meiner Oma, die immer vor dem Fernseher Tränen vergoss. Ich fand das irgendwie schön, wie sie lächelte, gerührt war, weinte und nochmals weinte, lachte und weinte, und alles abschüttelte und dann etwas Leckeres pfeifend in der Küche stehend für uns kochte.

    Einen tollen Start ins Wochenende!! Und Danke für deinen Kommentar!

    1. Ha, wenn du Rilke magst, kennst du “Konzert ohne Dichter” von Klaus Modick. Ist jetzt schon ein paar Jahre alt, hat aber mein Rilke-Bild nachhaltig beeinflusst.
      Schönes Wochenende dir! 🌼🍷🍪👍

  3. Ich bin Bestsellerlisten gegenüber sehr skeptisch, bestehen sie doch zum größten Teil aus Titeln, die große Verlage pushen, unabhängig von literarischen Qualitäten.
    Von daher bin ich froh, dass Du auch »ältere« Titel rezensierst, die nicht mehr dem Druck der Marketing-Abteilungen der Verlage unterliegen. Mein Blog »altmodisch:lesen« habe ich daher in erster Linie dieser Literatur gewidmet.
    Grüsse und danke für Dein interessantes Blog.

    1. Danke für deinen Kommentar. Ich habe deinen Blog meinem Feed hinzugefügt. Mein Blog verfolgt ja das Ziel, die neuen Beststeller im Kontext anderer Bücher zu lesen und in ihnen möglicherweise, so es geht, ungeahntes Potential zu entfachen. Deshalb lese ich gerne Bestseller, um zu sehen, wohin die Reise geht. Aber als Vielleser in den Bestsellerlisten, was ich früher nie tat, verstehe ich ein gewisses Frustrationsgefühl, aber dieses Gefühl beschleicht einen auch, wenn man alleine Klassiker liest. Ich bin sehr gespannt auf deine Berichte und einen guten Start in die Woche wünsche ich. Viele Grüße!

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